- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Die achtziger Jahre
Die Mutter steckte den Brief aus Äthiopien in den Umschlag und besah sich erneut die Kritzelei. Sie stellte ein schwarzhäutiges Kind dar, das bunte Gewänder trug. Die Flächen waren sorgfältig ausgemalt. Sie stellte sich ans Fenster, hielt das Bild gegen das Sonnenlicht. Doch da war nichts, allein das Bild und der Brief.
Dieser Brief hatte sie zum Weinen gebracht. Wie die dreizehn Briefe zuvor. Diese Dankbarkeit! Die echte Freude! Und was Babu nicht alles zu erzählen hatte. Es ginge ihm gut, denn mit ihrer Hilfe besuchte er eine Schule, läse und schriebe. Und so weiter. Auch seine Eltern freuten sich, dankten ihr, schlössen sie in die Gebete ein. Sie weinte abermals. Nur ein wenig. Dankbar und von ihrer Güte bewegt. Dann besah sie sich nochmals die Kritzelei. Aus Äthiopien, von so weit her. Einen Augenblick schloss sie die Augen, nahm dann das Bild, steckte es zu dem Brief in den Umschlag, hielt ihn einen Augenblick gegen die Brust, sah auf die dreizehn weiteren Briefe, nahm den ganzen Packen und ging ins Zimmer des Sohnes, der auf dem Bett hockte.
„Hier, ich habe wieder einen Brief von Babu bekommen.“ – Der Sohn schaute kurz auf, nickte, senkte den Kopf. „Weißt du, in Äthiopien stellen die Kinder ihr Spielzeug aus Müll her.“ – Er nickte. „Ach, das weißt du? Die Kinder wären froh, hätten sie auch nur eins deiner Spielzeuge, doch du bist zu faul, den Teppich zu saugen“, sagte sie und wusste, dass er nichts dafür konnte. Doch auch sie war unschuldig, hatte niemals eine Chance gehabt. „Oder deine Bücher! Gott, was wären die Kinder in Äthiopien froh über deine Bücher! Sie haben keine Bücher. Sie können nichts aus sich machen. Sie haben keine Chance.“ – Er schwieg, hatte den Kopf gehoben, blickte sie an. „Weißt du, in Äthiopien verhungern die Kinder. Sie haben ganz aufgeblähte Bäuche.“ – Er legte das Buch fort, stand auf, schob sich vorbei, nahm den Staubsauger aus dem Wandschrank und ging ins Wohnzimmer.
Der Sohn saugte. Sie sah ihm zu. Lange Zeit kniete er in der hintersten Ecke, gleich neben dem Kamin. „Ist gut“, sagte sie zum Sohn. Doch er hörte nicht. Also ging sie in die Küche. Gleich drei Uhr. „Jetzt hör auf!“, sagte sie ins Wohnzimmer hinein. Es röhrte weiter, schwoll an und schwoll wieder ab. Abermals ging sie hin, immer noch befand sich der Sohn neben dem Kamin, saugte ohne Aufsatz und schabte den Dreck fort. „Was machst du?“, fragte sie und trat an den Sohn heran, langsam. „Warum hörst du nicht auf?“ Der Staubsauger kam ihr zu laut vor. „Hallo?“, rief sie, berührte ihren Sohn an der Schulter, doch sofort zuckte er unter ihrer Hand weg.
„Dann saug halt weiter“, sagte sie und ging zurück in die Küche, verschob das Geschirr, legte die Hände auf den Küchentisch, bemüht, das Geräusch zu ignorieren. Zuerst war es tief, kletterte höher, um kurz darauf wieder zu fallen. Sie schloss die Augen, spürte das Vibrieren unter ihren Füssen. „Jetzt hör auf!“, rief sie, rannte ins Wohnzimmer: Ja, der Sohn saugte die Stelle neben dem Kamin. „Schluss!“, schrie sie, zog den Stecker. Das Geräusch verebbte langsam. Er blickte sie an, stand auf, presste den Stecker wieder in die Buchse. Da schlug sie ihm den Schlauch aus den Händen. Er grabschte danach, doch sie trat den Schlauch gegen den Kamin. Saugend klackte er gegen den Stein, rutschte dem Sohn wieder in die Hände.