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Die Alternative
Die Alternative
Das Licht der schwachen Lampe reichte nur bis zur Tischplatte und ließ den Raum dahinter in diffusem Schatten. Geld und Spielkarten lagen achtlos hingeworfen auf der matten Fläche.
Die drei Männer saßen einander gegenüber. Sie hielten ihre Blätter vor den Blicken der anderen abgeschirmt. Es war still und die flachen Atemzüge schwebten wie leise Echos durch den Raum. Römer und Sasse lauerten mit ernsten Blicken und Chris versuchte ebenso gelassen zu wirken, doch das leichte Zittern konnte er nicht unterdrücken. Seine blonden Haare waren nass von Schweiß und das bunte Hemd zeigte feuchte Flecken. Wer ihn nicht kannte, hätte gemeint, er sei zu jung für eine solche Runde.
Schließlich wurde der Druck zu groß und Chris legte sein Blatt offen auf den Tisch.
Die Stille blieb, doch das plötzliche Grinsen in den Gesichtern der anderen entzündete heiße Flammen im Körper des jungen Mannes. Sein Magen revoltierte und für einen kleinen Moment musste er ein Würgen unterdrücken.
In diesem Moment verfluchte er seinen Chef, der ihn mit einer Getränkesendung in diese Kneipe geschickt hatte. Chris arbeitete in einer Spedition und war eigentlich für das Lager zuständig, aber an diesem Tag musste er einspringen.
Anfangs hatte er sogar gewonnen und er brauchte das Geld dringend. Ines war schwanger und was sie brauchten war teuer. Dann verlor er mehr als er gewann und jetzt saß er wieder hier.
„Tja mein Junge, das war’s dann wohl.“ Die schnarrende Stimme von Römer triefte vor gespieltem Mitleid. Mit einer eitlen Geste strich er sich über die glatten schwarzen Haare und zupfte dann seine weißen Manschetten zurecht. Sein Jackett hatte er über den Stuhl gehängt. Betont langsam legte auch er seine Karten offen und strich mit derselben Handbewegung das Geld ein. Sasse, sein Partner, warf die eigenen Karten gleichgültig in die Mitte. Das Blatt interessierte nicht.
„So, mein Junge, nun sag doch mal, wie du deine Schulden bezahlen möchtest?“ Römer wandte sich um, zerrte ein Blatt Papier aus seinem Jackett hervor und faltete es auf. Chris empfand das Knistern wie brechendes Glas.
„Mit diesem Spiel sind es dann so zehntausend Euro.“ Römer lehnte sich zurück und im gedämpften Licht wirkte sein Gesicht wie eine Fratze.
„Wir wissen alle, dass du das Geld nicht hast, also müssen wir uns was einfallen lassen.“
Chris wagte nicht, seine Gegenspieler anzusehen.
„Ich brauche Zeit.“
Wie aus dem Nichts schoss Sasses Hand über den Tisch und umklammerte die von Chris wie ein Schraubstock. Sasse war nicht so eitel wie sein Partner. Er trug eine grobe Lederjacke, unter der sich Muskeln spannten. Sein glattrasierter Schädel und das narbige Gesicht geben ihm etwas Gedankenloses.
„Du hast so eine niedliche kleine Frau.“ Der Griff wurde fester.
"Ich hab sie neulich gesehen. Wohl der geilste Arsch in der Stadt.“
Chris versuchte seine Hand zurückzureißen, doch er bekam sie nicht frei.
„Sie ist im vierten Monat, verdammt!“ Ihm stand die Panik ins Gesicht geschrieben.
Sasse grinste und zuckte mit den Schultern.
„Ich stehe auf geile Ärsche. Dritter oder vierter Monat spielt doch keine Rolle.“
Römer mischte sich ein.
„Aber da gibt es noch eine Alternative. Du arbeitest in einer Spedition und da lässt sich doch sicher was machen.“
* * *
Es war Freitag und bereits Feierabend. Die Lagerarbeiter waren gegangen und die wenigen Lastwagen, die zu der Zeit noch auf den Platz fuhren, wurden nebeneinander, draußen auf dem Hof abgestellt. Wegen der hereinbrechenden Dämmerung hatten einige bereits Licht eingeschaltet. Die Fahrer nahmen den Haupteingang ins Büro, um dort die Papiere abzulegen.
Für den, der den täglichen Betrieb im Lager kannte, in dem tagsüber Hubwagen rangierten und Gabelstapler ratterten, Arbeiter sich Aufträge und Kommandos zuriefen und von draußen das Brüllen der Motoren hereindrang, war die Stille zu dieser Zeit fast gespenstisch.
Chris machte seine letzte Runde durch die große Halle und seine Schritte gaben ein helles Echo wieder. Er prüfte die Beladung von Paletten und zog hier und da lose Spanngurte fest.
An einer schmalen Seitenwand hing ein Schild mit der alten, verschnörkelten Aufschrift „Kontor“ über einer verschrammten Stahltür, daneben ein Regal mit allerlei Formularen und sonstigem Kleinkram. Chris bückte sich und zog einen kleinen Werkzeugkoffer aus einem der untersten Fächer, trat durch die Tür und befand sich in einem schmalen Flur, von dem die Büros der Speditionsangestellten abzweigten. Die Türen waren fast alle aus Glas, wodurch der Flur indirekt beleuchtet wurde. Dennoch war es nicht hell, denn um diese Zeit waren auch die Schreibtische verwaist und es brannte kein Licht mehr.
Der einzige helle Schimmer drang aus dem Chefbüro, am Ende des Ganges.
Heinrich Sieder war Anfang Sechzig, fett und saß hinter seinem Schreibtisch wie ein schlechtgelaunter Buddha. Seine Sekretärin stand neben ihm und blätterte fast panisch in einer Akte. Sie sah aus, als wäre sie schon bei der Firmengründung vor fast hundert Jahren dabei gewesen. Ihre Brille war groß und altmodisch. Die grauen Haare zu einem Dutt gebunden, trug sie ein unmodernes Wollkostüm, das, wie auf einem Kleiderständer, über ihre magere Gestalt hing.
Als es klopfte, und als Chris seinen Kopf herein schob, blickte Sieder unwillig auf.
„Was gibt’s denn?“
Chris musste schlucken und er meinte seine Stimme klänge anders als er sagte: „Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich noch in den Sicherheitsraum gehen muss. Vorhin, als die Lieferung kam, hatte die Tür geklemmt und ich will mal kurz nachsehen.“
Sieder zögerte kurz, neigte sich dann aber schwerfällig zur Seite, um in den Hosentaschen zu wühlen. Nach einem Moment angelte er einen Schlüssel hervor und reichte ihn seinem Mitarbeiter.
„Wir sind gleich weg. Du behältst dann den Schlüssel bis Montag und gnade dir Gott, wenn damit was passiert!“
Chris nickte und zog sich zurück.
Draußen auf dem Flur blieb er kurz stehen und atmete tief durch. Ihm war schlecht.
Zum Sicherheitsraum führten zwei Türen. Die erste ging wie alle direkt vom Flur ab, und war die einzige aus Holz. Chris öffnete und stand nun direkt vor einer zweiten, viel stabileren Tür. Sie war vollständig aus Stahl und mit zwei getrennten Schlössern gesichert.
Den Schlüssel seines Chefs schob er in die untere Öffnung, den zweiten wählte er aus einem Bund, der ihm am Gürtel hing.
Mit leisem Knarren zog er die Tür auf.
Der Raum war klein und eng und hatte keine Fenster. Chris tippte auf den Lichtschalter, wonach alles in gleißende Helligkeit getaucht war. Es roch muffig und nach Kunststoff.
In den Regalen hatte man jede Menge bunte Kartons gestapelt, auf denen Kameras, Spielkonsolen, Zubehör und allerlei teure Elektronik abgebildet waren. Eine Reihe einfacher Schließfächer standen im Schatten der gestapelten Waren.
Chris schob den Werkzeugkoffer als Sicherung gegen das Türblatt und machte sich ans Werk.
* * *
Die Sonne war längst untergegangen. Es war kalt und still im Industriegebiet. Eine schlafende Straße, eingehüllt in sachte aufsteigendem Nebel, der durch den schwachen Schein der Laternen fast etwas Heiliges hatte.
Die Grundstücke waren von üppiger Bepflanzung umgeben und Chris drängte sich auf dem Gehweg dicht an die Sträucher und Bäume. Er wollte nicht gesehen werden und selbst die kleinen, grauen Wolken seines Atems störten ihn.
Immer wieder sah er auf die Uhr, als könne er nicht glauben, dass seit dem letzten Blick erst Sekunden vergangen waren. Er war nervös und er hatte Angst. Bereits vor einer Viertelstunde hätten sie sich mit ihm treffen wollen. Was wäre, wenn sie den Plan aufgegeben hatten? Was wäre dann mit seiner Familie?
Seine Fantasie gaukelte ihm das Schlimmste vor. Waren sie bei Ines?
Eine Berührung ließ ihn plötzlich zusammen fahren. Der Schreck durchzuckte seinen Körper wie ein Blitzschlag und er wirbelte herum.
„Na, hast du die Hosen voll?“
Römers Grinsen war voller Hohn und trotzdem empfand Chris fast eine Erleichterung.
„Hast du die Schlüssel?“
Römer hielt provozierend die Hand auf. Sasse stand neben ihm und grinste. Sie waren beide dunkel gekleidet, trugen Mützen, Handschuhe und dicke Jacken.
Chris nestelte darauf kurz an seinem Gürtel und klemmte den dicken Schlüsselbund los, dann wählte er einen kompliziert geschliffenen Schlüssel aus und hielt Römer so das ganze Bündel hin.
„Das sind meine Schlüssel und der hier ist für die Sicherheitstür.“ Gleich darauf zog er den zweiten Schlüssel aus der Hosentasche.
„Den habe ich von meinen Chef. Die Tür hat zwei verschiedene Schlösser.“
„Mit dir kann man arbeiten. So schnell hast du noch nie zehntausend verdient, stimmt`s?“ Römer wog grinsend die Schlüssel in seiner Hand und fixierte dann Chris mit lauerndem Blick.
„Tja, jetzt müssen wir nur noch für Deine Unschuld sorgen. Du brauchst aber keine Angst zu haben, Sasse macht das so, dass du nicht viel davon merkst, schön gepolstert, wie bei den Boxern.“
Nun begann in Chris wieder die Panik zu wühlen. Es war abgemacht, dass sie ihn niederschlagen und so einen Überfall vortäuschen würden. Er war kein gewalttätiger Mensch und selbst als Jugendlicher hatte er sich nie körperlich auseinandergesetzt. Er hatte Angst vor den Schmerzen, den Folgen und vor allem vor dem, was danach kommen würde: Polizei, Verhöre, Untersuchungen.
Chris sagte nichts. Er betete, dass es schnell ging.
Sasse ließ seine dicke Jacke von den Schultern gleiten, wobei er die rechte Hand in der Tasche ließ. Mit einer schnellen Bewegung schlang er den Stoff um die Hand und hielt sie direkt vor Chris Brust.
„Und, bist du bereit?“ Sasse schien die Situation auszukosten.
Chris stand steif da und keuchte so heftig, dass sein Gesicht vom Dunst seines Atems in leichtem Nebel lag.
Römer nickte seinem Partner zu und Sasse trat einen Schritt zurück.
Das Geräusch, das dann kam, klang wie ein kurzer Schlag auf ein Stück Holz, nicht laut, aber durchdringend.
Durch Chris ging ein kurzer, heftiger Ruck und in seinem Inneren schien eine Sonne zu explodieren.
Sein Blick war starr auf Sasse gerichtet, spiegelte maßloses Erstaunen und entsetzliche Angst wieder.
Von Sasses umwickelter Hand stieg eine kleine, dünne Rauchfahne auf, die sofort wieder verging.
Chris sah zu Römer hinüber und dann an sich hinab.
Er berührte den kleinen, roten Fleck, der langsam größer wurde. Seine Hände waren mit Blut verschmiert, ein Rot, das sich in einer Spirale zu drehen begann, die verwischte, in der sich schwach das Gesicht seiner Frau abzeichnete. Chris wankte.
Das Rot verging, das Gesicht verblasste und alles wurde schwarz.
„Der muss jetzt von der Straße.“ Römer packte Chris an den Armen und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung eines dichten Strauchwerkes. Sasse fasste mit an und nach wenigen Augenblicken waren beide wieder auf der Straße. Sasse schaute noch einmal kritisch in das dichte Grün zurück und sagte stolz: „Vor einer Woche findet den keiner.“
Sie liefen die Straße hinunter bis zum Haupteingang. Nach wenigen Versuchen hatten sie den Schlüssel für das Haupttor gefunden und waren gleich darauf auf dem Gelände der Spedition.
In Deckung der abgestellten Lastwagen erreichten sie das Hauptgebäude, schlichen weiter zur angrenzenden Lagerhalle und machten sich an der Tür im großen Rolltor zu schaffen.
Das Schloss war leichtgängig. Sasse zog die Tür einen Spalt auf und ein nervenzerreißendes Quietschen hallte laut über den Platz. Sasse hielt sofort erschrocken inne, sah Römer an und lauschte.
Plötzlich und unvermittelt flog die Tür nach innen auf. Sasse geriet aus dem Gleichgewicht, stolperte vor und landete auf den Knien.
„Bei dem Krach, den ihr macht, steht gleich die Polizei hier auf dem Hof.“
Heinrich Sieder hielt noch die Klinke in der Hand. Er machte eine herrische Kopfbewegung.
„Kommt endlich rein und seid leise. Habt ihr die Schlüssel?“
„Hier.“ Römer hielt den Bund hoch wie ein Jäger seine Trophäe und grinste.
Sieder bedachte ihn mit einem geringschätzigen Blick, ging voran durch die Halle, weiter in den Flur und öffnete die Holztür.
„Schließt auf und lasst uns die Klamotten rausholen.“
Römer trat vor und entriegelte die beiden Schlösser.
Die gut geölten Scharniere ließen die schwere Platte leicht zur Seite schwenken. Licht flammte auf und vor den Männern präsentierte sich das Lager.
Sasse ging vor und untersuchte die Regale. Römers Blick wurde ernst.
„Dafür den ganzen Aufwand? Für dies Zeug bekommen wir doch gerade mal ein paar Tausend.“
Sieder deutete auf die Schließfächer.
„Das bringt mehr.“
Die drei Männer traten an die Register heran und untersuchten die Stabilität.
„Im Lager liegt Werkzeug, mit dem wir die aufbekommen.“
In Sieders Worte mischte sich ein leises Schaben, das mit einem vernehmlichen Schnappgeräusch endete.
Die Männer wendeten sich gleichzeitig um. Die Tür lag nun fest in ihrem Rahmen.
* * *
Mit der zarten Dämmerung kam auch das Brennen und je heller es wurde, umso heftiger wurde auch der Schmerz.
Bevor Chris die Augen öffnen konnte, nahm er den Geruch nach Chemikalien war. Sein Mund war trocken und der Geschmack abscheulich.
Ein Schatten schob sich wieder über die beginnende Helligkeit. Chris spürte eine zarte, weiche Berührung auf seinen Lippen und blinzelte in das Licht.
Ines stand an seinem Bett und lächelte voller Glück, ihre Augen glitzerten feucht.
Es dauerte einige Sekunden, bis Chris mit allen Sinnen wieder in der Wirklichkeit angekommen war. Er lag in einem nüchternen Krankenzimmer, an durchsichtige Schläuche angeschlossen. Kontakte klebten auf der Haut und sein Leben zuckte in leuchtenden Linien über die Anzeige eines Monitors.
„Wie lange …“ Die Stimmbänder schmerzten.
Ines Hand streichelte zärtlich seine Wange.
„Drei Tage. Du hast Glück gehabt. ...Ich habe Glück gehabt!“ Und in ihrem Lächeln lag eine große Erleichterung.
Langsam setzte das Denken ein und auch die Erinnerung.
„Weißt du was passiert ist?“
Ines nickte ernst. „Ja, die Polizei hat es mir gesagt. Die ganze Sache ist auch wohl so gut wie aufgeklärt, deshalb wollen sie auch sofort Nachricht haben, wenn du vernehmungsfähig bist.“
Chris versuchte sich aufzurichten.
„Ich muss dir etwas sagen ...Die Verbrecher ...“
Die Kraft reichte nicht und die Schmerzen flammten auf. Für einen winzigen Augenblick wünschte er sich, Sasse hätte besser getroffen.
„He, bleib liegen und schone dich. Alles ist gut und niemand kann dir mehr was tun. Sie sind in Euren Sicherheitsraum eingedrungen. Dann muss die Tür zugeschlagen sein.“
„Haben sie was gesagt?“ Seine Worte kamen gepresst. ... „Ich meine, über mich?“
“Man hat sie erst heute Morgen gefunden. Sie sind alle erstickt. Welche Rolle dein Chef dabei spielte, weiß man wohl noch nicht. Er war auch unter den Toten.“