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Die Backsteinmauer
Es ist Sonntagnachmittag. Luise deckt den Tisch mit dem friesischen Teeservice. Sie sortiert sorgfältig die angeschlagenen Teile aus und stellt sie in das unterste Fach der Vitrine aus Kirschbaum, ihrem liebsten Hochzeitsgeschenk.
Ihr geht viel durch den Kopf. Zu ihrem fünfundachtzigsten Geburtstag will sie alles schön haben. Fünf Gedecke sind makellos, das reicht, auch wenn noch ein Überraschungsgast käme. Vielleicht sind sie aber auch nur zu dritt. Meryem hat sowas angedeutet. Sie ist ganz schön streng mit ihren beiden Jungen, Respekt vor den Eltern, das ist ganz wichtig in türkischen Familien. Na ja, Murat ist kein Kind mehr, sondern ein kräftiger junger Mann, der ihr den Rollator die Treppen rauf- und runterträgt, seit sie im letzten Winter auf dem Weg zum Laden schräg gegenüber gestürzt ist. Yalcin ist ein pfiffiges Kerlchen, Luise freut sich immer, wenn er die Treppe raufstürmt. Sie hat nicht oft Besuch. Ihre beiden eigenen Söhne wohnen hunderte Kilometer weit weg, der eine lebt mit seinem Freund irgendwo am Mittelmeer, hat eine Strandkneipe. Der andere ist in München verheiratet. Luise hat das Paar vor drei Jahren besucht, aus einem spontanen Entschluss heraus, über den sie sich heute noch wundert. Als sie zurückkam, wusste sie, dass sie nie und nimmer auf den Vorschlag ihres Sohnes hin in ein Heim für betreutes Wohnen einziehen wird.
Es stimmt schon, der Junge hat sich ein paar Gedanken gemacht, wie es mit seiner alten Mutter weitergehen soll. Aber die Schwiegertochter, bereits die zweite, schwieg zu allem, was ihr Mann vorbrachte, und schaute sie mit kalten Augen an. Nein danke, München ist nichts für sie. Sie will ihr Viertel in Kiel nicht verlassen, schon gar nicht ihre Wohnung, in der sie seit über sechzig Jahren zu Hause ist. Natürlich wäre eine neue Dusche schön. Aber sie will dem Sohn nicht auf der Tasche liegen. Betreutes Wohnen ist für sie selber unbezahlbar. Punkt!
Luise macht eine Pause und rückt den verschlissenen Ohrensessel ans Fenster. Wenn sie alle ihre Sofakissen draufstapelt, kann sie bequem beobachten, was sich in der Straße so tut. Im Sommer, wenn das Fenster weit geöffnet ist, legt sie zum Abstützen noch ein Kissen auf die Fensterbank. Besser als Fernsehen, findet sie, obwohl sie nicht undankbar ist für den Flachbildschirm, den ihr Sohn von München aus organisiert hat. Als er vor drei Wochen spät abends anrief, hat sie sogar durchs Telefon sein schlechtes Gewissen gespürt.
„Ich würde ja gerne kommen, aber Gertie geht es momentan gar nicht gut. Lange Autofahrten verträgt sie nicht. Irgendwas stimmt nicht mit ihr.“
„Das glaub ich dir sofort, den Eindruck hatte ich vor drei Jahren schon.“
„Mama …, wie meinst du das?“
„Genau so, wie ich es gesagt habe.“
„Mama, bist du verärgert? Ich kann dir einen Handwerker besorgen, der dir den Fernseher einrichtet.“
„Nee, Junge, das brauchst du nicht. Ich finde schon jemanden, der mir hilft. Ich habe nette Nachbarn im Haus.“
Luise sagt nicht, dass es sich bei ihren netten Nachbarn um eine türkische Familie handelt. Gertie hat für Ausländer nicht viel übrig, dabei hat sie selber ungarische Wurzeln.
Murat, der hilfsbereite Türke, hat den Fernseher in Windeseile aufgebaut und angeschlossen, Satellitenschüssel und alles. Er spricht nicht viel, ist aber ausnehmend höflich. Die Sache mit der Spraydose kam nie zur Sprache zwischen ihnen. War auch gar nicht nötig.
NO FUTURE hat er auf die Backsteinmauer neben dem Lebensmittelladen gesprüht, vor drei Jahren, als er ziemlich verzweifelt nach einer Lehrstelle suchte. Inzwischen arbeitet er im Gemüseladen von Herrn Gündogan, der den Laden übernommen hat. Luise, die selbst jahrelang dort gearbeitet hat und Stammkundin ist, hat ihn dazu überredet. Von Murats Sprayaktion hat sie natürlich nichts erzählt, auch nichts von ihrer eigenen. Mit derselben Spraydose wie Murat.
Luise war damals das Tagesgespräch in der Straße. Eine alte Frau, die am helllichten Tag auf ihren Gehwagen steigt und ein Graffito unter das von Murat sprüht. YOLO – you only live once. Und dann stellt sie den Wagen in den Laden, greift nach ihrem Köfferchen und entschwindet in Richtung Bahnhof. Nicht zu fassen!
Frau Özdemir kennt die ganze Geschichte. Bei vielen Tassen Tee mit und ohne Rum haben sie Vertrauen zueinander gefasst. Frauenleben. Die Sorgen, die Freuden. Wo Heimat ist und wie es ist, wenn man sie verloren hat. Und dass man sich gegenseitig helfen muss.
Es klingelt. Frau Özdemir und Yalcin stehen vor der Tür.
„Murat kann nicht kommen, Fußball, weißt du, Murat ist so stolz, dass er bei Verein spielen darf. Viel Grüße, sagt er, und wenn du Hilfe brauchst, nur sagen.“
„Ja, Fußball ist wichtig fürs Zusammenleben.“
Seit ein paar Wochen gibt es ein neues Graffito an der Backsteinmauer: TÜRKEN RAUS!
Luise sieht Augenringe bei Frau Özdemir und findet, die Nachbarin hat stark abgenommen.
„Nur ein kleines Geschenk. Ich weiß, du willst nichts haben.“ Frau Özdemir stellt ihr unvergleichliches Baklava auf den Tisch, während Luise den Tee aufbrüht.
Yalcin studiert den neuen Fernseher.
„Cooles Teil, Omi“, sagt er, „Murat hat mir schon davon erzählt.“ Yalcin darf Omi zu Luise sagen. Sie hat ja keine eigenen Enkel.
„Du kannst gerne heraufkommen, wenn Fußball übertragen wird. Ich schau auch gern. Und dann kannst du mir erzählen, wie es im Gymnasium läuft. Magst du Eis?“
Luise weiß, dass Frau Özdemir mächtig stolz ist auf ihren Jüngsten. Er soll es weiterbringen als sein Vater. Er wird in Deutschland ein gutes Leben haben, studieren, wenn möglich. Vielleicht wird sie mit ihrem Mann in die Türkei zurückkehren.
„Wann lässt unser Nachbar endlich die Mauer reinigen? Das muss euch doch wahnsinnig nerven! Soll ich mal was zu ihm sagen, Meryem?“
„Bitte nicht, Luise, mein Mann ist zornig, hat schon gesprochen. Aber Herr Gündogan hat Angst, er verliert deutsche Kunden.“
„Verdammt, ich weiß, … wenn ich besser auf den Beinen wäre, wüsste ich schon, was ich täte ...“
Yalcin hat einen großen Becher Eis ausgelöffelt und dabei aufmerksam zugehört.
„Darf ich gehen, Omi? Ich muss noch was erledigen, hab ich leider vergessen.“ Seine Stimme kippt zuweilen nach unten. Aber er ist immer noch mehr Kind als Mann, auch wenn er jetzt einen Kopf größer ist als Luise.
„Geh nur, Junge, und lass dich wieder blicken, wir könnten dann etwas englisch miteinander reden.“ Englisch reden ist ein Codewort für die beiden. Yalcin spricht über Schulsachen lieber mit Omi. Zum Beispiel darüber, dass er freitags mit seinen Freunden zum Demonstrieren geht. Da ist so vieles, was seine Mutter nicht versteht. Er würde gern einmal ein paar Klassenkameraden mit nach Hause bringen, aber ...
Luise lächelt und zwinkert, Yalcin zwinkert zurück. Er sieht irgendwie entschlossen aus. Die beiden Frauen trinken drei Kannen Tee zusammen. Sie bleiben im Halbdunkel sitzen, das Licht von der Straßenlaterne her genügt ihnen. Themen gibt es genug. Spät am Abend gönnt sich Luise noch einen Schluck Rum.
Als Luise am nächsten Morgen den Rollladen hochzieht, reißt sie die Augen auf.
Die rot-verklinkerte Hauswand gegenüber hat eine zweite Inschrift. In englischer Sprache.
FRIDAYS FOR FUTURE.