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Die Box
Es geschah selten, dass er nachts wach wurde.
Weder hatte er einen Druck auf der Blase, noch drang Lärm aus der Nachbarwohnung.
Gerrit konnte sich auch nicht an einen unruhigen Traum erinnern.
Es war, wie es war. Einfach so wach geworden.
Gerrit beschloss, sich eine Flasche Wasser aus der Küche zu holen. Orientierungslos tastete seine Hand die rauhe Wand ab, bis sie auf den Lichtschalter stieß.
Er drehte sich zur Seite.
Das Wesen, das neben seinem Bett stand, war zirka zweieinhalb Meter groß, äußerst dürr, und hatte eine Gesichtsform, die an das Bild "Der Schrei" erinnerte.
Gerrit schüttelte sich, dann fror jegliche Bewegung von ihm ein.
Das Wesen riss die Augen zu Tennisballgröße auf und deutete mit einem langen blauen Zeigefinger auf ihn. Dann fing es zu wimmern an.
Gerrit wimmerte ebenfalls.
Am nächsten Morgen wusch er sich nicht. Seine erste Handlung galt dem Telefon. Er meldete sich krank.
Anschließend zog er die Sachen vom Vortag an, verließ die Wohnung, hastete das Treppenhaus hinunter, und stieg in den Wagen.
Die schwarze Box schnallte er auf dem Beifahrersitz fest. Gerrit selbst verzichtete auf den Gurt.
Die Straßen des Ortes lagen verlassen vor ihm. Der Berufsverkehr war vorüber, und reges Treiben herrschte hier ohnehin nie.
An der großen Kreuzung im Zentrum nahm er eine Ampel bei rot, bog scharf rechts in eine kleine Seitenstraße ein, und wurde von dem Rappeln, dass das Kopfsteinpflaster verursachte, wachgerüttelt.
Er fand einen Parkplatz gegenüber der Metzgerei. Die Box packte er in seinen Rucksack.
Es regnete. Gestern hatte es noch geschneit. Eine alte Frau hustete, während die Tür des Buchladens hinter ihm ins Schloss fiel.
"Guten Morgen", zwitscherte der Besitzer, und rückte sich seine Brille zurecht. Sein Blick wurde fragend, als Gerrit wortlos den Reißverschluss des Rucksacks aufzog, die Box herausnahm, sie auf den Tresen stellte, und nickte.
"Das ist für Sie", sagte er. Dann ging er wieder, ehe der Mann etwas erwidern konnte.
In der folgenden Nacht konnte er nicht schlafen.
Gegen Mitternacht hörte er ein Quietschen. Im Anschluss Schritte. Langsam wie das Ticken einer Pendeluhr.
Seine Tür wurde geöffnet. Das Wesen stöhnte vor Erschöpfung.
Diesesmal ließ Gerrit das Licht ausgeschaltet. Eine kalte, riesige Hand umfasste seinen Kopf, ließ dann aber wieder ab.
"Nur wissen, ob er da ist", keuchte das Wesen unter großer Anstrengung. Die Stimme hell wie eine Violine.
Dann: "Ja, sie sind alle tot."
Mit diesen Worten entfernte sich das Wesen wieder.
Gerrit musste weinen.
Am nächsten Morgen ließ er sich Zeit. Er duschte in Ruhe, frühstückte ausgiebig, und gönnte sich sogar noch eine zweite Tasse Kaffee.
Ein Blick aus dem Fenster offenbarte ihm eine verlassene, winterliche Landschaft. Der gestrige Regen war über Nacht wieder in Schnee übergegangen, und eine weiße, märchenhafte Decke lag über allem.
Erneut kamen ihm die Tränen.
Gemächlich brachte Gerrit das Treppenhaus hinter sich, stieg in seinen Wagen, und fuhr los.
Heute hatte es keinen Berufsverkehr gegeben.
Wenn du leeebeen willst, dann musst duuu tun, was gesaaagt wird.
Wie Schaufensterpuppen lagen die Leute herum. Manche saßen noch in ihren Autos. Die Gesichter zu Fratzen verzerrt. Was sie wohl erlebt hatten, im Augenblick des Sterbens?
Die Ampeln an der Kreuzung blinkten. Gerrit setzte unnötigerweise den Blinker, und bog ab.
Du wiiiilst wissen, wer iiiich bin?
Der Besitzer des Buchladens lag bauchlings auf dem Holzboden. Seine rechte Hand verkrampft, als hätte sie sich im letzten Moment verzweifelt an das Leben klammern wollen.
Auf dem Tresen lagen noch ein paar Prospekte, die die Neueröffnung des Ladens ankündigten.
Die meisten aber waren gestern verteilt worden. An alle Bewohner des Ortes. Und mit ihnen der Staub, der sich in der Box befunden hatte.
Ich bin, was iiihr Goooott nennt. Aber du wiiirst leben.
Gerrit sank schluchzend in sich zusammen.