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- 31.10.2003
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Die Augenlosen
Timmy Bolter hockte auf dem kühlen Waldboden und legte das große Tabakpflanzenblatt, das er vor ein paar Minuten gepflückt hatte, auf die Ameisenstraße vor seinen Füßen. Die Tannen hinter seinem Rücken zauberten Schatten, die seinem Körper eine angenehme Kühlung bescherten. Ein leichter Windhauch blies ein paar Strähnen seines blonden Haares in sein Gesicht. Gedankenverloren wischte er sie beiseite.
Er beobachtete die wild auseinanderstobenden Ameisen, sah, wie sie aufgeregt um das Tabakblatt herumliefen. Er lächelte.
Timmy war fünf Jahre alt, und Dad hatte heute das erste Mal erlaubt, dass er mit Jo und den anderen Niggern raus aufs Feld ging. Das Leben war einfach herrlich.
Die Ameisen waren so winzig, so zerbrechlich diese zarten Körper. Timmy fühlte sich schon richtig groß.
* * *
„Wo ist der Junge, Jo?“
Jo blickte auf, und sein schwarzer Körper glänzte vom Schweiß, der in kleinen Rinnsalen über seine Haut rann und den Bund der Hose dunkel färbte.
Tchelzy, der ein Bündel Tabakpflanzen in den Händen hielt, stand vor ihm. Jo blickte sich um, sah die dicken Halme, die sich starr gegen den wolkenlosen Himmel abzeichneten. Wie Gewehre, dachte Jo kurz. Gewehre, kurz vor dem Angriff …
Doch wo war Timmy? Vor wenigen Minuten war er noch hier bei ihm auf dem Feld gewesen und vor Freude umher gesprungen, als er sein allererstes Tabakpflanzenblatt selbst abschneiden durfte.
Am Horizont flirrte die Luft. Jos Herz schlug schneller.
* * *
Die Ameisen hatten das Blatt überrannt; eine scheinbar ungeordnete Armee, wirr herumlaufend ohne erkennbarem Ziel.
Timmy versuchte, sie mit einem Stock zu dirigieren. Er bewegte ihn vorsichtig, um die zarten Wesen nicht zu zerdrücken, doch manchmal passierte es doch, dass sich eine von ihnen unter dem harten Gewicht zu einem gekräuselten Körper zusammenzog.
Ein Geräusch aus dem Wald ließ ihn aufblicken.
* * *
Jo schirmte die Augen vor der hoch stehenden Sonne ab. Die Schatten der Pflanzen waren nur noch winzig.
In einiger Entfernung konnte er Mister Blanks und zwei weitere Wachmänner ausmachen. Sie saßen auf einem Baumstamm in der Nähe des Tabakfeldes und rauchten.
Jo blickte wieder zu Tchelzy.
„Eben war er noch hier.“ Seine Stimme war nur ein Flüstern.
„Wir sollten Mister Blanks holen“, erwiderte Tchelzy noch leiser.
Jo wurde mulmig.
* * *
„Hallo, wer bist du?“
Timmy blickte auf die seltsame Gestalt, die zwischen den Bäumen hockte und sich jetzt langsam auf ihn zubewegte.
Er konnte nicht genau ausmachen, was es war. Mal sah es aus, wie ein sich bewegender Baumstamm, mal wie waberndes Laub. Es flirrte, wie die Luft am Horizont, wenn es zu heiß war, verursachte ein Brennen in den Augen. Und es kam näher.
Timmy kniff die Augen zusammen. Die Ameisen untersuchten fieberhaft den kleinen Stock in seinen Händen.
* * *
Jo blickte hektisch in alle Richtungen.
„Wir sollten Mister Blanks holen“, sagte Tchelzy noch einmal. Auch sein glänzender Brustkorb hob und senkte sich in kurzen Abständen. „Oh Jesus, Jo. Mister Blanks wird …“ Tchelzy ließ die Pflanzen unter seinem Arm fallen. „Er wird …“
„Timmy muss hier irgendwo in der Nähe sein“, flüsterte Jo.
Auch wenn Mister Blanks strikte Anweisungen von Massa Bolter bezüglich der Behandlung der Nigger bekommen hatte, so konnte sich Jo lebhaft vorstellen, wie er reagieren würde, wenn Jo den Jungen verloren hätte. Tchelzys Bedenken waren durchaus berechtigt.
„Timmy?“, rief Jo gerade so laut, dass es nicht bis hinüber zu Mister Blanks dringen konnte.
Er sah die hohen Tabakpflanzen vor sich, weit dahinter die Spitzen der Tannen des umstehenden Waldes. Sie wogen sich im leichten Wind, wie in Trance verfallene Leiber.
* * *
Timmy begann leise zu weinen.
Das seltsam flimmernde Ding hockte nun direkt vor ihm.
Eine Ameise hatte sich auf Timmys Knie verirrt, er merkte die Berührung nicht. Da war nur dieses dünne Etwas, das genau vor seinen Augen schnüffelte.
Eine große Hand streckte sich nach ihm aus, berührte seinen Mund.
Timmy schrie.
* * *
Jo stürmte los.
Der Schrei kam aus Richtung des Waldes. Von weitem hörte er Mister Blanks brüllen, sah, wie er und die anderen nach ihren Waffen griffen.
Die Tabakpflanzen peitschten seinen Körper, rissen dünne Wunden ins Fleisch. Jo rannte weiter, doch instinktiv wusste er, dass es zu spät war.
Das Tabakfeld schien sich ins Unendliche zu erstrecken. Jo schlug die Halme beiseite, seine nackten Füße gruben sich durch den harten Lehm. Er spuckte zähen Staub, der sich auf seiner Zunge sammelte. Die mannshohen Pflanzen teilten sich ein letztes Mal; er hatte das Ende des Feldes erreicht.
Als erstes sah er die vorderste Front der Tannen – drohend, wie eine alles abschirmende Mauer – dann Timmys kleinen Körper. Er sah dieses Ding, das über ihm hockte.
Jo schrie. Das Ding riss ruckartig den Kopf in seine Richtung, und ein fauchendes Geräusch entwich dem schnabelähnlichen Maul. Jo erstarrte. Ein Flackern überzog den Körper des Wesens, und im selben Moment war es verschwunden.
Über Jos Lippen drang ein leises Wimmern, während er langsam auf den kleinen Körper zuging; mit ausgestreckten Armen lag dieser auf dem Waldboden, wie der gekreuzigte Sohn Gottes.
Schritt für Schritt, so unendlich langsam.
Vor Timmys Leib blieb er stehen, sah die roten Abdrücke an dem kleinen Hals, und er sah die leeren Augenhöhlen.
Er fiel auf die Knie, nahm den Körper hoch, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er drückte Timmy an seine Brust, diesen leichten Körper, so winzig, so … zerbrechlich. Jo riss den Kopf in den Nacken und schrie alles Entsetzen, welches ihn in diesem Moment zu zerreißen drohte, in den klaren Himmel.
1
„Verdammte Scheiße!“
Jones Bolter sprang so schnell von seinem Stuhl auf, dass dieser polternd nach hinten fiel. Auch die kleine Mary war von dem heulenden Schrei, der von draußen hereinplatzte, zusammengezuckt und starrte ängstlich in das Gesicht ihrer Mutter.
Ihr Vater riss die Tür auf und stürmte hinaus, immer wieder schreiend: „Nein! Was hast du getan? Nein!“
„Bleib sitzen!“, befahl Marys Mutter und rannte ihrem Mann hinterher.
Starr blickte die Kleine zu der offenen Tür, sah die Veranda im gleißenden Sonnenlicht.
Was war passiert? Der entsetzliche Schrei war eindeutig von Jo gekommen. Aber warum hatte er so geschrieen? Sie hörte weitere, aufgeregte Stimmen und immer wieder Dads „Nein! Nein!“. Und dann den Schrei ihrer Mutter.
Ein dicker Kloß breitete sich in ihrem Hals aus, drohte für einen Moment sie zu ersticken. Sie schluckte heftig, überlegte, ob sie zu ihrem Bett laufen und sich die Decke so weit über den Kopf ziehen sollte, dass sie nichts mehr von diesen Schreien hören konnte. Einer ihrer geflochtenen Zöpfe kitzelte sie an der Schulter, sie nahm ihn unbewusst und steckte das Ende in den Mund. Dann rannte sie zum Fenster.
Als erstes sah sie den Pulk Männer. Mister Blanks, der Oberaufseher, und zwei seiner Leute hatten Jo an den Armen gepackt. Jo schrie. Er blickte aus seinem verheulten Gesicht hinunter zu Dad, der im blassen Staub vor etwas kniete.
„Massa, ich war es nicht! Oh Jesus. Massa, Jo hat es nicht getan!“
Mister Blanks, der Aufseher, schlug Jo in den Magen, und sein Heulen verstummte.
Jones Bolter sprang auf und rannte zurück zum Haus. Mary erkannte den gebeugten Rücken ihrer Mutter, die über einen kleinen Körper gebeugt war.
„Ich war es nicht, Massa!“
„Halts Maul, Nigger!“ Wieder bohrte sich die Faust von Mister Blanks in Jos Magen.
Mary zuckte zusammen. Warum tat Mister Blanks das? Dad hatte doch verboten, die Nigger ohne Grund zu schlagen. Warum tat er es trotzdem?
Ihr Dad stürmte herein, rannte an ihr vorbei auf den Waffenschrank zu.
„Dad?“ Ihre Stimme war kaum hörbar. Was hatte er vor?
Sie sah, wie er Großvaters lange Schrotflinte hervorholte, den Doppellauf hektisch nach unten klappte. Sein Gesicht war nass, die Hände zitterten, als er die dicken Patronen in den Lauf steckte.
Vorsichtig ging sie auf ihn zu. „Dad?“
Für einen winzigen Augenblick schien sie ihn aus seinem apathischen Zustand befreit zu haben, und er sah sie an. Jones Bolter blickte auf das kleine, zehnjährige Mädchen. Er sah die langen, geflochtenen Zöpfe, von denen einer eine nasse Spitze hatte, die einen schillernden Glanz aufwies. Marys Augen waren weit geöffnet, schauten ihn ängstlich und bittend an.
Sie spürte, dass ihr Vater zu zweifeln schien, einen winzigen Augenblick lang nur, dann verwandelte sich sein Blick und er stieß sie zur Seite. „Bleib hier drin, Mary.“
Das war alles, was er gepresst hervor brachte. Mit einem Knacken ließ er den Lauf einrasten und stürmte wieder hinaus.
„Dad, tu es nicht“, rief ihm Mary hinterher, viel zu leise, unhörbar.
Sie rannte zurück zum Fenster. Ihr Vater ging mit großen Schritten auf Jo zu, die Schrotflinte an die Schulter gepresst.
In der Nähe der Niggerschuppen am Ende des Anwesens entdeckte sie weitere schwarze Arbeiter ihres Dads. Da stand der alte Mack, den alle nur Daddy-Mack nannten, und hielt seine Frau in den Armen. Jo war Daddy-Macks Sohn.
„Massa, ich hab es nicht getan.“ Jo wimmerte in den Lauf der Schrotflinte hinein. „Es waren die Augenlosen, Massa. Es waren die Augenlosen!“
„Ich habe ihn dir anvertraut“, zischte Jones Bolter.
Mary sah durch das leicht schlierige Fenster, wie sein Rücken bebte. Sie sah, dass er noch etwas sagen wollte. Sein Finger, der zitternd am Abzug lag, schien immer größer zu werden. „Dad ...“ Die Scheibe beschlug.
Mary schloss die Augen.
Der doppelte Knall war wie einer. Mary erschrak nicht, und als sie ihre Augen wieder öffnete, der Schönheit des Nichtsehens entfloh, war Jos Kopf bis zum Unterkiefer verschwunden. Der schwarze Körper sackte auf die Knie, bevor er nach vorne kippte und einen zähflüssigen Brei auf dem staubigen Boden verteilte.
Die beiden Männer, die ihn festgehalten hatten, wischten mit den Ärmeln über ihr Gesicht, und Mister Blanks befreite sein Hemd von klebrigen Hirnspritzern. Jones Bolter stand immer noch da, die Waffe fest an seine Schulter gepresst, während der Brei, der Jos Kopf entwich, seine Stiefelspitzen umspülte.
Marys Augen begannen zu brennen.
Sie sah Ma, die Timmy in den Armen hielt. Seine Arme hingen schlaff herab, genauso wie sein Kopf. Die blutroten, leeren Augenhöhlen hatten Ähnlichkeit mit aufgerissenen Mündern, erstarrt zu einem unhörbaren Schrei.
Wieder schloss sie die Augen, und das Brennen verschwand.
2
Mary wurde von ihrer Mutter früh zu Bett gebracht.
Die Zimmerdecke, auf die Mary unentwegt starrte, schien heute so unendlich weit weg zu sein. Im Nebenzimmer hörte sie ihren Vater schluchzen. Den ganzen Tag über hatte er nichts mehr gesagt, hatte lediglich auf seinem Stuhl gesessen und geweint; ihre Mutter hatte auch geweint.
Mary selbst nicht. Irgendwie konnte sie es nicht, obwohl sie heute zwei geliebte Menschen verloren hatte. Ihren Bruder Timmy und Jo. Sie hatte Jo gemocht, und sie glaubte, ihr Dad auch. Er hatte einmal gesagt, dass Jo sein Lieblingsnigger sei.
Das Bolter-Anwesen war das einzige im ganzen Umkreis, das seine schwarzen Arbeiter nicht körperlich bestrafte. Das wussten auch die Nigger, und Mary war sich sicher, dass sie gern für Daddy arbeiteten. Er hatte irgendwann einmal etwas von Reformen gesagt, doch sie wusste nicht, was damit gemeint war.
Doch heute hatte Dad seinen Lieblingsnigger erschossen. Mary konnte sich nicht vorstellen, dass er wirklich geglaubt hatte, Jo hätte Timmy umgebracht. So etwas hätte Jo niemals getan, und das wusste auch Dad. Deshalb hatte er Jo auch heute zum ersten Mal erlaubt, Timmy mit hinaus auf die Felder zu nehmen. Timmy war richtig stolz gewesen. Mit fünf Jahren durfte er schon mit den großen Arbeitern hinaus.
„Bald bin ich auch ein großer Feldarbeiter, Mary“, hatte Timmy heute früh zu ihr gesagt. Er hatte Jos große Hand gefasst und zu ihm aufgesehen. „Stimmt’s, Jo?“
Jo hatte Timmy hochgenommen und auf seine breiten Schultern gesetzt. „Der kleine Massa ist schon ganz groß“, hatte er gerufen, und sie waren lachend und tanzend den staubigen Weg hinabgelaufen.
Jetzt lag Timmy auf dem großen Tisch des Gästezimmers, bedeckt mit einem weißen Leinen. Er würde niemals mehr groß werden.
Paddy Dankins, der Knochenflicker des Anwesens, wie Dad immer sagte, hatte Timmy auf den Tisch gelegt, nachdem er seine Augenhöhlen mit einem Verband bedeckt hatte. Er hatte daraufhin seinen Sohn nach Iowa Creek geschickt, um für morgen den Reverend zu bestellen. Das alles war jetzt gut fünf Stunden her.
Mary merkte, wie ihr Hals trocken wurde. Langsam stand sie auf und ging zur Tür, sah ihren Vater, der noch immer auf dem Stuhl hockte und das Gesicht tief in seine Arme vergraben hatte. Ma hatte ihre Hand auf seinen bebenden Rücken gelegt und streichelte mit der anderen seine Haare. In der Ecke, neben dem Eingang zum Gästezimmer, lehnte die Schrotflinte ihres Großvaters.
„Ich geh noch etwas raus, Ma. Ist das okay?“
Misses Bolter sah ihre Tochter aus geröteten Augen an. „Geh“, flüsterte sie und drehte sich wieder um. Dann leise: „Bleib in der Nähe.“
Mary blickte sie an, sah ihren Rücken und hoffte gleichzeitig, dass sie noch etwas sagen würde. Vielleicht auch, dass Dad noch etwas sagen würde, dass er seine Arme öffnen und sie drücken würde; dass er sagte: „Bleib, meine Mary. Bitte geh nicht. Ich habe doch nur noch dich.“
Aber er schwieg und beweinte Timmy.
3
Als die kühle Nachtluft ihr Gesicht berührte, merkte Mary zum ersten Mal, dass ihr Tränen die Wangen herunterliefen. Sie blickte zum Himmel und sah die winzigen Punkte, welche die Hoffnung in ihr aufkeimen ließen, Timmy und Jo dort oben zu sehen; zu sehen, wie sie lachten und tanzten. Und gleichzeitig wusste sie, dass Jo dort oben noch seinen Kopf und Timmy seine Augen hatte.
Marys Füße glitten über den klammen Staub vor der Veranda; jenen Staub, durch den Timmy heute Morgen noch gestapft war und der sich am Nachmittag mit Jos Blut vermischt hatte.
In der Nähe der Niggerschuppen erkannte sie ein schwaches Licht. Die Bolters besaßen viele dieser Holzbauten, in denen die Arbeiter wohnten, doch bis auf einen, hatten sich alle mit dem Dunkel der Nacht vereint. Das Flackern auf den Brettern wirkte gespenstisch, und die tanzenden Schatten wogen wie fremdartige Wesen, die miteinander verschmolzen. Mary schauderte ein wenig, als sie langsam darauf zuging.
Nachdem sie kurz darauf den Schuppen erreicht hatte, erkannte sie ein kleines Feuer, vor dem eine gekrümmte Gestalt hockte. Mary wollte umkehren, als die Gestalt den Kopf wandte und zu ihr herüberblickte. Es war Daddy-Mack, und der Schein der Flammen ließ seine großen Augen aufleuchten.
„Was tust du denn so spät noch hier, kleine Misses?“
Mary trat ein Stück näher heran und die Wärme des kleinen Feuers erfasste ihren Körper. Die dunklen Wangen des alten Mannes glänzten.
„Ich konnte nicht schlafen“, flüsterte sie.
„Setz dich zu mir.“ Seine Hand griff unter seinen Po, und er holte ein plattes Kissen hervor. „Hier, kleine Misses, du kannst dich darauf setzen.“
Daddy-Mack nannte Mary immer kleine Misses. Sie fand das lustig, obwohl sie ihm schon oft gesagt hatte, er könne sie durchaus Mary nennen. „Aber du bist doch eine kleine Misses“, hat er dann immer gesagt, und sie haben gelacht.
„Kein schöner Tag heute.“ Er blickte in die Flammen.
„Es tut mir Leid, Daddy-Mack.“
„Das weiß ich, kleine Misses. Das weiß ich.“
Sie schwiegen eine ganze Weile, während die glühenden Scheite von kleinen Flammen umschlossen wurden.
„Wie geht es deiner Frau?“, fragte Mary, ohne aufzublicken.
„Wie geht es deinem Dad, kleine Misses?“
„Nicht gut.“
„Siehst du? Ich glaube, an einem Tag wie diesem, geht es niemandem gut.“
Daddy-Mack brach einen Ast entzwei und warf ihn ins Feuer. Dann wischte er mit der Hand über seine Augen.
„Ich vermisse Jo auch“, flüsterte Mary in die Flammen. Sie spürte, wie ihre Augen glasig wurden. Es waren Tränen der Scham.
„Du hast heute deinen Bruder verloren, kleine Misses.“
Sie blickte in die Augen des alten Mannes, wünschte sich, ebenfalls so tapfer zu sein.
„Glaubst du, Daddy-Mack, Timmy und Jo sind dort oben im Himmel zusammen?“
Seine Augen schienen zu lächeln. „Da bin ich ganz sicher, kleine Misses. Da bin ich ganz sicher.“
„Glaubst du auch, dass Jo auf Timmy aufpassen wird?“ Jetzt spürte Mary die Träne, die sich einen Weg über ihre Wange bahnte. Ein Holzscheit knackte. „Ich meine, Timmy hat ja sonst niemanden mehr.“
Sie sah, dass der alte Mann ihre Hand berühren wollte, doch stattdessen nahm er wieder einen Ast und ließ ihn durch die schwieligen Finger gleiten.
„Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, kleine Misses. Jo wird auf deinen Bruder aufpassen. Timmy wird dort oben nicht alleine sein. Niemand ist dort allein.“ Dann ganz leise an die Flammen gewandt: „Nicht dort oben.“
„Ich wünschte mir, das wäre heute nicht passiert, Daddy-Mack.“
„Es gibt Dinge, die sind vorherbestimmt, kleine Misses. Und diese Dinge kann niemand ändern. Wenn Gott die Menschen dort oben braucht, dann holt er sie zu sich. Sie müssen ihm dann helfen, weißt du?“
„Vielleicht, wenn er umziehen möchte.“
„Ja, durchaus. Er braucht dann Menschen, die ihm helfen, die schweren Kisten zu tragen.“ Daddy-Mack sah sie an und lächelte ein wenig. „Und mein Jo kann ordentlich zupacken.“
Mary wischte die Träne, der keine weiteren folgten, von ihrem Gesicht. „Aber Timmy war noch nicht sehr stark, Daddy-Mack. Er war ja noch ganz klein.“
„Da hast du natürlich Recht. Aber im Himmel ist jeder ganz stark.“
„Du meinst, Timmy kann sogar schwere Kisten heben?“
Wieder lächelte Daddy-Mack. Und diesmal konnte Mary sogar seine weißen Zähne sehen. „Er könnte dort oben sogar sehr schwere Kisten heben, kleine Misses.“
„Da wird sich Timmy aber freuen. Er wollte doch schon immer ganz stark sein. Und Jo wird sich freuen, dass er eine so große Hilfe hat. Aber ...“ Sie stockte, sah Timmy in den Armen ihrer Mutter, sah die aufgerissenen Münder, die einmal Augen gewesen waren, in seinem Gesicht.
„Er kann dort oben auch wieder sehen, kleine Misses.“
Sie blickte in Daddy-Macks Augen. Sie glänzten, und die Wärme, die sie ausstrahlten, übertraf in diesem Moment selbst die kleinen Flammen des Feuers. Woher wusste der alte Mann, was sie gedacht hatte?
„Ma hat einmal erzählt, die Augen sind die Türen zur Seele. Und wenn Timmy jetzt keine Seele mehr hat, dann kommt er doch auch nicht in den Himmel.“
„Wenn jemand stirbt, kleine Misses, dann ist es die Seele, die zu Gott geht. Der Körper bleibt hier unten auf der Erde.“ Daddy-Mack rückte ein Stück näher. „Und wenn die Seele bei Gott ist, gibt er ihr einen neuen Körper. Einen Körper, der ganz stark ist und der Augen hat.“
Mary lächelte. „Danke, Daddy-Mack.“
Wieder schwiegen sie eine ganze Weile. In einiger Entfernung konnte Mary im fahlen Mondlicht zwei Wachmänner ausmachen, die sich zu unterhalten schienen. Der eine deutete in Richtung der Baracken der schwarzen Arbeiter, dann trennten sie sich.
„Du, Daddy-Mack?“
„Ja, kleine Misses?“
„Meinst du, Gott hat zu Dad gesagt, dass er Jo erschießen soll? Weil er ihn im Himmel braucht? Vielleicht, damit Timmy nicht alleine ist?“
Daddy-Mack sah ihr tief in die Augen. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Der kleine Ast in seinen Händen brach, und der alte Mann blickte schweigend zum Feuer und warf die Stücke hinein.
„Glaubst du, das hat Gott getan, Daddy-Mack?“
Er sprach leise, den Blick nicht von den Flammen lassend. „Wenn Gott die Menschen zu sich ruft, dann tut er das auf unterschiedlichste Weise. Wir Lebenden können das nicht nachvollziehen. Aber er tut es.“
In diesem Moment hallte ein lauter Schrei durch die Nacht, und Mary und Daddy-Mack blickten erschrocken hinüber zum Haus.
Jones Bolter stand auf der Veranda und schrie in den Himmel, warf die Arme vors Gesicht und fiel auf seine Knie. Seine Frau trat durch die Tür, hockte sich neben ihn.
Mary wollte aufspringen, hinüberrennen zu diesem vor Gram geschwächten Mann, doch Daddy-Mack fasste ihre Schulter.
„Deine Ma wird sich um ihn kümmern, kleine Misses.“
Sie blickte in seine Augen, sah, dass er noch etwas hinzufügen wollte, doch seine bebenden Lippen blieben verschlossen.
Wieder knackte ein Ast im Feuer. Ein winziger Funken sprang daraus hervor und verglimmte im Staub. Als Mary wieder zum Haus blickte, waren ihre Mutter und ihr Vater verschwunden.
Daddy-Mack nahm einen dicken Ast und legte ihn behutsam in die Flammen.
„Bist du sehr böse auf Dad?“, fragte Mary leise, und hoffte gleichzeitig, er würde nicht antworten.
„Dein Dad hat das getan, was er für richtig hielt, kleine Misses.“
„Aber er hat Jo erschossen.“
Daddy-Mack schien mit den Tränen zu ringen. „Er hat seinen Sohn verloren.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Es ist nicht immer einfach im Leben, die richtige Entscheidung zu treffen. Gute Entscheidungen brauchen viel Bedenkzeit. Verstehst du das, kleine Misses?“
„Nicht so ganz, Daddy-Mack.“
„Du wirst dich oft in deinem Leben entscheiden müssen, kleine Misses. Das Leben besteht aus fortwährenden Entscheidungen. Viele davon triffst du unbewusst. Du tust es einfach. Doch zuvor hast du dich entschieden, genau dieses zu tun. Du bist doch gerade hier herausgekommen, als du das Feuer gesehen hast.“
Mary nickte stumm.
„Genauso gut hättest du auf der Veranda sitzen bleiben können. Du hast dich also entschieden, lieber hierher zu kommen.“
„Das stimmt, Daddy-Mack. Ich habe nicht groß drüber nachgedacht.“
„Siehst du, kleine Misses? Hättest du vorher lange nachgedacht, wärst du vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, zurück ins Haus zu gehen. Hier draußen ist es nämlich recht kühl, und du könntest dich erkälten. Du siehst also, gute Entscheidungen brauchen viel Bedenkzeit.“
„Jetzt habe ich es verstanden, Daddy-Mack. Ich werde immer lange zu überlegen, bevor ich etwas tue.“ Sie umfasste ihre Füße, die inzwischen recht kalt waren und lauschte ihren Gedanken, die nicht fassbar durch ihren Kopf kreisten. Warum hat Dad Jo erschossen? Warum hat er nicht zuvor lange nachgedacht? Hätte er es dann auch noch getan?
Sie blickte hilflos zu Daddy-Mack, sah das Tanzen der Flammen in seinen Augen. Ein Funkenregen platzte aus dem Feuer hervor, und für einen winzigen Augenblick erkannte Mary in ihm Jo, wie er mit weit aufgerissenen Augen in die Flinte ihres Großvaters starrte. Sie hörte seine Worte.
„Was sind die Augenlosen, Daddy-Mack?“, fragte sie leise.
4
Perry Flint hockte neben den hohen Tabakpflanzen und blickte hinüber zum Waldrand, in dessen Nähe er vor knapp fünf Minuten eine Bewegung ausgemacht hatte. Doch so sehr er sich auch bemühte, zwischen den Schatten, die sich scheinbar in ihrer Dunkelheit zu übertreffen versuchten, etwas zu erkennen, sah er nichts. Nichts, außer diesen Schatten.
Er hatte Thomkins rüber zum Anwesen geschickt, um Mister Blanks zu holen. Dieser würde mit den Hunden kommen; und wer immer sich da im Unterholz versteckt hielt, die Hunde würden ihn finden.
Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, und die Schatten verschmolzen zu einem einheitlichen Schwarz. Flint presste sein Gewehr dichter an die Schulter. Derweil begann diese zu schmerzen, doch er lockerte den Druck nicht. Sobald er dort drüben auch nur die geringste Bewegung wahrnahm, würde er abdrücken. Sein Grinsen wirkte maskenhaft.
Flint hatte schon überlegt, wer es sein könnte. Auf keinen Fall war es keiner der Nigger, soviel stand fest. Mister Blanks, Thomkins und er hatten sie nach dem bedauerlichen Unfall mit dem kleinen Jungen alle zurück zum Anwesen getrieben.
Nachdem dieser Nigger dem kleinen Bolter-Jungen die Augen ausgestochen und Mister Bolter ihm dafür den Schädel weggeblasen hatte, befahl Mister Blanks, die Gegend genau im Auge zu behalten. Und das hatten sie getan. Wahrhaftig.
Die Bewachung des Anwesens wurde sowieso vor einem viertel Jahr verstärkt, nachdem dieser Sklavenbefreier Brown das Lager bei Harpers Ferry überfallen und damit hier und da weitere Niggeraufstände ausgelöst hatte. Zwar befürchtete Mister Bolter keine Aufstände seiner eigenen Nigger – die wurden hier viel zu gut behandelt – aber man konnte ja nie wissen, was von außen kam.
Gut, nach dem heutigen Tag würde Flint auch nicht mehr seine Hand dafür ins Feuer legen, dass es innerhalb des Anwesens ruhig bliebe. Schließlich war Mister Bolter nicht gerade zimperlich im Umgang mit seiner Schrotflinte gewesen.
Und wenn dann dieser Niggerfreund Lincoln irgendwann mal tatsächlich Präsident wird … Flint wollte gar nicht weiter darüber nachdenken.
Für einen winzigen Augenblick riss die Wolkenfront auf, und er hielt den Atem an. Über den Lauf seines Gewehres erspähte er die vordersten Baumreihen, die von den langen Schatten der Tabakpflanzen sanft berührt wurden. Das gähnende Schwarz dazwischen schien auf ihn zuzukriechen.
Irgendetwas stimmte mit einem der Bäume nicht. Flint hatte das Gefühl, als wäre er nicht echt; so als wäre er mit einer flimmernden Schicht überzogen. Er kniff die Augen zusammen. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht, die Baumrinde bewegte sich. Aber wie war so etwas möglich?
Sein Herz stockte im selben Moment, als sich sein Zeigefinger ruckartig krümmte. Gleichzeitig mit dem ohrenbetäubenden Knall platzte die Rinde in einer gewaltigen Explosion auseinander. Flint griff nach dem Pulversäckchen. Seine Finger zitterten, als er die spitze Öffnung in den Lauf steckte. Er blickte nach vorne, sah die aufgeplatzte Rinde des Baumes, die wie eine zerrissene Wunde aus dem Stamm hervorragte. Sein Blick fiel auf den darunterliegenden Waldboden - Flint schluckte und hielt in seiner Bewegung inne -, denn dieser bewegte sich jetzt ebenfalls. Wellenähnlich, wie eine Qualle, kroch er auf ihn zu.
Flint spürte, wie das Pulver über seine Finger rann und fluchte leise. Wo waren die verdammten Kugeln? Vorsichtig robbte er zurück, und kalter Lehm drang durch seinen Hosenbund, bahnte sich einen Weg in seine Arschritze. Er registrierte es nicht. Sein Blick ließ nicht von dem Waldboden ab. Die Halme der Tabakpflanzen stießen sanft an seinen Rücken, und Flint war kurz davor aufzuschreien. Nichts Schlimmes! Da drüben ist definitiv nichts Schlimmes!
Schweiß rann von seiner Stirn Richtung Augen, und hektisch wischte er mit dem Ärmel darüber. Wo waren diese Kugeln? Seine Finger durchwühlten die Tasche, während sich der flackernde Boden näherte.
Ave Maria! Was zum Teufel ist das? Flint stieß sich mit den Stiefeln weiter ins Tabakfeld hinein. Seine Lippen bebten, und Speichel rann zwischen seinen Mundwinkeln hinab wie bei einem wimmernden Baby. Wo, verdammt, blieben Thomkins und Mister Blanks?
Seine Finger erfassten das runde Blei in seiner Hosentasche. Die Kugeln! Schnell drehte er den langen Lauf der Waffe in seine Richtung, steckte sie hinein, als ein kurzer Ruck sein Bein durchfuhr. Flint erstarrte in seiner Bewegung.
Vor seinen Füßen hatte sich etwas aufgebaut. Langsam erhob es sich vom Boden, wuchs aus ihm heraus.
Flint stellte mir Entsetzen fest, dass es der Boden war, der vor ihm in die Höhe wuchs. Ein wirres Flackern brannte in seinen Augen, bestehend aus Tabakpflanzen und Lehm.
Flint riss das Bein hoch, und jetzt erkannte er, dass sein Stiefel unterhalb des Knöchels endete, sah seinen Fuß etwas abseits neben diesem Ding, das da vor ihm stand, im Staub liegen. In diesem Moment der Erkenntnis setzte der Schmerz ein.
Flints Kreischen erfüllte die Nacht, während der blutende Stumpf seinen Lebenssaft gegen die Kreatur spuckte. Sogleich nahm der Körper an dieser Stelle eine dunkelrote Farbe an. Flint kreischte weiter. Die Farbe des Wesens wechselte erneut, sah jetzt aus, wie eine Tabakpflanze, die ihn angriff.
Flint spürte, wie seine Schulter zu Boden gedrückt wurde, ein harter Griff um seinen Hals, der ihm augenblicklich die Luft nahm. Zierliche Punkte entstanden vor seinen Augen, vollführten einen glitzernden Tanz in einem stetig zunehmenden Schwarz.
Flint versuchte das Ding von seinem Hals zu reißen - seine Hände erfassten etwas Raues, Ledriges -, doch immer fester schloss sich der Griff um seine Kehle. Flints Kräfte ließen nach, er wollte schreien, doch er schaffte es nicht einmal, die dafür notwendige Luft in die Lungen zu saugen. Dies war das Ende.
Von weit her vernahm er das Gebell von Hunden, hörte Schreie – Mister Blanks Schreie.
Das Tabakwesen fuhr herum.
Flint erkannte schemenhaft ein Seil, das sich um einen imaginären Hals schlang und den Körper über ihn zurückriss. Alles war dumpf, so unendlich weit weg. Wieder Schreie. Waren es seine eigenen?
Thomkins tauchte mit einer langen Stange in den Händen auf; da war einer der Bluthunde, der sich in etwas verbissen hatte. Mister Blanks, ebenfalls mit einer langen Stange. Flint konnte alles genau erkennen, nur die Geräusche waren so leise.
Der andere Hund hatte einen, in einem zerrissenen Stiefel steckenden Fuß im Maul und wirbelte seinen Kopf wirr hin und her.
Flint schloss die Augen.
5
„Was sind die Augenlosen, Daddy-Mack?“, fragte Mary noch einmal.
Der Alte sah sie an, und ein flüchtiges Zucken huschte über seine Mundwinkel. „Hast du dich gerade entschieden, mir diese Frage zu stellen, kleine Misses?“ Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Klang. War es Besorgnis?
„Jo hat gesagt, dass die Augenlosen meinen Bruder getötet haben.“
„Denke daran, was ich dir gesagt habe, kleine Misses. Eine gute Entscheidung braucht viel Bedenkzeit.“
Mary sah ihm tief in die Augen. Wieder konnte sie ihre Gedanken nicht richtig fassen, sie schienen an der Schädeldecke abzuprallen und wie aufgeschreckte Hühner in alle Richtungen zu stoben. Es war ein erstickendes Gefühl der Hilflosigkeit, das sich in ihrem Innern ausbreitete.
„Was hat Jo denn damit gemeint? Haben die Augenlosen meinen Bruder getötet?“
„Wenn Jo das sagt, dann war es auch so.“ Er schwieg einen Moment lang und Mary merkte, wie er mit den Worten rang.
„Sie haben es schon lange nicht mehr getan“, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte.
„Aber was sind denn die Augenlosen?“
„Niemand weiß es genau, kleine Misses. Es gibt nur Erzählungen. Die einen sagen, sie seien seinerzeit irgendwie mit rüber gekommen, als die ersten Afrikaner hergebracht wurden. Andere sagen, sie seien schon immer hier gewesen. Tief in den Wäldern.“
Marys Herz schlug schneller. „Aber wie sehen sie denn aus?“
„Danke Gott, dass du noch keinen gesehen hast, kleine Misses. Ich auch noch nicht. Sie sollen keine Augen haben. Aber ...“ Er stockte. „Mein Jo hätte deinem Bruder bestimmt geholfen, wenn er gekonnt hätte.“
„Das denke ich auch, Daddy-Mack. Timmy hat Jo sehr gemocht. So wie ich.“
Jetzt lächelte der alte Mann. „Das weiß ich. Aber wenn die Augenlosen den Wald verlassen, dann geht alles sehr, sehr schnell.“
Ein klammes Gefühl breitete sich auf Marys Haut aus. Sie zitterte.
Daddy-Mack sah sie eindringlich an. Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang, als er fortfuhr: „Sie haben keine Augen, kleine Misses. Nur große Ohren, mit denen sie jedes noch so winzige Geräusch hören können. Wie Fledermäuse.“
Mary hatte noch nie eine Fledermaus gesehen, doch waren sie ihr von einem Bild aus der Schule her bekannt.
„Ich will dir keine Angst machen, kleine Misses. Es ist besser, wenn du nicht weiter fragst.“
Sie legte ihre Hand auf Daddy-Macks Arm, und er zuckte zurück.
„Kleine Misses, du weißt, dass ein Nigger keine weißen Frauen berühren darf.“
Sie rückte näher an ihn heran. „Dad würde nie etwas dagegen sagen. Das weißt du. Und ich habe auch keine Angst, wenn du mir von den Augenlosen erzählst. Ich möchte nur wissen, wie Timmy gestorben ist.“
Der alte Mann lächelte. „Nicht böse sein, kleine Misses. Ich weiß, dass dein Dad ein sehr guter Massa ist. Ich habe schon andere kennen gelernt.“
„Haben die Augenlosen meinem Bruder die Augen ausgepiekst?“
Jetzt verdunkelte sich der Blick ihres Gegenübers wieder. „Sie essen sie, kleine Misses“, sagte er leise.
Mary starrte ihn an und sie spürte, wie der kalte Schauer auf ihrer Haut immer größer wurde.
„Sie ... sie essen die Augen?“ Wieder sah sie Timmy in den Armen ihrer Mutter, wieder sah sie die roten Höhlen in seinem Gesicht.
„Sie haben ganz lange, spitze Münder mit kleinen Öffnungen. Damit passen sie genau hier rein.“ Daddy-Mack legte einen Finger auf sein Augenlid. „So sagt man. Früher haben sie oft Menschen angefallen, meistens Nigger, die auf dem Feld arbeiteten. Ich war noch ein kleiner Junge, als sie mal einen Angefallenen auf die Farm zurückbrachten. Damals war ich noch nicht hier.“
Jetzt ließ er ihre Hand auf seinem Arm ruhen, und Mary war froh, seine Wärme zu spüren. „Der alte Massa ließ ihn später töten, weil er nicht mehr von Nutzen war. Aber als sie ihn zurückbrachten, da hat er noch gelebt. Er sah aus wie dein Bruder heute, kleine Misses. Und irgendwann haben sie dann Jagd auf die Augenlosen gemacht. Man hat keinen gefunden, denn sie sehen immer aus, wie ihre Umgebung, sagt man. Niemand kann sie nicht sehen. Verstehst du das, kleine Misses?“
„Sie können ihre Farbe ändern?“
„Ja, kleine Misses, sie passen ihre Hautfarbe der Umgebung an. Deshalb hat sie auch noch niemand gesehen.“
„Wie ein Chamäleon!“, rief Mary.
„Ja, wie ein Chamäleon. Nur noch viel besser.“
„Aber wenn sie doch noch niemand gesehen hat, Daddy-Mack, woher weißt du dann, wie sie aussehen?“
Der alte Mann warf erneut einen Holzscheit in das Feuer, sah danach Mary an und lächelte. „Ich bin immer wieder erstaunt, kleine Misses. Ich bin immer wieder erstaunt. Du hast Recht, es muss Menschen gegeben haben, die sie gesehen haben. Und diese erzählten es dann weiter.“
Daddy-Mack nahm ihre Hand und drückte sie.
„Es tut mir leid, dass du so viel mitgemacht hast, Daddy-Mack.“
„Du bist schon sehr erwachsen für dein Alter, kleine Misses.“
Mary blickte stolz auf den alten Mann. Manchmal erinnerte er sie an ihren Großvater, obwohl sie nur noch recht wenig von ihm wusste.
„Sag mal, Daddy-Mack, warum haben die Augenlosen eigentlich keine Augen?“
Der Alte schwieg eine ganze Weile, die Schatten des Feuers flackerten in seinem Gesicht und verliehen ihm ein geheimnisvolles Antlitz. „Weißt du, kleine Misses, vielleicht ist es manchmal besser, nichts sehen zu können.“
6
Schüsse! Das Gebell der Bluthunde.
Mary fuhr aus dem Schlaf hoch, sah ihren Vater, der in seine Hose sprang. Ihre Mutter hockte auf der Bettkante, zitterte am ganzen Leib.
„Wir haben einen, Mister Bolter!“, dröhnte es von draußen herein. Wieder das Gekläffe der Hunde.
Mary kroch zu ihrer Mutter hinüber und drückte sich an ihren warmen Körper. Die Frau mit den dicken Ringen unter den Augen hielt den Kopf ihrer Tochter ganz fest. „Schhhh, kleine Mary. Hab keine Angst.“ Dann standen sie auf und gingen langsam zur Tür. Das Geschrei wurde lauter, das Bellen kräftiger.
Wenig später standen sie im Türrahmen, und Mary presste sich fester an ihre Mutter. Da waren Fackeln und viele Männer.
Blanks, der Aufseher, kam auf Marys Vater zugerannt. „Wir haben einen, Mister Bolter“, keuchte er und deutete hektisch auf den Pulk der Männer. „Flint hat’s erwischt“, fügte er hinzu.
Zwei Arbeiter, die einen anderen stützten, traten ins Licht. Die Beine des Gestützten schleiften über dem Boden, sein linker Fuß war verschwunden und ein blutdurchtränkter Verband war mit einer dicken Schicht Staub überzogen.
Die anderen hatten lange Stangen in der Hand. Es waren Niggerstangen, wie Mister Bolter es seiner kleinen Tochter einmal erklärt hatte.
Ein langer Strick lief an dem Schaft entlang und endete in einer Schlaufe, die man stramm ziehen konnte. Diese wurde damals den Niggern um den Hals gelegt, wenn sie wild wurden, so konnte man sie sich mit den Stangen vom Leib halten.
Drei der Männer hielten je einen Stab, und in der Mitte stand eine sehnige Gestalt mit großen Händen, die um sich schlug und versuchte, nach den Wachmännern zu greifen. Der Kopf der Gestalt war seltsam lang nach hinten gewölbt, die Ohren standen spitz vom Kopf ab. Der längliche, dünne Mund erinnerte Mary an den Rüssel eines Ameisenbären, nur wesentlich dicker und nicht ganz so ausgedehnt.
Die Nase des Wesens war platt und breit, und da, wo eigentlich die Augen sein sollten, bedeckte nur ledrig graue Haut den Schädelknochen.
Ein Augenloser!
Seine Haut schien seltsam zu wabern; es war ein Flimmern und brannte Mary in den Augen, als sie versuchte, die Konturen zu fassen. Mal war die Schattierung heller, dann wieder an einigen Stellen dunkel. Ein wirrer Tanz der Farben.
Wie ein Chamäleon, durchzuckte es Mary.
„Sollen wir es erschießen, Mister Bolter?“ Blanks fuchtelte mit seinem Gewehr.
Jones Bolter stand in sicherer Entfernung vor dem Augenlosen, der immer noch um sich schlug, doch gehalten von den Niggerstangen niemanden erreichen konnte. Der Kopf flog hektisch in alle Richtungen, die großen Ohren peilten in die Geräuschkulisse hinein.
„Mister Bolter, sollen wir es erschießen?“
Mary sah, wie ihr Vater eine Hand nach dem Wesen ausstreckte. Der Kopf wirbelte herum, die Bewegungen brachen abrupt ab. Der spitze Mund wies genau in seine Richtung, die kleine Öffnung zuckte. Ihr Vater zog seine Hand zurück.
„Du hast meinen Sohn getötet?“, krächzte ihr Vater.
Mary vernahm ein schnalzendes Geräusch, das der Augenlose von sich zu geben schien. Seine Ohren waren steil nach vorn gerichtet, die Nasenflügel vibrierten. Mary drückte sich fester an ihre Mutter. Starrte das Ding genau in ihre Richtung?
„Legen Sie es an die Kette, Mister Blanks!“
„Sie meinen lebend?“
Jones Bolters Blick wich nicht von dem Wesen. „Mister Blanks, wenn Sie über Ihre Frage genau nachdenken, stellen Sie fest, dass sie unnütz war.“
Blanks grinste verlegen. „Also los, Männer. Ihr habt es gehört. An die Kette mit ihm!“
„Und sagen Sie Dankins Bescheid, er soll sich Flint ansehen.“
Sie stießen den Augenlosen davon, während die kläffenden Bluthunde an den dicken Leinen versuchten, nach ihm zu schnappen. Mary erkannte im Licht der Fackeln eine glänzende Fleischwunde an seinem Oberschenkel.
Sekunden später waren sie wieder allein. Mary blickte noch einmal zu dem alten Schuppen hinüber und sah Daddy-Mack dahinter verschwinden. Vielleicht fragte er sich in diesem Moment, warum ihr Dad Jo, nicht aber den Augenlosen, sofort erschossen hatte.
„Was hast du mit diesem Ding vor, Jones?“, wollte ihre Mutter nach einer Weile wissen.
Jones Bolter antwortete nicht. Er blickte in den klaren Nachthimmel, drehte sich kurz darauf um und ging zurück ins Haus.
7
Mary hatte ihre Bettdecke bis zum Kinn hinaufgezogen, trotzdem kroch die Kälte bis tief unter ihre Haut. Das Gespräch mit Daddy-Mack ging ihr nicht aus dem Sinn, ebenso wenig der Augenlose und Timmy und Jo. Zwischenzeitlich wünschte sie sich immer wieder, dass das alles nur ein böser Traum sei, dass Timmy gleich mit kalten Füßen unter ihre Bettdecke kriechen, und dass er sich in ihren Arm kuscheln und schon nach wenigen Sekunden friedlich einschlafen würde. Alles nur ein böser Traum.
Mary lauschte, hörte ihren Vater im Schlaf unruhig stöhnen. Mister Dankins, der Knochenflicker, hatte ihm ein grünliches Getränk gegeben. „Sie sollten ein wenig schlafen, Sir“, hatte er gesagt.
Draußen war es immer noch dunkel. Mary stieg aus dem Bett und schlich zur Tür, vorbei an dem Gästezimmer, in dem ihr Bruder auf dem alten Holztisch lag.
Das Quietschen der Dielen kam ihr heute Nacht besonders laut vor. Sie verließ das Haus, sog die kühle Nachtluft in ihre Lungen und hockte sich auf die Stufen der Veranda. Ein leichter Windstoß erfasste ihr dünnes Nachthemd; Mary verschränkte die Arme vor der Brust, und eine Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper.
Der Schuppen, neben dem sie vor ein paar Stunden mit Daddy-Mack gesessen hatte, war lediglich als dunkle Silhouette auszumachen. Das kleine Feuer davor war erloschen.
Eine erschreckende Stille durchzog die Nacht, schien Mary zu erdrücken. Nicht einmal das sonst alles einnehmende Zirpen der Grillen war zu hören. Wo waren die Schritte der Wachen, deren Stiefel durch den trockenen Staub knirschten? Wo waren die leisen Gesänge der schwarzen Arbeiter, die manchmal des Nachts herüberschallten, wie das sanfte Raunen des Windes zwischen den Blättern der Tabakpflanzen?
Mary blickte in den Himmel und sah sich langsam verdunkelnde Wolkenfetzen, die sich vor das Licht des Mondes schoben. Sie erkannte in ihnen bedrohlich aussehende Wesen, die sich immer wieder verwandelten, um an anderer Stelle neu und noch erschreckender wieder zu entstehen.
Ein Rascheln ließ sie zusammenzucken. Sie sah hinüber zu dem Weg, auf dem Jo heute früh mit Timmy auf den Schultern gen Felder getanzt war und der jetzt nach wenigen Metern von der Dunkelheit verschluckt wurde. War da etwas? Vielleicht die Wachmänner. Doch hätten diese mit Sicherheit etwas gesagt; wahrscheinlich patrouillierten sie im Moment die Grenzen des Anwesens.
Doch dieses kurze Geräusch hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Dieses Rascheln, das da aus der Dunkelheit gekommen war.
Wieder spürte sie die Gänsehaut auf ihrem Körper und sie wusste, dass nicht der kühle Nachtwind die Ursache dafür war. Langsam stand sie auf.
Da, wieder dieses Rascheln. Oder war es ein leises Schnalzen?
Mary versuchte, etwas zu erkennen, als ihr Blick auf den Staub zu ihren Füßen fiel; er schien sich zu bewegen, ganz leicht nur, und sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Wieder berührte der Wind ihr Nachthemd.
Es war der Wind! Ja, es war eindeutig der Wind, der ihr hier einen Streich spielte.
Doch was, wenn es die Augenlosen waren? Getarnt als Staub vor der Veranda? Vielleicht sogar getarnt als Veranda selbst? Wie ein Chamäleon!, schoss es ihr durch den Kopf. Mary schluckte und hatte gleichzeitig das Gefühl, einen Apfel im Ganzen hinunterzuwürgen. Sollte sie Dad wecken?
Sie stieg die Stufen hinab – langsam, tastend. Ihre Zehen berührten die feinen Lehmkörner am Ende der Veranda, spürten die Kälte, die von ihnen ausging. Es war eindeutig nur Staub. Kein Augenloser.
Zögernd ging sie weiter, beinahe schwebend trugen sie ihre Füße um das Haus herum. Immer wieder blickte sie hinter sich, verfolgt von den verschmelzenden Schatten, die wie eine wabernde Wand vor ihrem Blickfeld umher krochen.
Die Wolkenfront brach auf, und das diffuse Mondlicht erhellte den Weg, der nach einiger Entfernung zu einem offenen Verschlag führte, in dem gewöhnlich die Pferde standen; Mary erkannte die dicke Eisenkette, die an der Wand befestigt war und die Gestalt, die darunter hockte.
Da saß es, das Ding, das ihren Bruder getötet hatte. Das Ding, wegen dem ihr Dad Jo erschossen hatte. Warum war es nicht unsichtbar?
Sie blieb stehen, starrte hinüber. Sollte sie zurück ins Haus gehen?
Gute Entscheidungen brauchen viel Bedenkzeit, kleine Misses! Daddy-Macks Worte waren in ihrem Kopf. Wie sah eine gute Entscheidung aus?
Langsam setzten sich ihre Beine wieder in Bewegung. Der Kopf des Augenlosen fuhr hoch, der spitze, schnabelähnliche Mund wies in ihre Richtung, und die Ohren klappten nach vorn.
Vorsichtig ging Mary weiter, ihr Herz hämmerte gegen die Brust, dass sie es durch den Stoff des Nachthemdes sehen konnte.
In einer Entfernung, von der sie sicher war, die Kette würde nicht bis hierher reichen, blieb sie stehen und blickte auf den Augenlosen hinab. Das ledrige Gesicht schien sie anzustarren.
Mary ging in die Hocke. Der Schnabel folgte der Bewegung.
„Hallo?“, fragte sie leise.
Die großen Ohren zitterten an den filigranen Enden, dünne Härchen standen von ihnen ab.
Noch immer in der Hocke, machte Mary einen Schritt nach vorn.
„Tut das weh?“ Ihr Finger zeigte auf die glänzende Wunde. Wieder folgte ihm der Schnabel.
Die großen Hände des Augenlosen, deren hornartige Nägel sich in den Boden gegraben hatten, bewegten sich leicht. Vorsichtig rutschte Mary noch einen Schritt auf ihn zu, berührte das Bein dicht bei der Verletzung. Die dicke Haut war rau und fühlte sich ein wenig klebrig an. Das Bein endete in einer vogelähnlichen Kralle.
„Waren das die Hunde?“
Ein kurzes Schnalzen kam aus der winzigen Öffnung des ebenfalls ledrigen Schnabels. Mary zuckte zusammen, als sie das Geräusch direkt neben ihrem Ohr vernahm, und erst jetzt registrierte sie, wie nah sie dem fremdartigen Wesen gekommen war.
„Timmy war mein Bruder, weißt du?“
Sie riss ein Stück ihres Nachthemdes ab - bei dem Geräusch sah sie, dass die langen Finger des Augenlosen kurz zuckten – und legte vorsichtig den Stoff auf die Wunde. Die dunklen Fingernägel lösten sich aus dem Staub.
„Hast du meinen Bruder getötet?“, fragte sie. „Weißt du, Daddy-Mack hat erzählt, dass ihr das manchmal tut.“
Jetzt war der Schnabel direkt vor ihrem Gesicht, und ein leises, aber schnelles Schnalzen drang durch die Öffnung.
Mary blickte auf den langgezogenen Schädel, ihre Finger berührten die Stelle, wo eigentlich die Augen hätten sein müssen. Hier fühlte sich die Haut sehr hart und trocken an. Das Schnalzen verstummte, und Mary nahm die Hand zurück.
Die dicke Eisenschelle um den Hals des Augenlosen hatte die Haut an einigen Stellen wundgescheuert.
„Ich werde Mister Blanks sagen, dass er sie nicht so stramm machen soll. Ist das in Ordnung?“
Die gewaltige Hand hob sich vom Boden, schwarze Hornnägel, lang und stark gebogen – einem ausgewachsenen Grizzly gleich -, tauchten auf. Vorsichtig berührte das Wesen ihre Schulter, und das Nachthemd riss an der Stelle ein.
„Oh weh“, kicherte sie. „Ich glaube, da wird Ma morgen mächtig sauer sein.“ Die Klaue berührte ihren Nacken, und Mary spürte, wie der Griff etwas fester wurde. Die breiten Nasenflügel des Augenlosen blähten sich auf, und die Öffnung des Schnabels berührte ihre Stirn.
Ein eiskalter Schauer entstand auf Marys Rücken, umschlang den Körper wie ein feuchtes Tuch. „Wirst du mir auch die Augen auspieksen?“
Ein sanfter Luftzug entwich der Öffnung des Schnabels und kühlte Marys Stirn. Sie grinste und pustete dem Augenlosen ebenfalls ins Gesicht.
„Daddy-Mack hat gesagt, dass euch noch niemand gesehen hat. Na ja, fast noch niemand. Da kann ich ja eigentlich mächtig stolz sein.“
Sie streichelte vorsichtig den Schnabel. Die ledrige Haut flimmerte, wurde für einen Moment dunkler, dann wieder heller, beinahe hautfarben.
„Stimmt es, dass ihr eure Farbe ändern könnt? Dass ihr so seid wie unsichtbar?“
Der Schnabel berührte Marys Wange, ihr Herz schlug schneller.
Gute Entscheidungen brauchen viel Bedenkzeit. Hatte sie sich richtig entschieden?
„Wirst du mir auch die Augen auspieksen?“, fragte sie noch einmal leise.
Der Augenlose legte den Kopf schräg, während die andere Hand Marys Gesicht berührte, ganz sanft nur, dennoch spürte sie die harte Schicht der Haut.
Sie nahm die Klaue und legte sie auf ihren Schoß. „Ich glaube, mein Dad mag mich nicht. Nicht so wie meinen Bruder Timmy“, flüsterte sie an die Hand gewandt. „Ich glaube, er hätte Jo nicht erschossen, wenn ich gestorben wäre.“
Die Finger der großen Hand krümmten sich und lösten einen angenehmen Druck auf ihre kleinen Hände aus, die jetzt vollständig verschwunden waren.
„Ich weiß nicht, was mein Dad morgen mit dir machen wird. Vielleicht hättest du nicht meinen Bruder töten sollen ...“
Ein ohrenbetäubender Knall platzte in die Szene. Mary schrie auf.
Der Schädel des Augenlosen zerbarst wie eine reife Frucht, und eine heiße Explosion aus Knochensplittern und Hirn spritzte in Marys Gesicht. Sie spuckte die Masse aus und schrie weiter, während der Körper vor ihr zusammensackte.
„Miss Mary! Um Gottes Willen, Miss Mary!“ Ein harter Griff um ihren Arm riss sie hoch.
Schreiend sah sie in das entsetzte Gesicht von Mister Blanks. Das qualmende Gewehr hielt er weit von sich gestreckt. „Um Gottes Willen, Miss Mary. Was haben Sie hier gemacht?“ Er schien fast zu heulen, drückte den kleinen Körper fest an sich. „Das Ding hätte Sie beinahe gefressen.“
Mary schrie ihm ins Gesicht. „Niemals hätte er das getan! NIEMALS!“ Es war ein Schrei des Entsetzens, des Ekels und der Wut. Sie boxte gegen das Hemd, versuchte ihr Gesicht von dem nach Schweiß riechenden Baumwollstoff wegzudrücken. „NIEMALS!“
Aus den Augenwinkeln heraus sah Mary eine Bewegung. Es war der Boden neben ihren Füßen, der sich plötzlich bewegte, sich empor wölbte, wie ein zu schnell aufgeblasener Ballon.
Durch Blanks’ Körper ging ein kurzer Ruck, und Mary spürte, wie sein Griff um ihren Arm erschlaffte. Das Baumwollhemd vor ihrem Gesicht rutschte zu Boden. Sekunden später kniete er vor ihr und aus dem fasrigen Halsstumpf schoss ein rot glänzender Strahl empor, zuckend und nur langsam verebbend. Ein schillernder See entstand in dem Fleisch, bevor der kopflose Körper des Aufsehers nach hinten kippte.
Marys Mund stand offen, ihr Schrei war verstummt, und sie starrte auf die dunkel flimmernden Masse, die jetzt ihr gesamtes Gesichtsfeld einnahm.
Der Augenlose blickte, aus einer Höhe, die ihr den Verstand zu rauben schien, auf sie herab. Ein ausgewachsener Grizzly war klein dagegen.
Im selben Moment kam ein schneller, bellender Schatten von links. Es war einer von Mister Blanks Bluthunden. Der Augenlose hob ein Bein, und der Angriff des Hundes wurde winselnd gestoppt, als der krallenartige Fuß fast den gesamten Hundeleib bedeckte.
Mary wich zurück.
Die riesigen Pranken packten den jaulenden Körper, dann öffnete sich der Schnabel und biss den Hund in der Mitte durch. Ein dampfender Klumpen Gedärm rutschte aus dem Hinterleib und schlug mit einem nassen Platschen auf den staubigen Boden.
„Sie ... sie können den Schnabel ... öffnen.“ Hatte sie die wimmernden Worte nur gedacht?
Schreie drangen herüber. Schreie von Männern, von Frauen.
Riesige Silhouetten huschten um das Farmhaus, Türen barsten. Schüsse in weiter Entfernung. Und immer wieder Schreie.
Erneut bewegte sich der Boden neben Mary und erhob sich. Der lehmbraune Augenlose, der wenig später neben ihr stand, war wesentlich kleiner als der noch immer vor ihr stehende, und der die Öffnung seines inzwischen wieder geschlossenen Schnabels auf die Lider des Hundetorsos in seinen Pranken drückte.
Ein zweiter Bluthund kam auf den kleineren Augenlosen zugeschossen. Blitzschnell wich dieser dem tödlichen Sprung an die Kehle aus, ergriff den Hund im Flug und drückte ihn zu Boden. Mary sah die gefletschten Zähne des Vierbeiners, sah die weit aufgerissenen Augen.
Der Augenlose vollbrachte sein Werk, presste das dünne Ende des Schnabels auf das gallertartige Weiß, und das Jaulen des Hundes übertönte für einen kurzen Augenblick die Schreie der Menschen.
Mary starrte auf den Augapfel, der sich aus der Höhle löste; sie sah den gedehnten Strang des Sehnervs wie in Zeitlupe, bevor dieser riss und das Auge in dem Schnabel verschwand. Der winselnde Leib des Tieres wurde gedreht, und alles wiederholte sich. Dann ließ der Augenlose von dem Hund ab. Dieser sprang auf seine Pfoten, rannte orientierungslos im Kreis, stolperte über seine Beine und blieb zuckend und pinkelnd liegen.
In der Nähe des Hauses liefen schreiende Silhouetten, gefolgt von Schatten mit spitzen Mündern. Einige der Flüchtenden wurden vom Mondlicht erhellt. Mary erkannte einen der Wachmänner, es war Jesse Thomkins, der ihr immer etwas von seinem viel zu harten Brot abgegeben hatte. Er kreischte und rannte genau in ihre Richtung. Der Boden vor ihm fuhr hoch und der Mann stürzte.
Der Augenlose hinter ihm, über den er gestolpert war, erhob sich – mächtig und achtungsgebietend – aus dem Staub. Die Klaue hatte den Fuß des Arbeiters gepackt. Wieder sah Mary den Schnabel, der sich öffnete, und für einen winzigen Augenblick erkannte sie die runde Scheibe des Mondes zwischen den Kiefern. Das Abtrennen der Arme und Beine erfolgte in Sekundenschnelle.
Der Augenlose steckte die Gliedmaßen in einen Stoffsack, den er auf seinem Rücken trug. Den schreienden Torso von Mister Thomkins hatte er am Hemdkragen gepackt und ließ ihn neben seinen Beinen schwingen. Ein weiterer Augenloser kam heran, ebenfalls sehr groß, und ebenfalls mit einem Sack auf dem Rücken, aus dem eine schlaffe Hand hervorragte, deren Finger sich bewegten, als würden sie Mary zuwinken.
Die beiden Augenlosen schienen sich zu unterhalten – vielleicht taten sie es auch – während Mister Thomkins in der Klaue des einen wimmernd verblutete.
Dunkle Pfützen hatten sich überall auf dem Hof gebildet, und der Mond ließ ihre Oberflächen schillernd glänzen.
Mary konnte nicht glauben, was sie hier sah. War es ein schrecklicher Albtraum? Was ging hier vor? Warum wachte sie nicht auf?
Mit einem Male übermannte sie eine unbändige Angst; sie spürte jeden Zentimeter ihrer Haut, die sich zitternd um ihren Körper schlang. Eine seltsame Faszination umhüllte sie, resultierend aus der aufkeimenden Erkenntnis, dass es sich hier nicht um einen Traum handelte.
Sie wollte ihre Augen schließen, wollte in diesem Moment sein, wie diese Wesen, die dort hinter den Menschen her rannten und sie niedermetzelten, wie Schlachtvieh vor einem anstehenden Familienfest. Sie wollte nicht mehr sehen, nie wieder. Doch ihre Lider schlossen sich nicht.
Vielleicht ist es manchmal besser, nicht sehen zu können.
Mary hörte einen Schuss - der letzte verzweifelte Versuch des Aufbegehrens -, dann war es still.
Ein weiterer Augenloser ging an ihr vorbei, hinüber zum Pferdeschuppen. Er hockte sich neben den Erschossenen, und seine Pranke strich über den Leichnam, während seine Nasenflügel pulsierten. Er tastete nach der Kette, hielt in seiner Bewegung inne. Dann fasste er das Metall mit beiden Händen und biss es durch. Er nahm den Toten, trug ihn auf seinen Armen an Mary vorbei und war kurz darauf in der Nähe des Hauses verschwunden.
Marys Wimmern war verstummt, das eingerissene Nachthemd hing schlaff an ihrem Körper herab. Ihre Nase war verstopft. Sie spürte zwei harte Griffe auf ihren Schultern, sah die dicken, gekrümmten Nägel, die sich in ihr Fleisch bohren wollten.
„Halt! Aufhören!“ Die energische Stimme kam aus der Nähe des Hauses.
Der große Augenlose riss den Kopf herum. Sein Schnalzen war laut und schnell. Der Griff um Marys Schultern wurde etwas gelockert.
Eine gebückte Gestalt trat heran, eingehüllt in zusammen genähten Tüchern, gestützt durch zwei Augenlose.
„Nicht sie!“, rief er.
Kurz darauf hatte er Mary erreicht. Er schnalzte mehrere Töne, und der Augenlose ließ ihre Schultern los.
Der alte Mann trat näher und Mary blickte in die vernarbten Augenhöhlen. Das restliche Gesicht war faltig und von der Sonne gegerbt. Eine zittrige Hand streckte sich ihr entgegen und berührte ihre Wange, tastete über die Haut.
„Wie heißt du, kleine Lady?“
„Mary.“ Ihre Stimme war einem Krächzen nahe.
„Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Mary. Wenn du möchtest, nehmen wir dich mit.“
Das Mädchen sah den alten Mann an, blickte hinauf zu dem Augenlosen.
„Werdet ihr mir die Augen auspieksen?“
Der Alte lächelte. „Du wirst sie irgendwann nicht mehr brauchen, kleine Mary. Ich war damals genauso klein wie du, als sie mich aufgenommen haben. Ich habe viel von ihnen gelernt. Und sie haben viel von mir gelernt.“
„Aber ich möchte keine Augen essen.“
Jetzt lachte der Alte laut auf, und auch die Augenlosen gaben seltsam glucksende Laute von sich.
„Das habe ich nicht gemeint, kleine Mary. Das habe ich wirklich nicht gemeint.“
„Sie haben Timmy getötet. Meinen kleinen Bruder.“
Der alte Mann ging in die Hocke und umschloss ihre zitternden Hände.
„Wir müssen alle noch viel lernen. Sehr viel. Sie sind bereit dazu.“ Er deutete auf die umstehenden, flimmernden Wesen. „Nur bleibt mir nicht mehr viel Zeit, kleine Mary. Die Jahre nagen an meinen Knochen. Aber ich weiß, dass du es schaffen wirst. Du bist noch jung.“
„Was ist mit Mom und Dad?“
„Der Schmerz wird vergehen. Ich weiß es.“
Der große Augenlose beugte sich herab und schnalzte dem Alten ins Ohr.
„Wir müssen gehen, kleine Mary.“
Er drückte ihre Hände.
„Wird es wehtun?“
Wieder lächelte der Alte. „Der Schmerz wird vergehen. Wenn du bereit dazu bist, wird er vergehen. Das verspreche ich dir.“
Mary nahm seinen Arm und legte ihn um ihre Schultern.
„Vielleicht werde ich es lernen.“
„Das wirst du. Das wirst du ganz bestimmt.“ Der Alte wandte sich ab, gestützt von den beiden Augenlosen.
Mary blickte hinüber zum Anwesen, das sich jetzt schon beinahe friedlich vor der tief stehenden Mondscheibe abzeichnete. Doch sie hatte heute gelernt, dass vieles anders war, als es den Anschein hatte.
Vielleicht ist es manchmal besser, nicht sehen zu können, kleine Misses.
Noch einmal dachte Mary an Daddy-Mack und sie erkannte, dass er Recht hatte.