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Der Zuhörer
Die alte Dame stieg aus der U-Bahn, drehte sich in meine Richtung und winkte mir mit geröteten Wangen zu. Ich grüßte zurück und schaute ihr hinterher, bis sie an der Rolltreppe verschwand.
Letzten Freitag hielt sich die Frau zum ersten Mal vor meinem Glashäuschen auf. Sie starrte hinein, während ich gerade einen jungen Mann vor der Tür verabschiedete, und fragte: „Entschuldigung. Ist das jetzt ein An- und Verkauf? Führen Sie keine Zeitungen?“
„Nein, ich verkaufe nichts.“ Ich wollte ausholen, um von meinem Projekt zu erzählen, doch sie unterbrach mich. „Oh, gut. Dann gehe ich oben zum Kaufhof.“
Am nächsten Tag stand sie erneut vor dem Häuschen und studierte eines der kleinen Plakate, die ich an den Fenstern angebracht hatte. Sie zögerte einen Moment, bevor sie durch die geöffnete Tür trat.
„Guten Tag. Sie müssen entschuldigen. Ich dachte gestern, der Kiosk hätte wieder aufgemacht. Erzählen Sie mir bitte von Ihrer … Arbeit. Sind Sie Pastor oder Psychologe?“
„Keins von beiden.“
Mit zusammengekniffenen Augen schaute sich die alte Dame im Inneren um. Ich bot ihr einen Stuhl an, schloss die Tür und befestigte das Bitte nicht stören-Schild.
Eine Viertelstunde dauerte das Gespräch. 78 Jahre, ehemalige Bibliothekarin. Pension und Witwenrente reichen vorne und hinten nicht, notierte ich mir.
„Wenn ich nicht zustimme, bleibt alles unter uns, richtig?“
„Ja. Und die Seiten aus dem Notizbuch reiße ich gerne raus.“
„Lassen Sie, lassen Sie, falls ich wiederkomme. Ich wollte heute noch zum Friedhof. Darf ich denn wiederkommen?“
„Ich würde mich freuen.“
Nach den Gesprächen notierte ich mir immer Besonderheiten, die mir aufgefallen waren. Ein nervöses Augenzucken, das Knibbeln mit den Fingern, ein Hüsteln oder etwas anderes, das mehr als Worte zu sagen vermochte. Bei der alten Dame war es der Moment, als sie Friedhof sagte. Ich bildete mir ein, eine Art Unbehagen, eine Bürde erkannt zu haben, und war mir sicher, dass sie mir noch mehr erzählen würde.
Am nächsten Morgen stand die Dame hinter mir, als ich gerade die Rollläden hochzog.
„Hallo“, sagte sie und warf einen Blick über den Bahnhof. „Anonym würde auch gehen?“
Anonym?, dachte ich und sagte: „Ja.“
Sie trat ein und ich schloss die Tür.
Vornübergebeugt saß sie da am Tisch, die Handtasche auf dem Schoß, während ich das Schild anbrachte und Kaffee aufsetzte.
„Ich möchte Ihnen etwas erzählen.“ Sie prüfte den roten Lack auf ihren Nägeln, druckste, bevor sie sagte: „Wir waren dreißig Jahre verheiratet … Ein einziges Mal habe ich ihn betrogen. Seitdem trage ich es mit mir herum.“
Nach dem Gespräch hielt sie meine Hand. „Vielen Dank.“
Auf dem Weg zur Rolltreppe schnäuzte sie in ein Taschentuch und drehte sich nicht mehr um.
Die morgendliche Rushhour begann. Anzugträger stiegen aus, liefen zum Aufgang oder warteten auf ihren Anschluss. Smartphones, Aktentaschen; Schlips und Kragen.
Dazwischen beobachtete ich einen Mann in zerschlissener Kleidung, der die Mülleimer nach Brauchbarem durchforstete. Mit voller Plastiktüte schlich er auf mich zu.
„Nehmen Sie Pfand an?“
„Tut mir leid, das ist kein Kiosk mehr. Wenn Sie möchten, können Sie sich gerne drinnen im Warmen ein wenig ausruhen. Ich habe frischen Kaffee.“
Der Mann folgte mir, legte beim Hinsetzen die Tüte ab. Glas klimperte. Er schaute auf den Boden, fragte: „Wo ist eigentlich Ali geblieben?“
„Sie meinen den Vorbesitzer? Kann ich Ihnen nicht sagen. Der Kiosk stand schon lange leer.“
„Ach so.“
Während ich Kaffee eingoss, Zucker und Milch hinüberschob, wanderte sein Blick über die Glasregale. Dort, wo früher Zigaretten, Süßigkeiten oder Zeitungen lagen, hatte ich nicht mehr benötigte Alltagsgegenstände und Erinnerungsstücke positioniert: Spielzeug aus meiner Kindheit, eine TV-Fernbedienung, ein Bilderbuch, eine zerknüllte Zigarettenpackung.
„Sie sind aber kein Streetworker oder vom Amt? Mit denen habe ich keine guten Erfahrungen gemacht.“
„Nein. Ich möchte Ihnen einfach nur ein Ohr schenken.“
Er kratzte sich am weißen Bart und zeigte auf den kleinen Plüschhund, der auf dem Regal zwischen Bibel und Autoschlüssel stand. „Darf ich?“
Ich nickte und er nahm den Hund. Streichelte mit seiner großen, schwieligen Hand über das samtweiche Fell. „Ricky war auch ein Schäferhund“, seufzte er.
„Erzählen Sie mir mehr von Ricky, wenn Sie möchten.“
„Im Sommer ist er gestorben. Ihm geht es jetzt gut.“
Im Sommer, dachte ich. Ihm geht es gut.
Anschließend unterschrieb er die Einverständniserklärung für Text und Fotos. Das Schicksal von Werner P., 57, der seinen Job im Metallwerk verloren hat. Scheidung, Schulden, Alkohol. Seit vier Jahren machte er Platte.
Beim Verabschieden sagte ich noch: „Honorar kann ich leider nicht zahlen“, und schenkte ihm den Plüschhund. Er bedankte sich mehrmals, wünschte mir viel Erfolg für das Buch und fragte, wann es herauskäme.
„Oben, in der Buchhandlung, stehen im Schaufenster die Neuvorstellungen. Schauen Sie ab dem Frühjahr einfach ab und an mal vorbei.“
Ich packte Notizbuch und Kamera ein, schloss die Tür und schaute nochmal durch die Scheibe. Ging wieder hinein und steckte das Bilderbuch in die Tasche.
Am Gleis, zwischen all den Wartenden, war ich selbst Teil einer Geschichte, die noch aufzuschreiben wäre.
Drei Monate war der ehemalige Kiosk mehr Zufluchtsort als Arbeitsplatz für mich. Eine Woche lag noch vor mir. Ich hatte es mir einfacher vorgestellt.
„Es sind die Alleingelassenen, die sonst keinen haben, der ihnen zuhört“, sagte ich. „Deren Geschichten habe ich niedergeschrieben. Glückliche Leute habe ich nicht kennengelernt.“
Mein Nachwort.
Ich legte das Buch zur Seite, bedankte mich für den gedämpften Applaus der Umstehenden.
Die alte Dame stand als erste am Tisch, beugte sich vor. „Haben Sie vielen Dank für alles. Sie haben mit großem Mitgefühl erzählt. Und vielleicht hilft meine Geschichte ja anderen.“
Sie nahm ein Buch vom Stapel, schlug es auf und reichte es mir. „Diese andere anonyme Geschichte … schrecklich. Es tut mir so leid.“
Ich nickte vor mich hin, setzte den Füller an.
„Ach so, ja … Schreiben Sie bitte Für Amelie und Egon.“
Ich verstaute mein Exemplar, Brille und Füller; Mitarbeiter des Buchladens begannen, die Stühle wegzuräumen. Von hinten schritt ein Mann nach vorne, der eine Plüschfigur in der Hand hielt.
„Ich möchten Ihnen das wiedergeben.“
Er legte das Plüschtier auf den Tisch. „Ich muss schnell runter. Habe Ricky vor der Tür angebunden. Meinen neuen Ricky.“
Ich schaute ihm hinterher, nahm den Plüschhund und packte ihn in das Seitenfach der Tasche. Dorthin, wo das Bilderbuch steckte.
Worte: samtweich, Lack, Bilderbuch, Fernbedienung, Taschentuch (#104)