Die anatolische Flut
Anmerkung des Autors
Lieber Leser! Das philosophische Leitmotiv dieser Erzählung erwägt die sozialen Wechselwirkungen zwischen Glaube und Hoffnung, sowohl als fundementales Prinzip einer 'modernen' Weltreligion, als auch ein persönlich vergleichendes Prinzpip in einem sich anbahnenden Generationkonflikt. 'Glaube-Liebe-Hoffnung' ist eine vielzitierte Parole in zahreichen Glaubensströmungen. Nach Ansicht des Autors, eine allzu 'trügerische' Parole. Obwohl hier die Erzählung im islamischen Glauben sich abspielt, ist die Kernaussage dennoch fundamental und somit auf andere Religionen uebertragbar. Der Autor distanziert sich in der folgenden Erzaehlung von jeglicher Verleumdung gegen den islamischen Glaubensgrundsatz, im Gegenteil der Autor lebt und liebt in diesem und weiss seine Bedeutung sehr wohl zu schätzen.
Es empfiehlt sich diesen doch sehr langen und schwierigen Text vorher auszudrucken.
Die anatolische Flut
I
Im freien Dorf Kasaba verneigte sich der Fluss Umutlu zu beiden Seiten des Ufers, vor der noch immer ständig dürstenden anatolischen Herbstsonne. Das Dorf, das bereits fast eine kleine Stadt war, besaß vielversprechende Voraussetzungen, um sich eines Tages zu einem eindrucksvollen Mekka zu mausern. Als Nabel reicher Karawanenstraßen, ist Kasaba vor vielen Jahrzehnten aus der wüsten Leere inmitten des ostanatolischen Ödlands erwachsen, und im Gegensatz zu anderen Dörfern im Umland erfreute es sich schon früh an einer prachtvollen Moschee und dem vom regen Handel florierenden Dorfplatz. Doch das, was das Dorf so einzigartig machte, war sein Fluss, der Umutlu. Denn mit dem frischen Herbstwind schwoll der Umutlu bis über seine Ufer an, düngte die angrenzenden Felder auf natürliche Weise und verwandelte das Dorf alljährlich in eine blühende Oase. Jedes Jahr zollten die Dorfbewohner Dank dem Fluss durch ein üppiges Fest, und auch dieses Jahr bereitete sich das Dorf auf die bevorstehende Festlichkeit vor.
Doch dieses Jahr war auch ein ganz besonderes Jahr für das hoffnungsfrohe Dorf, denn es hatte den ersten Muhtar seiner Geschichte bestimmt, den jungen Kaan oder den Akademiker, wie ihn die Alten im Dorf gern nannten, denn dieser war, als Knabe eines durch Handel in Kasaba reich gewordenen Händlers nach Istanbul gesandt worden, wo er die Hochschule besuchen und sich dem Studium der Medizin, Philosophie und Naturwissenschaften erfreuen durfte, bevor er wieder in das Nest seiner Heimat zurückkehrte, das schon sehnlich seine offene Arme nach ihm ausgestreckt hatte. Neben dem Imam, war Kaan der Zweite im Dorf, der das Lesen und Schreiben erlernt hatte, und das war schon Grund genug ihn, trotz seines unerfahrenen Alters, einstimmig zum Muhtar zu bestimmen. Man hörte ihm gerne zu, wenn er über Aristoteles, Abu-Ali-Ibn-Sina und Alexander dem Großen erzählte oder von den fürstlichen Metropolen im Westen mit ihren prunkvollen Palästen und Universitäten und schwärmte davon, dass der "Akademiker" das Dorf unter seiner Fuehrung in eine neue Ära leiten wird, eine Ära verschwenderischen Überflusses und haberischer Macht.
Fast Täglich, noch im angenehmen Frühlicht des Tages, zog Kaan seinen Kreis um den Dorfplatz, spähte das friedlich schläfrige Geschehen seines Dorfes und glänzte, gleich der aufgehenden Sonne, diesem dankbar für das Vertrauen, das es ihm zurückstrahlte, in stolzen Gebaren entgegen. Sogleich schlich er die enge Dorfgasse hinab zum Flussufer, kontrollierte, im Schatten kundiger Augen, nur allzu hastig den Wasserstand des Umutlu und blickte sogleich in schwärmerische Gedanken verfangen auf das andere Flussufer, wo sich ihm auf einmal, fern ab der anderen Häuser, eine einzelne Hütte gegen den Lauf des Dorfes zu wehren suchte und ganz und gar verwachsen mit der Landschaft, sich frech vor dem Glanz seiner Sonne zu schützen wußte. Es war die Hütte des Yusuf, des Einsiedlers, eines alten Mannes weißen Bartes, den jeder im Dorf zu kennen wußte doch niemand kannte. Als Knabe jedoch hatte Kaan manchmal Yusuf mit dem Dorfschmied reden sehen, aber sonst wohnte der Alte schon immer in seiner vergessenen Hütte und lebte von seinem Garten und natürlich, wie alle anderen im Dorf auch, vom großen Fluss.
"Die Herde soll Schaf und das Schaf soll Herde sein.", philosophierte Kaan, in ihm ernster Besorgnis.
"Ein guter Hirte weiß nie um das einzelne Schaf, doch weiß er um die ganze Herde, und schließlich weiß er dennoch um das einzelne Schaf. Er muss die Jungen, die von Neugierde getrieben das Weite suchen, aber auch die Alten, die nur mühsam der Herde hinterherlaufen, behüten, denn das einzelne Schaf birgt eine Gefahr für ganze Herde und mir scheint es so, als ob der alte Yusuf, so ganz und gar verwachsen in seiner Idylle, der Herde zwar zu entweichen vermag, doch nicht der feinen Nase eines gefräßigen Wolfes.", sprach er zu seinem Herzen, und da keine Brücke, die beiden Flussufer je zu verbinden verstand, fand er alsbald entlang des Ufer am Dorfrand, ein von Moos und Laub durchsetztes Floss. Er stöhnte kurz und entschlossen auf, als wolle er das Leid eines Schäfers in Sorge, um seine Herde mit jener Geste sich selbst zu verstehen geben und betrat zaghaft das morsche Holz. Ein kräftiger Hieb eines Stockes durchschnitt das natürlich verwachsene Floss vom Ufer, das in der verschlafenen Ruhe des Umutlu langsam auf das andere Ufer hinzu zu treiben begann. Am anderen Flussufer und der, von der Seite auf die Häuser herabstechenden, Sonne, schien sich ihm das Dorf, wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht, in neuer Pracht aufzublühen und mit dem Floss aufgesetzt, zog er dieses umsichtig langsam auf das trockene Flussgestade, um sich bei dem Alten auf seine Art respektvoll im Anzug anzumelden. Sogleich spazierte er zu dessen Hütte und hustete ein zweites Mal bevor er an der Tuere besonnen anklopfte.
"Yusuf! Ich bin Muhtar Kaan.", rief er an die Türe und da diese ihm keine Beachtung schenkte, trat er in Sorge um das Wohl des alten Mannes in seine bescheidene Hütte ein. Der alte Yusuf war nicht da, und das Innere bot einen recht spartanischen, doch keinen überraschenden Anblick für Kaan. Ein einziger großer Raum, ein den Fluss anwinkelndes Fenster, ein in der Ecke zusammengerollter Sedschede, ein, an die unverzierte Holzwand genageltes Kramsregal, ein einfaches, aus mehreren ordentlich übereinander gestapelten Decken bestehendes Bett und ein Sessel, der jedoch das asketische Raumbild kratzte, denn dieser war mit bequemen seidenen Einlagen bestückt und mit filigranen Mustern übersäht, zweifellos aus dem alten Europa des Barocks.
"Garantiert besaß noch kein Allerwertester im Dorf ein solches Prachtstück dekadenter europäischer Geschichte!" schätzte Kaan, und er beschloss eine Zeit lang auf Yusuf in seiner Hütte zu warten und setzte sich umso bestürzter auf den Sessel. Im Schosse der Zufriedenheit, blickte er abermals ein wenig besinnungslos um sich herum, jedoch die auf dem Regal stehenden Statuetten aus Holz, schrammten den Glanz seiner Augen, und so legte sich sein gedankenarmer Blick, gleich eines sich kratzenden Hundes, für eine Zeit lang auf das scharfkantige Brett. Im selben Augenblick verdunkelte sich das Zimmer, und ein langer Schatten schärfte die Konturen der Holzfiguren.
"Wer ist da?" schroffte es aus dem Hintergrund. Der Muhtar sprang erschreckt auf und drehte sich zur Tür.
"Selam-ün-Aleyküm Yusuf.", sagte Kaan freundlich zum Alten und streckte ihm vergeblich die Hand hin.
"Aleyküm-es-Selam."
"Ich heiße Kaan und bin der neue und erste Muhtar des Dorfes, mein Freund. Ich fand deine Hütte und fragte mich besorgt, was wohl mit dem alten Yusuf geschehen ist. Als ein Hirte muss ich mich darin verstehen, meine Schafe zu behüten.", lächelte er seinem erwählten Gastgeber zu. Yusuf hatte ein Stücken unbearbeitetes Holz und ein Messer in seinen Händen und stand noch immer im Freien vor der Türe.
"Behüten doch sicher nur um der Wolle wegen. Als Schaf muss ich mich nämlich darin verstehen, ein Schaf zu sein.", sagte dieser kaltschnäuzig von den freundschaftlichen Worten des Muhtar unberührt.
"Denk nicht falsch über mich Yusuf. Dein Eigen darf natürlich dein Eigen bleiben. Ich wollte mich nur nach deinem Wohl erkundigen. Du hast seit langem keinen Fuss mehr in das Dorf gesetzt. Vieles ist seitdem passiert und ich machte mir Sorgen um dich, denn das Herbstfest steht vor der Türe und ich wollte erfahren, ob du denn auch kommst?" Der Alte betrat nun seine Hütte und donnerte die Türe hinter sich fest zu.
"Das weiß ich nicht."
"Deine Hütte bewegt sich mir jedes Jahr ein Stücken mehr dem Dorfe weg."
"Das mag dein Trug nur sein, denn meine Hütte steht seit über 30 Jahren an dem selben Fleck!"
"Natürlich hast du Recht." liebelte Kaan "Doch, doch vielleicht liegt es heuer an dem Fluss, der abgemagert von der Sommersonne, sich der Üppigkeit des Herbstfestes noch etwas schämt. Ich bin guter Hoffnung, dass die Flut bald kommt."
"Du bist guter Hoffnung? Wie viel Hoffnung verträgt der Mensch?", sprach der Alte närrisch und zum ersten Male war die Gebärde eines horrenden alten Greises erkennbar und nicht die eines Dorfältesten, dessen Weisheit und Humor in seinem langen weißen Bart eingeflochten zu sein schienen. Mit starr sezierenden Augen durchschnitt er Kaans Brust und stierte durch das Fenster auf das andere Ufer.
"Sieh auf das andere Ufer und hör hin! Wie sie singen und spielen, tanzen und maskieren, wie sie hoffen und glauben!" Der Muhtar drehte sich zum Fenster und begann das andere Ufer zu lesen, wo sich Kinderschreie nacktlaut im Fluss tränkten. Er sah auch den Imam, der sich zunächst energisch gegen das Geschrei des Flusses zur Wehr setzte, jedoch sich widerwillig in sein Gewand verzog, nachdem seine Stimme, dem kindlichen Gespött schutzlos ausgeliefert, nahezu lautlos verklang.
"Die Bauern freuen sich auf die jährliche Flut, die den Keim der Hoffnung nährt und ihren Lebenswillen sättigt. Doch was, wenn die Flut nur einmal ausbleibt?", bebte Yusuf, wobei der letzte Part seiner Frage das taube Holz durchdrang. Seit der Muhtar sich zu erinnern vermochte, schwoll der Fluss Jahr für Jahr an und bewässerte die Felder auf natürliche Weise und stillte das durstige Dorf.
"Das wird nicht passieren.", erstarkte Kaan, "Den Fluss der Zeit weiß niemand aufzuhalten."
"Inschâllah." Unterwies Yusuf den Muhtar, noch bevor dieser seinen Satz beenden konnte. Der Raum verstummte, bis die Stille an der Kehle des etwas verlegenen Dorferwählten zu würgen begann, so schnappte er tief Luft und presste das Wort aus sich heraus:
"Schöne Figuren, die du da geschnitzt hast Yusuf."
"Figuren? Seit 30 Jahren schnitze ich die eine Figur.", sagte Yusuf in herrischer Pose. Der Muhtar beugte sich vor die Statuetten auf dem Regal und musterte diese etwas genauer. Es waren an die 30 aus Holz geschnitzte Skorpione, die alle bis auf winzige Einzelheiten sich voneinander nicht unterscheiden ließen. Zwar hatte die eine Statuette ein abgebrochenes Bein oder die andere einen lädierten Schwanz, doch zweifellos war jede Figur vom genau gleichen Stoff geschnitzt, wie die andere."
"War es nicht Platon der behauptete, die Idee steht vor allen Formen? Durch die akzentuierte Betonung der Worte, wußte Kaan, dass dies keine Frage, sondern eine Rechtfertigung war. Kaan, der sich eigentlich auf einen Pflegebesuch eingestellt hat, war von der Unterhaltung mit Yusuf überrascht, vor allem aber durch dessen letzte Worte, auf die er nichts sagen konnte, hemmten seine Laune. Der bevorstehenden Stille entgegentretend, zog er diesmal die Schultern bis an den Kopf:
"Nun gut mein lieber Yusuf, ich habe heute noch so einiges zu tun. Ich hoffe, wir sehen uns nächste Woche beim großen Feste."
Lautlos setzte sich Yusuf auf seinen bequemen Sessel, überschlug die Beine und begann das rohe Holz in seiner Hand mit dem Messer zu bearbeiten. Auch Kaan verließ wortlos die Hütte und ging den restlichen Tag seinen Pflichten als Muhtar nach.
II
Einige Tage vergingen seit dem Gespräch mit Yusuf, und der große Fluss scheute sich, zum Schrecken aller Dorfbewohner, vor der noch immer auf das Dorf erbarmungslos niederbrennenden Sonne. Die Unterhaltung mit Yusuf hinterließ Spuren im Herzen des Muhtars und lenkte ihn ein wenig von der Arbeit ab. Längst war er nicht mehr überrascht, sondern verwirrt.
"Ein schwarzen Schaf unter uns Weißen ist der alte Yusuf.", sprach er zu seinem Herzen.
"Ich werde seinen Freund, den Schmied, bald aufsuchen. Er kann mir bestimmt mehr über Yusuf erzählen als Yusuf selbst, denn dieser erzählt nur ungern über sich, was man keinem Menschen verübeln sollte." Nach dem Abendgebet in der Moschee traf den Schmied und bat ihn um eine Unterredung. Mahmut, der Schmied, der als liebevoller und geselliger Geselle im Dorf bekannt war empfing ihn in seinem Haus zum Tee.
"Selam-ün-Aleyküm"
"Aleyküm-es-Selam. Welche Freude, nur selten empfange ich akademischen Besuch!", lachte dieser dem Muhtar entgegen.
"Danke. Ich habe schlechten Nachrichten; das große Fest, das für Morgen geplant ist, werden wir vorerst absagen müssen. Noch ist Hoffnung, doch der Fluss scheint sich immer noch gegen seinen natürlichen Lauf zu wehren, denn der Flusstand wird immer geringer."
"Allah stehe mir bei, aber das müssen wir wohl tun.", sagte der Schmied und zündete die Nargile an, dem Muhtar entschlossend zunickend. "Aber das mag wohl nicht die Unterredung sein um die du gebeten hattest."
"Du hast Recht mein Freund.", lächelte Kaan beschämt auf. "Ich komme eigentlich, um etwas mehr über deinen Freund Yusuf zu erfahren."
"Yusuf? Den Einsiedler?"
"Ja Yusuf, der auf der anderen Seite des Flusses so abgesondert vom restlichen Dorf in seiner Hütte lebt."
"Ja, ich kenne Yusuf schon eine halbe Ewigkeit. Als ich damals vor knapp 30 Jahren, als ein junger Schmied, mich hier erst im Dorf beweisen musste, war Yusuf ein Reisender auf dem großen Fluss. Mit seinem Floss strandete er in diesem Dorf und warf mit seiner Liebe einen Anker in die Herzen aller Dorfbewohner, mich eingeschlossen."
"Was ist damals vor 30 Jahren passiert ?"
Während Mahmut an dem heißen Tee schlürfte, spiegelte sich in seinen Augen das Vergangene wider.
"Ich erinnere mich genau. Vor etwas mehr als 30 Jahren gab es eine verheerende Dürre in dieser Gegend. Der große Fluss drohte in seinem eigenem Bett sein Grab zu finden. Die Dürre forderte viele Opfer, unter ihnen, der frühere Imam und mit seinem Tod starb der Glaube in den Herzen der Menschen und verfinsterte ihre Blicke. Yusuf, dem es unmöglich war seine Reise auf dem Floss fortzusetzen, fand Unterschlupf in meinem Schuppen und auch fand er ein aufgebrachtes Dorf vor. Doch seine Liebe in seinen Erzählungen entfachte in uns ein neues Licht, durch welches die Menschen, sich wie Kletten angezogen fühlten, und durch die Wärme die das Licht ausstrahlte, wurde unsere Hoffnung aufs Neue erweckt, die die Lücken in unseren Herzen in dieser verdammten Zeit überbrückte. Zwei Tage später kam dann auch zum Glück der große Regen und noch bevor der Fluss, von der Hoffnung der Menschen beschenkt, in alter neuer Pracht auflebte, hat sich Yusuf zur Verwunderung Vieler auf der anderen Seite niedergelassen. Man hat ihn sogar, da er auch das Lesen und Schreiben beherrscht und seinen fremden Geschichten nach, die halbe - ja bestimmt sogar die ganze Welt bereist hat, als neuen Imam des Dorfes vorgeschlagen. Doch er dankte ab, und damals dachten wir alle, dass er seine Reise nach dem Winter fortsetzen wird."
"Schön gesagt mein Freund, doch warum ist er geblieben und lässt sich nicht im Dorf blicken, nicht mal zu den Predigten in der Moschee?" Nach einem kräftigen Zug an der Nargile, reichte der Schmied diese an Kaan weiter und fuhr fort:
"Nein, sein Herz ist rein und Allah ist in seinem Herzen, wenn es das ist, was du meinst. Einmal im Jahr kommt er und fragt mich nach einem Stückchen Holz aus meinem Schuppen. Wir reden nicht viel, eigentlich gar nicht. Ich glaube er braucht das Holz zum Schnitzen. Ist dem armen Yusuf was passiert?"
"Vor einigen Tagen besuchte ich ihn, und er hinterließ einen kerngesunden doch etwas schroffen Eindruck. Die Einsamkeit scheint ihn aufgeraut zu haben."
"Ich bin nur ein einfacher Schmied und kann dir nicht viel darüber sagen, wie das Herz im Inneren der Menschen zu schlagen weiß. Doch kann ich dir als Schmied, der über seine Handwerk durchaus Bescheid weiß, berichten, dass so oft ich aus einem Stück Eisen mit dem Hammer eine Form geschlagen, frage ich mich, ob nicht etwa das Eisen den Hammer geformt haben könnte? Wenn die Langeweile die Zeit totschlägt, kommt man auf solch seltsame Gedanken mein Freund, verstehst du?"
"Das kann ich mir in dieser Hitze gut vorstellen.", lachte dieser nach einem kräftigen Zug an der Nargile auf und bedankte sich die Unterhaltung und den Tee. Der Schmied machte sich sodann an die Arbeit, während der Muhtar sich an seiner beschlagener Kunstfertigkeit noch eine Zeit lang erfreuen durfte.
III
Der weitere Tag war vom glühenden Zenit der Mittagssonne überschattet, und das Dorf verweilte in trügerischer Ruhe. In der Abendpredigt waren alle Dorfbewohner bis auf Yusuf in der Moschee anwesend, und nachdem der Muhtar nach dem Gebet seinen Sedschede zusammengerollt hatte, beschloss er, Yusuf einen zweiten Besuch abzustatten. Da kein Licht die Hütte nach draußen verließ, klopfte er nur sachte an der Türe um Yusuf nicht zu wecken. Doch schon beim ersten Male quetschte sich ein breites "Komm herein Kaan" durch den engen Türspalt. Kaan betrat den Raum, während Yusuf gerade eine Kerze anzündete.
"Ich wollte dich nicht wecken Yusuf"
"Das hast du nicht." Yusuf nahm das Messer und das Holz, welche auf dem Sessel lagen und bot diesen seinem Gast an und setzte sich selber aber auf den Boden. Der Muhtar nahm den Platz, um der Gastfreundschaft willen Respekt zu zollen, dankend an, während Yusuf das Schnitzen begann.
"Ganz ohne Licht?" fragte der Muhtar verwundert, das frische Bett bemerkend.
"Nach so vielen Jahren eilt die Gewöhnung dem Licht voraus." Der Muhtar nickte nur, blickte sonach auf die vielen Figuren auf dem Regal und schnitt ein:
"Ich wollte dir berichten, dass das Herbstfest, das für Morgen geplant war, verschoben ist. Doch habe ich die Hoffnung auf Morgen noch nicht völlig aufgegeben."
"Kein Gesang und kein Tanz dann?
"Ich sagte bereits, den Fluss der Zeit weiß niemand aufzuhalten. Die Flut muss bald kommen, das wird sie auch und das hat sich schon immer getan."
"Und wenn nicht? Was dann?"
"Ich glaube nicht, dass der Fluss dem Dorf das antun kann. Doch sind bereits viele im Dorf unruhig, und ich hoffe, dass die Geduld mit ihnen ist." Yusuf hörte auf zu schnitzen.
"Kommt nicht da die Hoffnung als ein Raubtier auf Pantoffeln angeschlichen? Du hoffst auf den Braten und wenn dieser dann endlich da ist, dann hat es vor dir bereits dein Mahl weggeschnappt, und wenn nicht, dann scheut es nicht davor zurück, dich bei lebendigen Leibe zu verzehren?"
Der Muhtar stimmte Yusuf fluechtig zu und ergriff das Wort: "Du siehst wahrlich mehr, als viele andere in diesem Dorf. Deine Liebe und Weisheit braucht das Dorf aufs Neue zu dieser Stund."
"Ich bin, genau so blind, wie du, mein Freund.", antwortete der alte Mann wehmütig, eines Fürsten gleich, der in tiefer Trauer versunken, auf das goldenes Zeitalter seines Reiches zurückblickte. Durch einen Wink beugte sich der Muhtar vor das Gesicht des Alten und blickte direkt in dessen Augen. Starr spiegelten diese das leise Licht der Kerze wider, doch schienen sie jeglichen Funken verloren zu haben. Yusuf war blind und es entsetzte den Muhtar die ganze Zeit über, ohne es zu ahnen, in das nackte Antlitz eines Blinden gesehen zu haben. Die Reue wusch die geschwärzte Weste des Muhtars, um sich gegen die nackte Wahrheit zu wappnen.
"Du darfst meine Unwissenheit mir nicht zum Vorwurf machen. Ich wurde nach der großen Katastrophe vor 30 Jahren in einer Zeit des Überflusses geboren, die die Gewohnheit in unseren Mäulern aufschäumte. Und sollte jener Schaum eines Tages weggespült werden, bleibt das selbe Wasser übrig, mit dem auch du dir deine Hände täglich wäschst."
Der Raum verstummte in Stille, und der Muhtar lies sich von dieser lecken bis schließlich der Alte, der über die Worte des Muhtars das erste Mal ernsthaft in Regung nachdachte, sagte:
"Nur derjenige, der einst tief in den Schaum gestürzt ist, ist im Stande zu wissen, dass sich unter der üppigen Schaumdecke klares Wasser befindet."
Beide lächelten einander an und Kaan wußte, dass er an dem Herzen des Alten angeklopft hatte.
"Warum hast du dich vor dreißig Jahren auf der anderen Seite des Flusses niedergelassen? Wir hätten dich gerne beherbergt, denn ein Blinder hat nichts zu verbergen."
"Wie du weißt, herrschte vor dreißig Jahren eine verheerende Dürre in dieser Gegend. Ich war jung und wollte mich mit einem Floss bis ans Meer treiben lassen und fand dieses Dorf, dessen Glaube starb und deren Hoffnung mit dem Fluss langsam versiebte."
"Ja, ich weiß."
"Ich öffnete ihre Herzen und das Tor, das sie weit aufrissen, um ihre letzte Hoffnung auszuschütten, war das gleiche Tor, das es ihnen ermöglichte, mich in ihr Herz aufzunehmen. Diejenigen, die das Tor nicht weit genug aufzustoßen wagten, starben an ihrer Eitelkeit. Und da, und da habe ich es gewagt." Der Alte pausierte eine Zeit lang und wiederholte den letzten Satz mit der Stimme leiser werdend.
"Was hast du gewagt?", fragte Kaan zwingend. Ein Blitz regte Yusuf bis in das feinste Geäder seines Wesens. Das Blut pulsierte in seinen Adern, wobei seine das Messer in seiner zittrigen Hand das Holz verfehlte und sich in ein allzu williges Fleisch schnitt. Völlig unberührt, eines Raubvogels gleich, schliffen sich seine Augen zu einem funkelnden Diamanten zusammen, während seine hoch erhabene Stimme nun den leeren Raum erfüllte.
"Nackten Fußes bin ich über den seichten Fluss gegangen und habe ihre Hoffnung auf meinen Schultern mit mir weggetragen." Die wunde Hand des Alten ballte sich zur Faust und presse letzte Säfte seiner Würde zu einer Blutlache über dem Boden aus.
"Bei Allah, es ist die Wahrheit, und es lag allein nur in Allahs Händen, das Dorf vor der Katastrophe zu bewahren." Er spuckte sodann auf die Blutlache, wobei sich der Speichel mit dem Blut zu vermischen begann, um einen heiligen Bund zu schließen.
"Um den bevorstehenden Kälte zuvorzukommen, beschloss ich, mir diese Hütte für den Winter zu bauen und so schnell wie möglich meine Reise auf dem Fluss im Frühling fortzusetzen. Ich wollte mir eine Feuerstelle vor der Hütte anlegen und benötigte dafür einige große Steine. Ich ging zum Fluss hinab, und als ich einen formschönen, vom Fluss geschliffenen, Stein am Rande des Ufers fand und diesen aufheben wollte, kroch ein Skorpion, in seinem Schlaf gestört, unter diesem aus seinem Versteck, und bevor ich reagierten konnte, stach er drei Mal in meinen Fuß. In pulsierenden Schmerzen schaffe ich es gerade noch zur Hütte zurückzukehren, als ich das Bewusstsein verlor und eine nur von Gott allein gegebene Offenbarung hatte.” Yusuf schien die Geste des Muhtars zu erahnen und liess die Worte im aufgehitzten Raum verdunsten: “ Der Engel Gabriel selbst sprach zu mir in jener Nacht und befahl mir dem Fluss einen Skorpion zum Geschenk zu machen.”. Der Alte begann an seinen eigenen Worten lauschen.
“Als ich das Bewusstsein wieder erlangte, hatte ich das bis heute ungestillte Bedürfnis einen Skorpion zu schnitzen. So schnitze ich den ganzen Tag, und als ob das nicht genug wäre, zündete ich des Abends eine Kerze an und arbeitete vom Eifer beflissen bis zum Morgen. Doch am Morgen schien sich das Kerzenlicht mit dem Tageslicht gegen mich zu verbünden und im Zwielicht meines Übereifers verdarben sie mir ahnungslos mein Augenlicht." Yusuf erstarrte, doch in seiner Gebärde glimmte immer noch das Gesagte. Der Muhtar verweilte in einem Zustand, in welchem er das Gesagte in allen Eizelheiten verbildlichen versuchte, schliesslich sagte ein wenig verwirrt:
"Eine unglaubliche Geschichte, aber ich werde dir glauben, denn ich vermag dem Blinden auch noch nicht das Gehör zu rauben."
Der Muhtar verband die Hand des Alten mit einem Leintuch, während Tränen die Augen des Blinden versahen.
"Ich wollte euch nur beschützen? Ich sehnte mich nach Freunden und Liebenden, und ich habe niemanden je ein Leid zugefügt. Ich wollte euer Dorf doch nur beschützen, verstehst du? " Yusuf wiederholte sich ständig und frage sich selbst in Trauma stürzend. "Ich wollte euch doch nur beschützen?"
Kaan wollte dem Alten helfen, doch er ahnte, das jegliche Art von Mitleid, einem Hungernden, auch noch die Freude an den letzten Brotkruemmel verdirbt. So sagte er nichts. Für eine lange Zeit schwiegen sie einander an.
"Ich werde bald wieder vorbeikommen um nach deiner Hand zu sehen."
"Komme wieder!", entgegnete ihm Yusuf und es verabschiedeten sich beide ohne ihr Schweigen gelöst zu haben.
IV
Einige Tage sind vergangen seitdem Yusuf sich Muhtar Kaan offenbart hatte. Yusuf schien fest an das Gesagte zu glauben, doch Kaan hatte noch keine Gelegenheit sich darüber ernsthaft Gedanken zu machen, denn der Fluss hatte immer noch nicht vor sein alljährliches Versprechen einzulösen, und die Sonne brannte in ihrer berauschenden Herrlichkeit uneingeschränkt auf das furchsame Dorf nieder. Längs hatten die spielenden Kinder am Fluss den Platz dem Imam eingeräumt, und dieser erfreute sich an der herbei fließenden Masse, die zur Mittagsmesse im gluten Zenit seine Moschee füllte. Muhtar Kaan war auch anwesend und lauschte nach dem Fatihah, den Worten des Imam, der die Suren aus dem heiligen Buch, dem Koran, zitierte.
"Er ist es, der euch den Blitz zeigt, Furcht und Hoffnung einzuflößen, und Er läßt die schweren Wolken aufsteigen."
"Er sendet Wasser herab vom Himmel, auf daß die Täler durchströmt werden nach ihrem Maß, und die Flut trägt gischtend aufsteigenden Schaum. Und ein ähnlicher Schaum ist in dem, was sie im Feuer erhitzen im Verlangen nach Schmuck und Gerät. So verdeutlicht Allah Wahr und Falsch. Der Schaum aber, der vergeht wie Blasen; das aber, was den Menschen nützt, es bleibt auf der Erde zurück. Also prägt Allah die Gleichnisse."
"Allah ist der Freund der Gläubigen: Er führt sie aus den Finsternissen ans Licht. Die aber nicht glauben, deren Freunde sind die Verführer, die sie aus dem Licht in die Finsternisse führen; sie sind die Bewohner des Feuers; darin müssen sie bleiben"
Der Imam erhob seine Hände zu den Schultern und leitete das Ende der Messe ein:
"Allah-u-Akbar."
Und die Menge sprach drei mal gleichzeitig im Chor:
"Subhana Rabbiayl Azim."
Die Zeremonie wurde vom Imam ordnungsgemäß beendigt und nach der Predigt tröpfelte die Masse nach und nach auseinander. Muhtar Kaan verblieb noch eine Zeit lang vor den Toren der Moschee und blickte von der Sonne geblendet auf das Firmament und sprach zu diesem:
"O Yusuf, mein Freund. Das Tageslicht ist heller und strahlender, als alles andere auf Erden. Es umgarnte mit seiner Allmächtigkeit dein winziges Kerzenlicht und machte es zu deinem Leid überflüssig.", als auf einmal ihn die Hand des Imams an der Schulter fasste, und dieser begrüßte Kaan traditionell mit jeweils einem Kuss an beide Backen.
"Mach dir keine Sorgen mein Freund."
"Wenn das so einfach wäre", stöhnte Kaan auf und wischte mit der Hand sich glänzende Schweißperlen von der Stirn.
"Ich fürchte mich vor den bevorstehenden Tagen."
"Mit Barmherzigkeit belohnt Allah diejenigen, die an ihn glauben und zugleich aber ihn fürchten. Er wird ihnen ein Licht bereiten, in dem sie wandeln werden. Denn Allah ist allverzeihend und barmherzig.", beruhigte ihn der Imam, während Kaan mit seinem Daumen die Schweißperlen an seinen Fingern verrieb.
"Wie töricht von mir. Ich danke dir." Der Imam nickte besonnen und zwinkerte mit beiden Augen seinem Schützling fest zu. "Allah sei mit dir."
"Und Allah sei mit dir."
Gegen Abend wagten einige Wolken die koronen Übermacht zu stürzen, doch der erhoffte Regen blieb aus.
V
Drei Tage verstrichen seit der Predigt des Imam. Einige Wolken, die sich im Morgengrauen sammelten, nahmen zwar den Kampf gegen die glute Übermacht auf, doch wurden diese spätestens gegen Mittag restlos von den goldenen Reiterscharen der Sonnenglast zerstückelt. Die erbarmungslose Sonne Anatoliens brannte sich in ein allzu williges Fleisch der Dorfbewohner und entflammte ihre ausgedürrten Herzen. Kaan versuchte zwar, die aufkommenden Brände zu löschen, doch hitzige Spannungen zwischen den Dorfbewohnern quollen immer wieder neues Öl aus ihnen heraus, und seine wässrigen Worte kühlten die Gemüter nur dürftig.
"Allah straft uns für unsere Sünden.", hörte er es spitz aus den Dorfwinkeln flüstern, und erst der Abend selbst gönnte ein wenig Abkühlung und hemmte die Unruhe in dem sich beklagenden Dorf. Die Anstrengung streckte Muhtar Kaan früh zu Bett, doch schon die ersten Sonnenarme rissen ihn am Morgen darauf aus seinem ohnehin unruhigen Schlaf. Er blickte durch das Fenster auf zum Himmel und sah am Firmament einige Wolken sich gegen das Morgenrot sammeln, die jedoch noch in dieser löchrigen uneinheitlichen Formation ihn an ein gemischtes Söldnerheer erinnerte, welches nach der ersten Kampfesnacht im Morgengrauen sich neu zu formieren begann und ihnen die Aussichtslosigkeit der bevorstehenden Schlacht in der Unterzahl gegenüber dem übermächtig einheitlichen Feind bewusst wurde. Er zog seinen Kreis, der von der Hektik geführt, sich hat schmälern lassen, und als er die enge Gasse hinab zum Flussufer betrat, fühlte er sich von wachen Blicken der Dorfbewohner beschattet. So eilte er verunsichtert die enge Dorfgasse zum Flussufer hinab und erblickte den nahezu ausgetrockneten Fluss Umutlu. Noch konnte er die hauchduenne Grenze zwischen Traum und Trug nicht realisieren, und so stand er eine Zeit lang regungslos am Ufer. Doch ein im Flussbett an der Luft sterbender Fisch rang gleich diesem nach Wasser. Fassungslos stürzte Kaan in das seichte Flussbett mit den Knien zu Boden, ergriff nach einigen unbeholfenen Versuchen mit beiden Armen, den aus seinen Händen zur Flucht sich drängenden Fisch, um eine Antwort aus ihm zu erzwingen. Doch auch dieser, vermochte nicht wie sein Peiniger, einen Laut von sich zu geben, und so zebarst das Fleisch in den Händen des Muhtars, der in seiner Verzweiflung, die Stränge der Natur überspannte. Das Blut des Opfers spritzte unter dem Druck seiner Hände und befleckte das blasse Gesicht, das er besinnungslos mit dem schmutzigen Schlamm des Flussbettes überzog. Feuchten Blickes sah er auf das andere Flussufer, wo sich eine schwarze Wolkendunst unter dem majestätisch blauen Himmel erstreckte. Eine feiner kerzengerade Rauchfaden zog seinen Blick bis an die Hütte des Alten und verknotete diese mit der geschwärzten Wolkendecke.
"Yusuf?" schrie er und stolperte auf das andere Flussufer zu, wobei seine Sandalen sich tief im Schlamm festsogen und er nackten Fußes das andere Ufer nur mühsam erreichte. In völliger Erschöpfung kroch Kaan zur abgebrannten Hütte. Die verkohlte und nach innen eingebrochene Türe erschwerte ihm den Zugang, und als er das Innere betrat, riss ihn ein herausragender Dorn eine tiefe Fleischwunde in den Fußballen. Doch das Unverständnis ermattete den körperlichen Schmerz, als er auf einmal den verbrannten Leichnam erblickte. Der Alte war tot und seine Hütte schien nicht nur vom Feuer geplündert worden zu sein. Der Sessel mit den Polsterneinlagen, sowie einige Figuren, waren nicht in der Huette, die Restlichen waren allesamt verkohlt. Das Messer des Alten saß bis zum Schaft in der Brust des Alten und mit den beiden, vom Feuer vertuschten, Händen hielt Yusuf noch hüllend die unfertige Holzstatuette. In von Wahnsinn gepeitschten Zorn riss Muhtar Kaan die Statuette aus den miteinander verschmolzenen Händen, die sich fest in Figur verankert hatten und schwankte aus der Hütte über das Flussbett die enge Gasse hinauf, wobei die ihn quälenden Mühen, wie ausgestreckte Arme, die aus den engen Häusergassen nach seinen Anzug griffen, ihn mehrmals dabei zu Boden streckten. Über den Dorfplatz floh er in Schlamm und Schmutz geschwärzt aus dem Dorf in das weite Ödland.
VI
Fast zwei Tage lang schlich er barfüßig ohne Wasser und Nahrung über die dornige Steppe Ostanatoliens und auch der, auf leisen Sohlen sich anschleichende, Schmerz fraß ihm jeden aufkommenden Gedanken weg. Die mitgenommene Statuette verbiss sich fest in seiner Hand und getrieben von der peitschenden Sonne, die auf seinen Schulter saß, trottete er noch einige Meter in die Leere und brach dann unter ihrer tyrannischen Last zusammen.
Erst am nächsten Tag weckten ihn leichte Schläge einer rauen Hand in das Gesicht. Eine noch verschwommene Gestalt erschien vor seinen mit Sand verklebten Augen. Die Hand führte ihm eine Flasche zum Mund.
"Fremder trink das. Das ist Wasser.", sagte eine Stimme.
Kaan trank die ganze Flasche in einem Zug und verlangte triebhaft nach mehr. Der Fremde, der sich langsam manifestierte, trug einen weißen Turban und war in einem vom Wind verspielten Umhang verhüllt. Sodann verschwand dieser zunächst und kam mit einer neuer Wasserflasche von seinem Packesel zurück.
"Trink Fremder. Ich habe genug davon."
"Wer bist du?" fragte Kaan noch respektlos gegenüber seinem Gönner.
"Ich bin Mustafa der Händler."
"Was machst du hier?" Mustafa lachte laut auf, und ein verdorbenes Gebiß näherte sich Kaan bis auf kürzeste Distanz.
"Was ich hier mache? Ich suche nach Verdurstenden in der weiten Steppe Anatoliens um ihnen Wasser zu verkaufen.", sagte dieses und ungewollt angesteckt vom frechen Lachen des Fremden, belebte es ploetzlich seine menschliche Seite.
"Was ist passiert?" fragte Kaan mit jeden weiteren Schluck aus der Wasserflasche, mehr und mehr festen Boden unter sich spürend.
"Bist du nicht aus dem Dorf Kasaba?"
"Ja, das bin ich."
"Dann weiß du ja was passiert ist. Bei Allah, eine schreckliche Katastrophe. Ein Wunder, dass du überlebt hast."
"Katastrophe?"
"Vielleicht bist du noch zu schwach, um dich zu erinnern, Fremder. Ich werde dir helfen. Nach der unerträglichen Hitze der letzten Tage, befreite der erhoffte Wolkenbruch das Land von seinen Qualen, doch auch der Umutlu befreite sich aus seinem Flussbett und überschwemmte euer Kasaba."
"Was sagst du? Überschwemmt?"
"Ja, überschwemmt. Eine riesige Flut überschwemmte euer Dorf, das dem Flussschutzlos ausgeliefert war. Als ich zum Handeln nach Kasaba wollte, fand ich dort Nichts außer einem Häusergerüst vor, das wie Gräten aus de nassen Sand ragte. Ein katastrophaler Anblick."
"Du kannst nicht die Wahrheit sprechen."
"Fremder, warum sollte ich die Wahrheit vor dem Mann verbergen, dessen Leben ich gerade barg. Ich habe besseres zu tun. Sieh auf den Packesel, einen besonders schönen Sessel habe ich aus dem Sand ausgegraben, und ich könnte ihn für gutes Geld hier verkaufen. Wenn du aus dem Dorf bist, wird dir bestimmt solch ein Stuhl aufgefallen sein."
Kaan erblickte den Stuhl mit den seidenen Polstereinlagen und von der schlichten Wahrheit überrumpelt, nickte er Mustafa nur zu.
"Fremder, ich muss los, meinen Krams loswerden. Wenn du willst, mein Esel ist kräftig und ich kann dich bis zur nächsten Stadt mitnehmen, doch hoffe ich, es gibt nicht mehr von eurer Sorte hier rumaalen, denn dann werde ich nie in die nächste Stadt gelangen.", lachte ein von der anatolischen Sonne gezeichnetes Gesicht zu Kaan, dem die ueberraschende Kunde des Haendlers zur keiner Regung verhalf. Doch als Kaan aufstehen wollte, bemerkte er, dass sich immer noch die Statuette fest in seiner Hand verbissen hatte. Nachdem der Händler Kaans Füsse verband, ritten beide auf dem Esel in die nächste Stadt, wobei Kaan nur zögernd auf ein Gespraech mit dem Händler einging. Auch bemühte sich Mustafa vergebens mit seinen trockenen Schalenwitzen in das Innere Kaans vorzustossen, schliesslich verstummten sie nach einiger Zeit wieder wie Fremde. Lediglich nach einem Messer fragte Kaan. Er schnitzte die Statuette grob fertig, und als sie am großen Umutlu passierten, um sich mit frischen Wasser zu beladen, wünschte Kaan für einen Moment allein gelassen zu werden. Er näherte sich dem Ufer und betrachtete den sich ruhig dahin wälzenden Fluss und sprach zu seinem Herzen:
"Allah verzeih ihm, nur vergaß er bloß, dass zu beiden Seiten des Ufers ein jeder Fluss anschwillt." und warf die Statuette in den Fluss, wo sie vom Strom mitgerissen, ihre lange Reise in das Meer begann.
Glossar
Abu-Ali-Ibn-Sina · 979-1073 Arzt, Astronom, Staatsmann und Schriftsteller. Wirkt in der orientalischen Geschichte als der unumstrittene "Arzt aller Ärzte" und genoß auch bis zum Beginn der modernen Medizin großes Ansehen im christlichen Abendland.
Allah-u-Akbar · Allah ist groß. [arb]
Fatihah · Eröffnungsrede aus dem Koran [arb]
Imam · Mohammedanischer Priester [arb]
Inschâllah · Mit der Hilfe Gottes. [arb]
Muhtar · Bürgermeister [trk]
Nargile · eine auf dem Boden stehende Pfeife mit langem Schlauch, der zur Inhalation zum Mund geführt wird. [trk]
Sedtschede · Gebetsteppich im Moslimen Glauben. [trk]
Selam-ün-Aleyküm · traditioneller Gruß, der mit den umgekehrten Wortreihenfolge beantwortet wird. [arb]
Subhana Rabbiayl Azim · Gesegnet seist du, Allmächtiger. [arb]