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Dexters Blues
Dexters Blues
für Jynx
Die Augen geschlossen, balancierte der Bär am Bühnenrand und improvisierte über den Rhythmus von Lullaby of Birdland. Dexter stand hinter seinem Vibraphon und bewunderte die Virtuosität, mit welcher der Bär das Stück interpretierte. Obwohl sie seit Monaten unterwegs waren, obwohl sie Abend für Abend gespielt hatten und er jedes Mal Zeuge dieses Wahnsinns geworden war, konnte er immer noch nicht glauben, was er sah, was er hörte. Der Bär war der verdammt beste Saxophonist, mit dem er je zusammen gespielt hatte, und das waren im Laufe der letzten sechzig Jahre nicht wenige gewesen. Das Publikum klatschte begeistert den Rhythmus mit und trieb den Bären zu immer wahnwitzigeren Tonfolgen. Nach einer wilden Kaskade von Viertel- und Achteltriolen öffnete der Bär die Augen, drehte sich zu seinen Mitspielern und gab ihnen mit einem Kopfnicken das vereinbarte Zeichen. Nach und nach stieg der Rest der Band wieder ein. Dexter befürchtete, das Tempo nicht lange halten zu können; die Arme hingen bleischwer herunter, nur mit Mühe konnte er die Klöppel über die Tasten tanzen lassen. Der Bär schien die Schmerzen seines Freundes zu spüren, vorzeitig schickte er einen letzten Seufzer des Saxophons auf die Reise durch den verrauchten Keller, verzichtete auf weitere Improvisationen. Ein Moment der Stille legte sich über die Bühne, die Band, die Zuhörer. Dann glaubte sich Dexter inmitten eines Sturms. Das Publikum tobte, drängte nach vorne, kreischte, johlte und verlangte mit rhythmischem Klatschen nach einer weiteren Zugabe. Mit einem Grinsen in seinem zotteligen Gesicht drehte der Bär sich zu Dexter und zählte an, wobei er mit der rechten Pratze auf das Saxophon schlug. Auf Drei fing Dexter an, über einen A-Dur-Akkord zu phrasieren, um schließlich in den treibenden Rhythmus von Seven comes Eleven zu fallen, dem traditionell letzten Stück ihres Sets. Bass, Oboe und Alt-Sax stiegen nach und nach ein und gemeinsam trieben sie dem Höhepunkt entgegen.
„Und was wirst du die nächsten Wochen unternehmen?“, fragte der Bär.
Dexter klappte den Deckel seines Koffers nach unten, ließ die Schnallen einrasten und betrachtete die Namen der Clubs und Hotels, die in mehreren Schichten aufgeklebt waren und nicht erahnen ließen, aus welchem Material der Koffer ursprünglich einmal hergestellt worden war. Sie waren allein in der Garderobe, der Bär und er. Die anderen hatten bereits ihre wenigen Habseligkeiten gepackt und warteten an der Theke. Ein letzter Drink, dann würden sie sich vorerst in alle Winde zerstreuen. In drei Monaten wollten sie sich wieder treffen, um eine CD einzuspielen. Bis dahin würde jeder seiner eigenen Wege gehen, mit anderen Bands jammen oder sich als Studiomusiker verdingen.
„Jeder dieser Aufkleber erzählt eine Geschichte, einen Teil meines Lebens“, sagte Dexter.
„Hier, Mintons Playhouse, New York. Mann, was waren das für verrückte Sessions. Wir haben gespielt bis zum Morgengrauen. Dizzy, Thelonius, Kenny Clarke und natürlich Charlie Parker. Der war der Verrückteste von allen. Eines Abends habe ich mit ihm um die Wette gesoffen. Hatte natürlich keine Chance gegen „The Bird“, aber ich habe mich wacker geschlagen. Oder hier, kaum mehr zu erkennen, Kansas City, das „Cherry Blossom“. Zwei Wochen, Abend für Abend im selben Club. Und dann verduftet unser Manager mit der gesamten Gage. Ich hatte ihm von Anfang an nicht über den Weg getraut. Einem Albino kann man nicht trauen, habe ich Rudy gesagt, und diesem schon gar nicht. Er kann einem nicht in die Augen sehen, dieser Albino. Aber Lester wusste ja immer alles besser. Sei nicht so misstrauisch, hat er gesagt, er ist ein Cousin meines Schwagers. Na ja, Lester war immer schon zu vertrauensselig. Kansas City, das muss in den frühen Vierzigern gewesen sein, zu der Zeit, als Minnie das erste Mal schwanger war. Keine gute Zeit, damals. Lester ist kurz darauf über den Atlantik und liegt jetzt irgendwo in der Normandie begraben. Von dem Albino haben wir nie wieder etwas gehört. Ich hoffe, der Kerl verrottet in der Hölle.“ Dexter seufzte. „So viele Städte, so viele Clubs, so viele Geschichten, aber ich glaube, ich habe sie dir alle schon erzählt.“
„Ich werde dennoch nicht müde, sie mir immer wieder zu anzuhören“, antwortete der Bär, der regungslos in der Ecke der Garderobe stand und das Saxophon wie ein Baby in seinen Händen hielt. Nachdem Dexter darauf nicht reagierte, schraubte der Bär das Mundstück von seinem Saxophon, blies es aus und legte es vorsichtig in den mit Samt ausgepolsterten Koffer. „Und welchen Aufkleber wirst du in den nächsten Wochen hinzufügen?“
„Tja“, sagte Dexter und ließ sich langsam auf seinen Stuhl nieder. „Ich glaube, meine nächste Reise führt mich an einen Ort, für den es keinen Aufkleber gibt.“
„Immer noch die Bronchien?“, fragte der Bär. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst endlich zu einem Fachmann gehen.“
„War ich, vor Wochen schon. In Detroit“, antwortete Dexter. „Es sind nicht nur die Bronchien, das Herz will auch nicht mehr so, wie es soll, kommt ständig aus dem Takt. Ich bekomme kaum noch Luft und die Pumpe klappert und rasselt wie der Motor eines Ford-T. Ein Oldtimer, das bin ich, ein verfluchter Oldtimer.“
„Das heißt?“, fragte der Bär und setzte sich ebenfalls.
„Das heißt, sie stecken mich in ein Sanatorium und schließen mich an eine Maschine an, die mir das Atmen erleichtern soll.“
„Sanatorium hört sich gut an“, sagte der Bär.
„Nein, das hört sich überhaupt nicht gut an“, sagte Dexter leise. „Dies wird meine letzte Reise werden. Das Sanatorium werde ich nur noch mit den Füßen voran verlassen.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte der Bär. „Niemand würde einen alten Knacker wie dich in ein Sanatorium stecken, ihn an eine vermutlich sauteure Maschine anschließen, wenn es keine Hoffnung mehr gäbe. Also hör auf, so einen Unsinn zu erzählen.“
„Der Arzt konnte mir nicht in die Augen schauen, als er mir von dem Sanatorium erzählt hat. Er hat mir von den tollen Maschinen und den noch tolleren Behandlungsmethoden vorgeschwärmt, er hat mir die Klinik in den schönsten Farben gemalt und die Schwestern angepriesen, als wäre er ein Zuhälter und ich ein potenzieller Freier. Aber er konnte mir nicht in die Augen schauen. Nicht ein einziges Mal.“
Langsam stand der Bär auf, zögerte, schien sich nicht entscheiden zu können, in welche Richtung er sich wenden soll, dann bückte er sich, nahm das Saxophon aus dem Koffer und betrachtete es von allen Seiten. „Wenn du wirklich der Meinung bist, dass dies deine letzte Reise wird, dann sag sie ab. Lass uns nach Kansas fahren oder nach New Orleans und jammen, bis die Sonne das letzte Mal versinkt. Scheiß auf das Sanatorium. Ein Musiker sollte seine letzte Note auf der Bühne spielen und nicht in einem Krankenhaus, in dem sie ihm nicht helfen können.“
„Was ist mit deinen Verpflichtungen für die nächsten Wochen?“
„Die sage ich ab. Mach dir keine Gedanken, ich bekomme das schon geregelt. Und jetzt lass uns mit den anderen auf den Beginn einer ungewöhnlichen Abschiedstournee anstoßen.“
Dexter stand auf, sie sahen sich an und ohne ein weiteres Wort zu sagen verließen sie die Garderobe, und als sie gingen, ließen sie ein Gespenst zurück, das Gespenst des Sterbens, das an einem Kleiderhaken hängen blieb wie ein alter, abgenutzter Mantel, den niemand mehr tragen will.