Mitglied
- Beitritt
- 12.03.2020
- Beiträge
- 534
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Die Bürde des Großvaters
Die Augen sanft geschlossen, die Hände zu Fäustchen geballt, schlief er in ihren Armen. Niemand darf dir je wehtun, dachte sie und ein warmes Gefühl stieg in ihr auf. Ich liebe dich, mein Kleiner. Am liebsten würde ich für immer bei dir bleiben, aber heute muss ich wieder arbeiten. Papa wird auf dich aufpassen. Keine Sorge, ich bin bald wieder da. Aus der Küche kam der Geruch von verbranntem Rührei hinein, behutsam machte sie sich auf den Weg. Plötzlich hörte sie ihren Vater fluchen:
„Verdammte Scheiße!“ Es folgte ein lautes Krachen und das Baby fing an zu schreien. Sie wiegte es sanft hin und her.
„Alles gut, Schnuckel. Dir passiert nichts, ist doch alles gut.“
Sie betrat die Küche und fragte: „Was ist passiert?“
„Tut mir leid. Ich wollte dir Rührei für deinen ersten Tag machen.“
„Papa, du musst dich nicht so anstrengen. Ich komm auch ohne Rührei aus. Setz dich nicht so unter Druck.“
Er strich sich über seine Glatze, versuchte zu lächeln.
„Tut mir leid, es ist nur, ach egal. Habt ihr gut geschlafen?“ Dabei strich er dem Kleinen über die Wange. „Du musst nicht schreien, Opa ist da.“
„Ben konnte wieder nicht einschlafen, ich hab ihm Harry Potter vorgelesen, das hilft“, sagte sie.
„Aber er ist doch erst drei Monate“, lachte er.
„Man kann nie früh genug mit Harry Potter anfangen“, antwortete sie.
„Ja, das sieht dir ähnlich, du hast es schon als kleines Mädchen geliebt. Du konntest stundenlang zuhören, erinnerst du dich?“
„Wie könnte ich das vergessen, ich lag immer in deinen Armen und du hast vorgelesen. Gute Erinnerung.“
Sie frühstückten, Ben lag geborgen in ihren Armen und atmete wieder ruhig.
Nachdem sie aufgegessen hatten, schaute sie auf ihre Armbanduhr.
„Oh, so spät schon. Ich muss dringend los.“
„Bereit für den ersten Arbeitstag?“, fragte er.
„Lust habe ich nicht, würde lieber bei Ben bleiben“, sagte sie.
„Ich passe auf ihn auf, versprochen“, sagte er.
„Danke. Ich hab dir einen Zettel geschrieben, wo alles draufsteht und ruf mich an, wenn etwas ist. Passt gut auf ihn auf, er ist so sensibel.“
Sie überreichte ihm das Baby, das die Augen wieder geschlossen hatte, und legte einen sauber gefalteten Zettel auf den Küchentisch - sie hatte tiefe dunkle Ringe unter den Augen. Dann strich sie dem kleinen Ben sanft über sein Köpfchen und ging dann in den Flur. Sie zog sich einen beigen Wintermantel an, die Schlüssel klirrten. Dann ein leises Krachen, als die Haustür zufiel. Das Geräusch erschreckte den kleinen Ben, der wieder anfing zu schreien.
„Ist ja gut, Opa ist hier. Ruhig, kleiner Mann. Ruhig. Willst du ein bisschen Radio hören?“ Eine hohe Frauenstimme erklang, hörte sich wie ein Engelschor an. Doch die Schreie übertönten den Gesang, nahmen ihm jeden Zauber und Rhythmus.
„Jetzt ist aber gut, beruhige dich, mein Kleiner“, das Hemd des Mannes zeigte Flecken unter den Achseln. Er griff nach dem Zettel auf dem Küchentisch. Was muss ich tun, wenn er schreit? Sein Finger stoppte in der Mitte des Zettels.
„Komm, wir gehen hoch und ich lese dir ein bisschen Harry Potter vor“, sagte er und wiegte Ben langsam auf und ab. Die Treppe knarzte unhörbar, das Geschrei intensivierte sich.
„Schau mal, das ist Harry, gefallen dir die Schachfiguren?“, er hielt das Cover so, dass Ben es sehen konnte.
„Der total normale Mr. Dursley und seine Bohrmaschinen. Bist du bereit, mein Kleiner?“ Er holte tief Luft und fing an vorzulesen.
„Hör doch bitte auf zu schreien, Ben“, sagte er kurz darauf verzweifelt. „Ich halte das nicht aus.“ Ich brauche Ohrenstöpsel, dachte er. Doch er fand keine.
„Komm schon, hör auf zu schreien, bitte“. Er wiegte ihn etwas stärker hin und her. „Beruhige dich, dein Opa ist doch da.“ Ich darf nicht versagen, ich kann sie noch nicht anrufen. Ich muss ihn beruhigen, aber wie?
Während er seinen Gedanken nachhing, wiegte er den kleinen Ben unbewusst immer stärker hin und her. Plötzlich herrschte Stille. Als er hinabschaute, glaubte er, sein Herz setze aus.
Bens Augen waren geöffnet, aber kein Bewusstsein sprach daraus. Sein Kopf befand sich in einem unnatürlichen Winkel. Oh mein Gott, was habe ich getan? Er atmet ja kaum noch. Was ist passiert? Dann versuchte er den Kleinen anzusprechen, aber nichts passierte. Panik. Er rief bei seiner Tochter an, aber niemand hob ab. Er wählte die Nummer des Hausarztes. Ja, es geht ihm schlecht, ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich habe ihn doch nur hin und her bewegt, wie es auf dem Zettel stand. Welcher Zettel? Der von meiner Tochter. Ob ich ihn geschüttelt habe? Also höchstens nur ganz leicht. Ins Krankenhaus fahren, wirklich? Schütteltrauma? Oh mein Gott, was habe ich getan?