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Die alten Herrscher
Pachys Kamm schwoll vor Aufregung karmesinrot an, als er die Bilder auf der Visio-Wand flimmern sah. Sein Blick war starr auf das spektakuläre Geschehen gerichtet.
„Sieh doch nur, wie wir die Grenzen des bisherigen Wissens durchbrechen“, sagte er voll der Ehrfurcht, an Juris gewandt. Dieser stieß ein gelangweiltes Knurren aus. Verärgert erhob sich Pachy vom Boden und schritt auf seine Frau zu. „Was ist bloß so interessant an diesem Gewürm? Was ist daran so interessant, dass du unseren Aufbruch zum Quell der Sterne ignorierst?“
Juris warf ihm einen flüchtigen Blick zu, ohne die Pflege des Vierbeiners zu vernachlässigen. Liebevoll kämmte sie sein Fell durch.
„Vielleicht wirst du es nie verstehen“, entgegnete sie sanft, „aber die Anmut dieser Geschöpfe verzaubert mich.“
Verächtlich packte er eines der Jungtiere am Nacken und ergötzte sich am erschrockenen Quieken des wehrlosen Wesens. Augenblicklich fixierte das Muttertier sein vermeintlich in Gefahr befindliches Junges und stieß ein fiependes Geräusch aus.
„Setz es sofort wieder ins Terrarium!“, herrschte ihn Juris an. Pachy kam diesem Befehl nach, indem er das Tier fallen ließ, woraufhin es im weichen Grasteppich sicher, aber vor Angst zitternd landete und sich sofort in der Höhle versteckte, die Juris mühsam bereitet hatte. Das Muttertier verschwand behelfs seiner kurzen Beinchen gleichsam im Unterschlupf und tröstete sein Kind.
Fassungslos ob der Gefühlskälte ihres Mannes klappte Juris das Terrarium zu, legte die Fellbürste neben die Futterschale und schnappte wütend nach dem langen Hals Pachys, der diese Geste Ernst nahm und sich zu entschuldigen trachtete. „Ich bitte dich, Liebes, sei mir nicht böse! Aber deine Zuneigung für diese merkwürdigen Wesen macht uns zum Gespött unserer Anverwandten und Freunde.“
Juris war außer sich vor ohnmächtiger Wut und spürte, wie ihr Kamm anschwoll. Sie brauchte frische Luft, um ihr Gemüt abzukühlen. „Wie kannst du nur so voll der Abscheu sein? Du … du-“
Sie fand keine Worte, die ihren Ekel ausreichend beschreiben konnten, und stürmte den Eingang hinaus.
„Wohin gehst du denn?“, rief ihr Pachy hinterher.
Die Antwort wusste sie selber nicht. „Irgendwo hin.“
Nachdenklich blieb der Mann zurück. Als er sich wieder gefasst hatte, sah er zum Terrarium. Das ältere der beiden Tiere lugte scheu aus der Höhle. Seine Knopfaugen reflektierten das künstliche Licht und blinzelten wie Edelsteine in der Dunkelheit seines Refugiums.
„Warum hängt ihr Herz an euch?“, fragte Pachy, sich dessen bewusst, keine Antwort zu erhalten. „Eure Zähne wachsen nicht nach wie bei uns, ihr seid klein und schwächlich, dumm wie die Feuerblumen in meinem Garten. Unnützes Getier seid ihr, nichts anderes.“
Er fühlte sich erschöpft und müde des Streitens ob solcher Kleinigkeiten, wie der Auswahl ihrer Haustiere. Pachy machte es sich auf dem Steinboden gemütlich und sah lieber zu, wie das gigantische, unbeseelte Raumschiff seinen Kurs fortsetzte, Millionen Meilen von jenen entfernt, die es viele Jahre lang gebaut hatten, nur, um es auf eine schier endlose Reise zu schicken; hinauf zu den Sternen, zum Ursprung des Lebens, wo es nach neuen Welten suchen sollte.
***
Die wärmenden Strahlen der Nachmittagssonne wurden vom nahenden Abend gierig aufgesogen. In spätestens zwei Stunden würde es kühl und somit unangenehm werden. Dennoch zog es Juris an die Gestade des Flusses. Ausladend und üppig gedieh die Vegetation. Unter den Dächern gigantischer Schachtelhalme wogten zartblättrige Farne im Takt des Windes. Allerlei buntes Getier wuselte hektisch auf dem feuchten Boden umher Auf der anderen Seite des Flusses ragten Ginkgobäume wie grüne Pfähle in den Himmel.
Gemächlich legte sich Juris in das Kiesbett, lauschte dem flüsternden Rauschen des Wassers und genoss die Wärme auf ihrer Haut. Erinnerungen keimten in ihr auf, an die Tage ihrer Jugend, inmitten unwirtlicher Savannen, wo sie sich ihre Nahrung und Unterkunft auf einem Gehöft verdient hatte. Baumhohe Kreaturen, deren Wurzeln zu ihren eigenen Vorfahren zurückreichten, mussten gepflegt und beschützt werden, ehe sie geschlachtet werden konnten. Sie erinnerte sich an die warnenden Worte des Besitzers, keines der Tiere in ihr Herz zu schließen, da sie unweigerlich getötet wurden.
Tatsächlich hatte sie eines Tages das jammervolle, angsterfüllte Brüllen der Tiere nicht mehr ertragen, wenn es an der Zeit war, sie ihrer Bestimmung zu übergeben. Deshalb war sie in die Stadt geflohen und hatte sich mit dem Nähen von Banderolen mühsam über Wasser gehalten. Bis sie Pachy kennen gelernt hatte, der ihre Visionen einer düsteren Zukunft mit Farbe und Hoffnung gefüllt hatte.
Umso leidvoller war die Erkenntnis, dass er ihre Liebe zu allen Kreaturen dieses Planeten nicht teilte und sie gleichsam verspottete.
Sie fiel in einen unruhigen Dämmerschlaf mit qualvollen Alpträumen; apokalyptische Bilder der Verwüstung und Vernichtung pumpten Kälte in ihren Körper. Immer kälter wurde es, bis Juris erwachte und aufschrak. Die abendliche Dämmerung war über das Land gekrochen und blies ihren kühlen Atem über die junge Frau.
Fröstelnd erhob sich Juris, wobei sie beinahe auf einem von Moos überwucherten Stein ausgerutscht wäre. Ein Junge hatte die Szene beobachtet und lachte gackernd, während ihn seine Mutter zur Eile mahnte.
Juris kletterte den leichten Abhang hoch und gewahrte ungewöhnlich viele Personen um diese Zeit auf den Straßen. Aufgeregt unterhielten sie sich, schnatterten, vollführten mit ihren langen Fingern wilde Gesten, derweil ihre Kämme sich in orgiastischen Farben erbrachen.
Zwar wollte sie den Grund für die Aufregung erfahren, da sie jedoch fror und im Gegensatz zu den Diskutanten kein schützendes Gewand trug, lief sie nach Hause.
***
„Da bist du ja endlich! Wo warst du nur?“, herrschte sie Pachy mit einer Mischung aus Wut und Besorgnis an, als sie in die Wohnung trat. Er umschlang ihren Arm und zerrte sie unsanft in den Gesellschaftsraum, wo die Visio-Wand ausgeschaltet war. „Wir müssen weg. Ganz schnell weg! Pack deine Sachen!“
Der Anblick ihre in Panik agierenden Gatten verstörte sie mehr als seine Worte. Hastig stopfte er dicke Gewänder in einen Reisekoffer. „Wir brauchen Proviant. Kümmere du dich um unsere Verpflegung.“
Erst jetzt konnte sie nach dem Grund für die Aufregung fragen.
„Das Raumschiff ist mit einem Asteroiden kollidiert“, erklärte Pachy und räumte eine Schublade aus. „Sie haben bei den Berechnungen einen Fehler gemacht. Es ist furchtbar! Die Bahn des Asteroiden wurde durch den Zusammenstoß verändert. In wenigen Stunden wird er die Erde treffen.“
Das Ganze erschien ihr völlig unwirklich. Träumte sie noch? Hatten die schrecklichen alpgeträumten Bilder ihren Verstand in makabre Gefilde gesteuert?
„Juris!“, sagte Pachy. „Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Wir müssen fort von hier! Und deshalb benötigen wir lebensnotwendigen Proviant.“
Erst nickte sie stumm, dann fragte sie: „Wohin sollen wir denn fliehen?“
„In die Berge“, antwortete Pachy. „Dort sind wir am ehesten geschützt vor den Auswirkungen des Einschlags.“
„Ich gehe aber nicht ohne-“
Erst jetzt bemerkte sie, dass der Deckel des Terrariums zur Seite geschoben war. Entsetzt eilte sie mit wenigen, langen Sprüngen zu dem Behälter. Ein paar scharfe Blicke genügten um festzustellen, dass ihre Haustiere fehlten. Juris atmete tief durch.
„Wo sind Cassiopeia und Gator?“
Pachy hielt kurz beim Packen inne, ehe er über die Schulter in ihre Richtung sagte: „Die sind ausgebüchst. Wahrscheinlich hast du den Deckel einen Spalt offen gelassen und sie haben es irgendwie geschafft, ihn so weit zur Seite zu drücken, dass sie abhauen konnten.“
„Ich achte stets darauf, dass das Terrarium verschlossen ist!“, zischte Juris. „Du hast sie absichtlich ausgesetzt! Du hast sie hinausgelassen und sie verscheucht. Du bist ein Scheusal!“
Ihr Mann schloss den Koffer und drehte sich zu ihr um. „Liebste. Selbst wenn es so gewesen sein sollte – wir hätten sie nicht mitnehmen können. Wir müssen unsere eigenen Leben retten und können uns nicht um unnütze Lebewesen kümmern!“
Juris blinzelte eine Träne weg. „Du hast das, was ich geliebt habe, mit Füßen getreten. Du bist ein Monster! Ich hasse dich!“
„Ich bitte dich! Sei vernünftig und –“
Aber Juris dachte nicht daran, seiner Vernunft Gehör zu schenken. Sie wollte nur noch weg von dieser verderbten Welt und begann zu laufen.
„Warte!“, rief ihr Pachy hinterher. „So warte doch! Du kannst doch nicht-“
Sie konnte und sie musste.
Keinen Blick warf sie zurück, als sie das Haus verließ und ziellos die Straße entlang lief, vorbei an Passanten, an Flüchtenden, an Marktkarren und Fahrzeugen.
Juris lief und lief, bis sie außer Atem geriet und die Lichter der Stadt im Dunkel des Waldes verblassten.
Sie keuchte und spürte, wie ihr Herz bang und übermüdet in ihrem zierlichen Körper schlug. Juris lehnte sich gegen einen mächtigen Baumstamm und umarmte sich selbst, als würde sie sich zu trösten versuchen. Der abendliche Himmel war ungewohnt klar. Sie blickte Antwort suchend zu den fernen Sternen – und erblickte den wütenden Feuerball, dessenthalben ihre Welt zum Untergang verurteilt war.
Müde und frierend sank sie zu Boden. Vor diesem Weltenzorn aus dem All gab es kein Versteck, das wusste sie instinktiv. Pachy und all die anderen mochten sich einreden, dass es sichere Zufluchtsorte gab, aber aus ihnen sprach die pure Verzweiflung.
Ihr schien, als würden auch die Tiere des Waldes die Zeichen erkennen und sich voll des Bangens verkriechen in ihre Löcher, Höhlen oder Nester. Sie entschied, dass sie hier bleiben würde, bis zum letzten, bitteren Moment.
Ein vertrautes Fiepen durchbrach die Stille im Wald. „Cassiopeia?“
Nein, das konnte nicht sein. Bestimmt spielten ihr die angespannten Nerven einen Streich.
Aber sie hatte sich nicht geirrt: Ihre beiden Haustiere begrüßten sie freudig. Juris lächelte und streckte ihren Arm aus, um die Beiden zu streicheln. Ein paar Sekunden lang genossen Cassiopeia und Gator ihre Zärtlichkeit, ehe sie einige Schritte in den Wald setzten, zurückblickten und ihre leisen Stimmchen ertönen ließen. Zögernd stand Juris auf: Wollten sie ihr etwas zeigen? Die Tiere liefen ein paar Meter, drehten sich um, überzeugten sich, dass die Frau ihnen folgte und hasteten erneut voran.
Nur mit viel Mühe konnte Juris Schritt mit ihnen halten.
Endlich, zwischen umgestürzten und verfaulenden Baumstämmen vor neugierigen Blicken geschützt, entdeckte sie die Höhle, in die Cassiopeia und ihr Junges gelaufen waren. Sorgsam betrat sie den Bau, der sie wenigstens gegen den kalten Wind schützte, und legte sich auf den moosigen, feuchten Boden. Die beiden Tiere kuschelten sich an ihren Körper, wie sie es früher gemacht hatten, wenn Juris sie aus dem Terrarium genommen hatte, da Pachy nicht zu Hause war. Bereits nach kurzer Zeit fiel Juris in wohligen Schlaf und erwachte daraus selbst in jenem Augenblick nicht, als ihre Welt vom Brüllen und Toben kosmischen Grauens zerrissen wurde und Feuerwalzen alles einäscherten, was sich ihnen in den Weg zu stellen wagte. Der Atem der Erde stockte lange Zeit und erst zögernd, dann mutiger wagten sich kleine Tiere aus ihren Verstecken, hoben ihre Näschen in die Luft und witterten, ob hinter den Staub- und Aschewolken Gefahr lauerte.
Aber da war nichts, das sie zu fürchten brauchten. Die alten Herrscher waren hinweggefegt worden und hatten ihnen Platz gemacht.