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Der Zug endet hier – Münster Trilogie I

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13.01.2008
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Der Zug endet hier – Münster Trilogie I

„Nächster Halt … Aaaaaaamelsbüreeeen“ rauschte es aus dem Lautsprecher der Regionalbahn zwischen Dortmund und Münster. Es war einer dieser modernen Doppelstockzüge, die den Fahrgästen in Ermangelung geräumiger Gepäcknetze Einiges an logistischer Spontaneität abverlangen. So saß ich eingezwängt zwischen Fenster und einer Riesen-Reisetasche auf einem der Doppelsitze - obwohl sich der Zug seit zwei Bahnhöfen geleert hatte. Meine kleine isolierte Sitzposition hatte etwas angenehm Kokonartiges. Draußen glitten Regentropfen entlang der gebogenen Scheibe und drinnen war es ungewöhnlich kalt. Die Klimaanlage, die im Sommer ja meist ihren Dienst am Kunden versagte, war jetzt Ende Oktober endlich angelaufen. Ich war vertieft in meine Zeitung, die ziemlich genau Lesestoff für die Hin- und Rückfahrt lieferte.
Der spanische Wirtschaftsminister muss letztlich doch seinen Hut nehmen, weil er … ließ mich der Redakteur wissen. Wie oft müssen diverse Leute noch ihre Hüte nehmen, obwohl selbst jetzt bei Regen und Wind kein Mensch mehr einen Hut trägt. Höchstens Kappen oder Mützen, aber die trägt der Spanier auch nicht. ‚Den Platz räumen’ ist genauso abgedroschen, beschreibt den Sachverhalt aber wenigstens treffender. Das brachte mich zurück in den langsam anfahrenden Nahverkehrszug. Vor mir hatte die Gruppe westfälischer Jungväter auch ihren Platz geräumt. Eine Kegeltour oder eine ähnliche Reiseunternehmung musste sie aus dem tristen Amelsbürener Umland gelockt haben. Sie hatten seit Dortmund über den letzten Abend diskutiert. Nicht einmal die Kopfhörer meines mp3-Players konnten mich vor den banalen Dialogen der Vier abschotten.
„Michi hat gestern aber auch gut zugelangt!“
„Sicher, Marcus war mit dem wohl noch bis um halb fünf inner Hotelbar und hat die Schnalle angemacht.“
„Welche?“
„Die blonde mit dem riesigen Hintern? Neeee?!“
Das anschließende Echte-Männer-Lachen bildete einen eigenartigen Kontrast zum Rest des Zuges. Im Abteil waren nur noch Leute übrig, die schienen, als hätten sie die Unauffälligkeit gepachtet. Mittelalt, mittelblond, mittlere Statur, mittelmäßig gekleidet und auffällig unbeteiligt. Alle saßen nur da. Eine Tätigkeit, die mit zunehmendem Abstand zum Ruhrgebiet immer öfter beobachtet werden kann. Dort tranken Reisende Dosenbier, begannen vom Kronen-Pils befeuert, Gespräche über Bahn, Verspätungen und „den Herrn Mehdorn“. Im Münsterland aber pflegte man die feierabendliche Innenansicht. Diese bedrückend stille Atmosphäre hatte noch merklich an zugenommen seit die lustigen Kegelfreunde das Abteil vermutlich in Richtung ihrer Neubau-Doppelhaushälfte verlassen hatten.
„Nächster Haltschschsch … schschsch“ Das Rauschen im Lautsprecher hatte ebenfalls zugenommen, so als wolle es den stärker gewordenen Regen am Fenster nachahmen. Trotz dass ich die Strecke seit mehr als drei Jahren regelmäßig fahre, schaue ich immer noch jedes Mal in einem Anflug von Interesse auf, wenn der Zugführer den nächsten Bahnhof ansagt. Da es bis Münster noch eine gute halbe Stunde war, las ich sofort weiter in meiner Zeitung. Die Lektüre war zwar nicht die spannendste, die sich mir bietende Szene des Zugabteils war aber um Längen reizloser. Noch einmal knackte es im Lautsprecher, anstelle einer Durchsage knarrte es nur und fiepte eine kleine Weile. Auch ein Meilenstein der deutschen Wirtschaft „made in Wolfsburg“ hatte es dieses Mal nicht geschafft, dass ich meine Augen auf den Text gerichtet lies. Stattdessen starrte ich wieder auf den ovalen Lautsprecher an der Decke. Anschließend suchte ich die verlorene Zeile im Artikel. Wieder knackte es. Dieses Mal keine Aufmerksamkeit für die Geräusche, stattdessen: ‚Das VW-Werk produzierte bis zum Kriegsende nur Kübelwagen und Waffen…` Na toll! Was ist denn nu?
Trotz der Musik in meinen Kopfhörern, drang statt des Lautsprecherrauschen jetzt ein Sound durch, der an die Lasergewehre in den frühen Startrek-Folgen erinnerte – nur, dass es keine Salven waren, sondern der Zugführer hatte die Kanonen unserer Regionalbahnflotte auf Dauerfeuer gestellt. Ich hob erneut den Blick: Zu meiner Überraschung schien es keinen der übrigen Fahrgäste zu stören. Alle starrten wie zuvor in die völlige Dunkelheit des Münsteraner Umlands, das hinter den Scheiben vorbei flog. Völliges Desinteresse an der Umwelt – genauso hatten sie sich auch verhalten, als sich die vier lustigen Kegler kollektiv Zigaretten in unserem Nichtraucher-Zug angesteckt hatten. Keine Empörung, kein verachtendes Gezischel, nur Regungslosigkeit, die zu sagen schien: Nur kein Ärger am Feierabend.
Der Kack-Zug fährt wenigstens mal schnell. Haben wir denn Verspätung? Ein Blick auf die Uhr im Handydisplay. 22:17. Nö, wohl nicht. Auch um 22:18 und 22:19 ziepte der 70er-Jahre-Lasersound noch. Das Geräusch war als Grundton jedoch eigenartig passend in die Musik eingegangen, die mein mp3-Player lieferte. Stört die das nicht? Auch nach drei oder vier Minuten war noch keiner der anderen im Abteil aufgestanden, um sich zu beschweren. Nicht einmal bewegt hat sich einer!
Nach weiteren Minuten fiel mir in einer Pause zwischen zwei Musikstücken auf, dass die Magazine des Regionalbahnlasers offensichtlich verschossen waren. Es herrschte wieder absolute Stille, abgesehen von den Fahrgeräuschen des Zuges, der mittlerweile in den Münsteraner Bahnhof einfuhr. Diskman verpacken, Bierdose verpacken, ist ja Pfand `drauf, Portemonnaie in die Tasche. Gleich erst mal fernsehen. Was Sinnvolles krieg ich heute eh nicht mehr hin. Bepackt mit meinem üblichen Set aus Reisetasche und Rucksack stand ich mal wieder viel zu früh im Gang des Abteils. Der Zug begann erst jetzt zu bremsen und ruckte dabei so heftig, dass ich mich an den Rückenlehnen festhalten musste, um nicht der Länge nach samt Gepäck hinzuklatschen. Erstaunlicher war allerdings die Reaktion der anderen Fahrgäste: Insofern sie in Fahrtrichtung saßen, rutschten sie vom Sitz, sackten über der gegenüberliegenden Sitzreihe gebeugt zusammen und bewegten sich nie mehr. Die übrigen kippten entweder mit dem Kopf gegen das Fenster oder die Armlehnen und stießen dort schmerzhaft heftig an. Einer kippte weiter vorne im Abteil sogar in den Gang und schlug mit dem Schädel deutlich hörbar auf den Linoleumboden auf. Doch keiner machte dabei einen Laut – sei es vor Schreck oder Schmerz! Schockiert sah ich dem Mann ins Gesicht, der mir am nächsten saß. Krankhaft blass, fast wächsern und starr war sein Gesicht. Seine Augen waren halb geschlossen, doch zu sehen war nur das Weiß des Augapfels. Aus dem linken Ohr war ein kleines Rinnsal Blut geflossen, das schon getrocknet schien. Auch die ältere Frau schräg gegenüber hatte aus dem Ohr geblutet und lag jetzt schlaff und unnatürlich verdreht gegen die Scheibe gelehnt.
Der Lautsprecher knackte und der Zugführer verkündete in beinahe HiFi-Qualität: „Nächster Halt Münster. Bitte alle aussteigen. Der Zug endet hier“.

 

Hallo liebe Besucher,

wenn ihr auch Teil III meiner "Münster Trilogie" lesen wollt, findet ihr den unter der Rubrik "Spannung / Krimi". Gute Rezeption ...

Baalsky

 

Hallo Baalsky!

Also, wenn du hier nicht nur Texte parkst, sondern dich ein wenig beteiligst, also auch Kommentare schreibst, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass zu deinen Texten Kritik eintrudelt.

"Spontaneität" => Ein e zuviel.

"lies mich der Redakteur wissen." => ließ

"riesen Hintern" => Riesenhintern oder riesigen Hintern

"die sich mir bietende Szene des Zugabteils war aber um Längen reizloser." => Komischerweise mutest diese Szene aber den Lesern zu. Warum denkst du, der Leser könnte sich durch eine langweilige Beschreibung von Zuginsassen angesprochen fühlen?

"sondern der Zugführer hatte die Kanonen unserer Regionalbahnflotte auf Dauerfeuer gestellt." => Was für Kanonen? Verstehe ich nicht.

"Stört die das nicht?" => Solche Rückfragen lassen immer darauf schließen, dass der Protagonist schlicht einen an der Waffel hat, was allerdings selten seltsam ist (nur andauernd Thema von Kurzgeschichten, daher nicht gerade interessant).

"Der Zug endet hier"." => Ebenso wie die Geschichte (übrigens: Zeichensetzung überprüfen). Der Leser fragt sich jetzt: Häh? Was ist passiert, ist etwas passiert, oder ist der Protagonist tatsächlich nur verrückt?
Ich erwarte von einer Geschichte (auch einer seltsamen), dass sie mir Antworten bietet, etwas erzählt, und nicht nur Fragen stellt, daher hat mir dieser Text nicht gefallen, sorry.

Grüße
Chris

 
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Servus Chris,

nee, hier wird nicht nur geparkt, aber da ich noch ein real-life-leben führe, kann ich leider leider nicht immer gleich viel Zeit investieren. Aber danke für die so schmeichelhafte Aufforderung mehr zu schreiben.

Meine Spontan(e)ität erlaubte es mir allerdings (noch mal) in den Duden zu schauen. Ist beides richtig.

Ansonsten danke ich für deine Korrekturen und deine Anmerkungen. Und nach meiner Überarbeitung geh ich gleich auf die Suche nach deinen Texten.

Man liest sich
Marc

 

Nun, dank dir für deinen Kommentar.

Wenn ich dich richtig verstehe, wünschst du dir eine andere Geschichte, mit anderem Ausgang und eigentlich auch anderer Erzählperspektive ... verbleiben wir doch so: Ich setz' mich hin und arbeite dran ;-)

Bis dahin ...

 

Hallo Baalsky,

ich frage mich ein bisschen, wo hier die Erzählabsicht liegt. Andererseits ist es sehr interessant, wie du die Realität nur um kleine Nuancen verzerrst, um einen Todeszug aus deiner Bahn zu machen. Dass dieser ausgerechnet in einer der lebenswertesten Städte der Welt endet, ist sicher ironische Absicht, denn die Reisenden beschreibt dein Erzähler ja schon zuvor fast wie tot. Andererseits verhält er sich nicht anders. Er beschwert sich, dass niemand sich beschwert, aber beschwert sich nicht. Er nimmt Geräusche wahr, die ihn beunruhigen, aber offenbar nicht stark genug, um daraus etwas abzuleiten, weder eine Ahnung, noch eine Handlung. Vielleicht meinst du es als Allegorie auf ein Leben, in dem wir oft die Zeichen für Katastrophen nicht sehen, andererseits haben wir gerade im letzten Jahr bei der allgemeinen Klimadiskussion das Gegenteil erlebt. Ganz normale Schwankungen wurden schon als Zeichen der unausweichlichen Katastrophe gesehen und interpretiert.
Ich fühle mich immer ein bisschen unwohl mit einem Erzähler, der sich ausnehmend lethargisch die Lethargie der Mitmenschen beklagt, andererseits kann dieser Effekt der Anmaßung, der daraus entsteht ja durchaus von dir beabsichtigt gewesen sein.
Die Geschichte leidet für mich an der im Grunde konsequenten Erzählweise. Es plätschert alles etwas langweilig vor sich hin, sogar die Katastrophe. Das trifft gleichzeitig unsere Zeit, macht aber den Text auch leider etwas langweilig zu lesen.
Details:

Eine Tätigkeit, die mit zunehmendem Abstand zum Ruhrgebiet immer öfter beobachtet werden kann. Dort tranken Reisende Dosenbier,
wenn du die anderen allgemeinen Beobachtungen in die Vergangenheit setzt, dann bitte auch "beobachtet werden konnte".
so als wolle es den stärker gewordenen Regen am Fenster nachahmen.
Tempus: wollte
Trotz dass ich die Strecke seit mehr als drei Jahren regelmäßig fahre
Wäre "obwohl" nicht irgendwie richtiger als "Trotz dass"?
wenn der Zugführer den nächsten Bahnhof ansagt
Die Ansagen kommen vom Band, nicht vom Zugführer
der Zugführer verkündete in beinahe HiFi-Qualität
würde ich umdrehen: beinah in HiFi-Qualität

Lieben Gruß
sim

 

Vielen Dank für deine Lesung.

Zum Kleinkram: "trotz dass" ist tatsächlich kein Deutsch ;-) ändere ich dann mal.
Bei den Tempi stimme ich halb zu - die Hälfte wird denn auch geändert.

Höre ich denn da einen gewissen Münster-Patriotismus bei dir heraus? Aber im Ernst, dass der Zug dort endet ist einfach der Entstehung der Geschichte geschuldet. Ich habe lange in MS gewohnt.
Zum "langweiligen" Stil kann man stehen wie man will - ich habe ihn in diesem Fall gewählt, und bei einer Lesung in betont monotonem Leseton dafür Lob erhalten. Im Übrigen finde ich Thomas Manns Kilometersätze zuweilen auch höchst langweilig, dennoch große Literatur. Es bleibt eben "a matter of taste".

Falls du Zeit u. Lust hast, dann lade ich dich auch zu den anderen beiden Teilen der Trilogie ein. Viel Spaß beim Kritisieren.

Baalsky

 

Hallo Baalsky,
Mir gefällt die Atmosphäre deiner Geschichte recht gut. Das hat was. Was die Tempi anbetrifft, die wurden ja bereits bemängelt.

 

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