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Die Außerirdischen
Auf dem Faltenwurf des Bettes hockte der Bewohner P. mit angewinkelten, von den Armen umschlungenen Knien und wippte hin und her, wobei das Wippen mir keineswegs als Anzeichen seiner inneren Unruhe erschien, sondern sich in stoischer Gleichmäßigkeit vollzog; wie bei einer Meditation. Seine blauen Augen strahlten unter den buschigen Brauen hervor, der Blick starrte irgendwo in die Höhe, glitt mitunter in einen Winkel des stickigen, engen Raumes ab; die schmalen Lippen lächelten fasziniert und schließlich - als er mich auf der Schwelle stehen sah - griff er etwas schwermütig, als sei er gerade aus einem Traum erwacht, nach einer Zigarette.
"Worüber lächelst du?", fragte ich.
Das Lächeln wandte sich in ein Grinsen; in ein grenzenloses Grinsen, bei dem sich die Partien des Gesichtes von seinem Zentrum entfernten. Die Grübchen spannten und verlängerten sich zu einer Falte längs der Wange, die Stirnfalten zogen die Brauen scheinbar empor und die Augen leuchteten groß. Er positionierte sich aufrecht und sagte, dass er über die Ausserirdischen lache. Ich hatte die Geschichte gehört:
Mittlerweile kam es selten vor, dass das "Augenflimmern" begann; seine Lider öffnen sich hierbei gegen seinen Willen und in einer Art Tauziehen, in dem er versucht, die Kontrolle über sie wiederzuerringen, öffnen und schließen sich die Lider im Sekundentakt. Als die Betreuer des Wohnheims ihn nach der Ursache des Augenflimmerns fragten, erklärte er es durch die Anwesenheit Außerirdischer, die sich je nach planetarischer Herkunft unterscheiden, widersprüchlicherweise aber dem Menschen in grundsätzlicher Physiognomie glichen. Sie zogen frech seine Lider hoch, manchmal mit solcher Penetranz, dass er nur mit weit geöffneten Augen, schlaflos, auf dem Bett liegend, an die Decke starrte. Diese Fremden aber erschienen nicht einzig in böser Absicht. Jedoch waren ihm die Ursachen ihres eigenartigen Verhaltens häufig schleierhaft, was sein Misstrauen nährte; so zum Beispiel das Heraufziehen der Lider oder die Tatsache, dass sie ihn als Medium missbrauchten und zeitweise seine Energien aussaugten. Ab dieser Stelle wurden die wahnhaften Phantastereien des Herrn P. allerdings zu abstrus, zu verstrickt und überschritten das Verständnis der Betreuer. Außerdem hatte er eines Tages deutlich betont, dass er gar nicht das Bekämpfen oder Verdrängen der Außerirdischen anstrebe. "Außerdem gibt es ja noch meinen Retter und Helfer.", meinte er mit seinen lachenden Augen.
"Wer ist dieser Retter und Helfer?", fragte daraufhin eine Betreuerin.
"Na, der große Magier. David Copperfield!" Er betonte dies mit solcher Selbstverständlichkeit, dass sie ihn erst irritiert mit geöffneten Mund anstarrte und hiernach das Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.
Im engeren Kreise unter uns Betreuern wurden die Vorstellungen und Phantasien des Herrn P., der meist frohgemut mit einem Lächeln jeden in seiner Umgebung ansteckte, als heiterer Wahn ettikitiert. Natürlich war er wahnsinnig; aber eingeschlossen in diesem Wahnsinn war er glücklich und lehnte die Heilung ab. Ich glaubte sogar, er schaffe es durch seine Art, die etwas Aufrichtiges, aber auch etwas Irreales hatte, Bruchstücke dieses Irrsinns in unsere Welt zu transponieren; als ob die Sicherheit, die ihm Copperfield schenkte und welche in seinem naiven Lachen Ausdruck fand, sich auf seine Umgebung übertrug, wobei sie einzig für ihn selbst galt.
Also nickte ich, lehnte mich an den braunen Türrahmen und zeigte auf den überquellenden Aschenbecher neben seinem Bett. Herr P. stieß sich behäbig und langsam von seinem Bett ab, stand groß, mit einem speckigen runden Bauch unter einem zu engen Shirt, in zu langer, schwarzer Jogginghose in der Mitte des Raums und streckte gähnend seine langen Arme. Wenn er sie hängen und baumeln ließ, ähnelte er einem Affen. Ich sah aus dem geöffneten, schmalen Fenster. Davor zog sich ein unübersehbarer, kleiner, blühender Garten in die Länge. Es war regnerisch, ein grauer Tag.
"Kann Copperfield nicht das Wetter ändern?"
Herr. P schüttelte entsetzt den Kopf. Ironie bezüglich Copperfield verstand er nicht.
"Er hat sicherlich Besseres zu tun.", sagte er bloß.
Hinter dem Garten reihten sich Wohnhäuser bis in die Stadt hinein; das Gemäuer bröckelte vereinzelt und die Farben verblassten allmählich; Rot neben Beige, daneben wieder weiß. Und zwischen all dem ragte groß und dunkel der ergraute, gotische Kirchturm empor, auf dessen rotem Schieferdach sich eine goldene Spitze in die Höhe zackte. Im ersten Augenblick verglich ich den Copperfield, der Herrn P. gehörte, mit dem von einer breiten, gläubigen Masse getragenen, allwissenden Gott der Bibel, verwarf ihn aber sogleich. Der Gedanke war mir schon öfters gekommen.
"Sie sind glücklich oder?"
Seine Hand mit den behaarten, kurzen Fingern ruhte jetzt auf meiner Schulter und verkniffen suchte er in dem Blick aus dem Fenster nach dem, was ich dort gefunden hatte. "Denke schon, jop... Was ist denn dort am Horizont. Wohin schauen Sie?"
"Ich weiß es nicht...", antwortete ich.
"Na dann... so schön ist der Anblick vor dem Fenster hier ja nicht!"
Ich lächelte ihm zu. Er sog ununterbrochen an seiner Zigarette und kratzte sich am von Bartstoppeln und kleinen Pickeln übersähten Kinn, betonte dabei, dass er mich manchmal nicht verstehe und finde, ich sei eigenartig. Ein zartes, kurzes Lächeln, so gutmütig an mich gerichtet, dass sich eine Wärme in mir ausbreitete, huschte über seine Lippen, wie ein flackerndes Kerzenlicht, das vorüber getragen wird; dann war es vorbei, ich sah dort in die zwei Augen, hinter denen sich eine eigene geschlossene Welt verbarg und wollte nun eigentlich selbst einmal, durch diese Augen blicken.