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Die Antwort ist azurblau
Ich mache es einfach wie diese Blauen Reiter, dachte Hans. Expressionismus ist ja gar nicht so schwer. Dazu muss ich nicht mal gut malen können, nur Farbgefühl, ja, Farbgefühl muss ich haben. – Habe ich Farbgefühl?
Hans runzelte die Stirn. Klar. Und was nicht ist, kann ja noch werden. Und dann brauche ich was ganz Eigenes, irgendwas ... Er überlegte. Er musste einfach sein tiefstes Gefühl in die Bilder einbringen, die Augen schließen und es fließen lassen. Und Hans schloss probeweise die Augen, hob die linke Hand, als hielte er einen Pinsel darin, ging in die Knie und machte schwungvolle Bewegungen mit dem Arm. Linkshänder waren sowieso die besseren Künstler, das hatte er gelesen, irgendwo.
„Ja“, murmelte er. „Lass es fließen ...“
Hans erstarrte inmitten der Bewegung und richtete sich auf. Sah sich peinlich berührt um, als wäre jemand in der Nähe, der ihn beobachtete. Er strich sich mit flachen Händen über die Hose, wie um sie zu glätten und ging in die Küche zum Tee kochen.
Während er an der dampfenden Tasse nippte, dachte er an sein Kunstwerk, das noch keines war. Eine Farbenexplosion – Charakter, ja, Charakter musste das Bild haben. Und die Leute würden es lieben und gar nicht wissen, warum sie es liebten. Die Genialität musste einfach zu spüren sein für den Betrachter, dann war es richtig.
Hans stellte die Tasse ab und machte sich auf den Weg in die Stadt, um den besten Laden für Künstlerbedarf aufzusuchen.
Eineinhalb Stunden später und zweihundertvierundsechzig Euro bei der Bank im Minus quälte Hans sich die Treppen zu seiner Mietwohnung hinauf. Eine Profistaffelei hatte er unter dem einen Arm, Profileinwände unter dem anderen, ein Profipinselset zwischen die Zähne geklemmt und unten in seinem klapprigen Fiat Panda warteten noch die Profiacrylfarben. Man gönnt sich ja sonst nichts, dachte er missmutig. Kreativität kostet eben. Und: Warum zur Hölle wohne ich so verdammt weit oben? Herrschaftszeiten – Die Profistaffelei eckte am Geländer an, ein Bein klappte weg und Hans klemmte sich den Finger. Hans schnaubte.
Und wenn ich schon so weit oben wohnen muss, dann wenigstens richtig. Ein Loft, dachte er. Das wärs. Ja, wenn ich erstmal reich bin, kaufe ich mir ein Loft. Und er sah sich in der Mitte eines luftigen Raumes stehen, den Pinsel erhoben, sein Genie auf der Leinwand. Durch die weit geöffnete Terrassentür wehte zart der Wind, umspielte die langen Vorhänge und –
„Herr Höfler, was machen’s denn da?“
Hans hatte gerade seine Last unter viel Getöse abgestellt und den Wohnungsschlüssel ins Schloss gesteckt, jetzt drehte er sich um zu Frau Diesel, der Nachbarin.
„Tag Frau Diesel. Tut mir leid, wenn ich laut war.“
„Ach, S’gehn wohl unter die Künstler?“
Nun hieß es, bescheiden zu sein. „Ich dachte, ich versuche mal was.“
„Nu, da bin ich aber g’spannt, Herr Höfler! Zeigen’s mir dann amoal was?“
„Wenn Sie wollen, gern. Aber erstmal muss ich mein Material wegbringen.“
Er brauchte noch fünf Minuten die Nachbarin abzuwimmeln, dann machte er sich auf, seine Profifarben aus dem Auto zu holen.
So. Er betrachtete seine brandneue Staffelei, an deren Preis er nicht zu denken wagte, aus Angst, es würde seine Kreativität hemmen, den Flow. Eine Leinwand stand vor ihm, fünfzig mal siebzig, ein wahrer Künstler kleckst nicht, und wartete darauf, eingeweiht zu werden.
Okay, dachte Hans. Geh in dich. Was siehst du? Er schloss die Augen. Was siehst du? – Blau. Ja, Blau ist die Antwort. Und er nahm die große Flasche mit der azurblauen Farbe und gab sie großzügig auf seine Mischpalette. Gut sah das aus, blau auf weiß. Ehrfürchtig nahm er seinen Profipinsel, tauchte ihn in die Flüssigkeit und hielt den linken Arm weit von sich gestreckt, schloss die Augen und ging in die Knie. Und malte. Einen Kringel. Öffnete die Augen und legte den Kopf schief. Nein, so ging das nicht. Er konnte doch keine Kringel malen, wer war er denn? Hans Höfler.
Und Hans Höfler wurde sich der Banalität seines Namens bewusst. Er stellte sich vor, wie er seine Signatur auf das fertige Bild setzen würde: H. H. Klang wie „Haha“. Wollte er, dass man über seine Bilder lachte? Nein. Ein Künstlername musste her. Er nahm sich fest vor, sich einen besseren Namen auszudenken, aber erstmal musste er das Bild hier fertigbringen. Herrgottnochmal, das konnte doch nicht so schwer sein.
Erneut setzte Hans den Pinsel an und machte aus dem Kringel einen Kreis. Und den malte er aus. Auch mit blau. Blau auf weiß, gar nicht so schlecht. Und jetzt? Er sah sich in seinem Fünfzehn-Quadratmeter-Wohnzimmer um, auf der Suche nach Inspiration. Und er wusste: In einem solchen Saustall konnte niemand Inspiration finden, das hemmte die Kreativität, den Flow. Hans wusste: Er musste raus, in die Natur, und die nächste Natur war der Balkon.
Er packte also sein Profimalset und verlegte das Atelier nach draußen. Viel besser. Es konnte weitergehen. Bisher hatte er also einen azurblauen Punkt auf weißer Leinwand. Was machte man aus einem blauen Punkt auf weißer Leinwand?
Es gab doch mal so einen Künstler, der einen Preis bekommen hat für ein weißes Bild. Einfach nur ein weißes Bild. Hans wusste nicht mehr, warum dieser Künstler den Preis bekommen hatte, er wusste auch nicht, wie der Künstler hieß, er wusste nur: Das kann ich auch. Und er malte das Bild blau.
„Kommen’s voran, Herr Höfler?“
Wieder die Frau Nachbarin, auf dem Balkon, lugte zwischen den Geranien hervor und schielte auf sein Kunstwerk.
„Is des schon fertig?“
„So gut wie. Ich muss nur noch die Signatur an den Rand setzen.“
„Ein blaues Bild? Ganz blau?“
„Gut erkannt.“ Und er blickte in ein stutziges Gesicht. „Frau Diesel, wissen Sie, es gab mal einen Künstler, Jannis Koschwitz – “ Ja, der Flow! „ – der hat nach der Wende ein weißes Bild gemalt, weil alles um ihn herum weggebrochen ist, das war der Spiegel seiner Seele, quasi. Und er hat tatsächlich einen Preis dafür bekommen. Wie meinte doch Joseph Beuys: Kunst kommt nicht nur von Können, sondern von Künden!“
„Recht haben’s. Ich muss sagen, ihr Bild ist schon toll. Mir wird ganz schwummrig, wenn ich draufschau.“
Hans schwieg, nahm einen kleineren Pinsel, tauchte ihn in weiße Farbe und setzte bedächtig eine Signatur in die linke Ecke des Bildes: J. K.
„J. K.? Wofür steht denn des?“
„Für Jannis Koschwitz.“
„S’nennen sich nach nem fremden Künstler? Ja, dürfen’s das denn überhaupt?“
„Den gibt’s doch gar nicht. Hab ich mir ausgedacht.“
„Aber vorhin meinten’s doch noch – “
„Wir Künstler sind nunmal exzentrisch.“
Die Nachbarin schwieg eine Weile. „Jetzt ham’s mich verwirrt.“
„Macht nichts, Frau Diesel.“ Und dann: „Wissen Sie, ich schenk Ihnen das Bild, wenn Sie wollen.“
„Ach Herr Höfler, des wär doch nicht nötig – “
„Doch doch.“
„Des is aber nett.“
„Mein erstes Werk widme ich Ihnen, Frau Diesel.“
„Ach.“
„Und ich nenne das Bild: Azuro.“
Diese Nacht träumte Hans Höfler sehr gut. Er stand in seinem Loft, inmitten des luftigen Raumes, den linken Arm erhoben und sein Genie auf der Leinwand. Durch die weit geöffnete Terrassentür wehte zart der Wind, umspielte die langen Vorhänge und der Himmel leuchtete azurblau.