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Die Brandstifter
Die Brandstifter
Der Magen zieht sich mir zusammen, als ich den Klassenraum betrete. Heute wird es passieren. Einige sind schon da. Nervös sehe ich auf meine Uhr; noch zwölf Minuten bis es klingelt.
Thomas sitzt bereits auf seinem Platz. Ich gehe rüber und lasse mich auf meinem Platz neben ihm nieder. Wir kennen uns seit der siebten Klasse. An zahllose Stunden erinnere ich mich, da wir die Geister der alten Götter beschworen. Mark Aurel, Aristoteles, Nietzsche, Hegel und all die anderen. Als Gefäße dienten wir ihnen, so dass sie jeden Streit, der ihnen durch die Gesetze von Zeit und Raum so lange verboten war, durch uns ausfechten konnten. Auch ersonnen wir eigene Weltformeln, nur um unseren Verstand daran zu messen, sie zu widerlegen.
Jetzt sitze ich neben dem Freund und spüre ein letztes Mal die ruhige, wohltuende Aura seiner Gegenwart.
Es klingelt.
Die Lehrerin betritt den Raum, eine untersetze Frau mit kurzem, braunen Haar.
„Guten morgen.“
„Guten morgen, Frau Kromann.“
Mein Mund ist trocken. Der Lärm der uns umgebenden Schüler, die Federtaschen und Hefter hervorkramen, verschwindet hinter den Gedanken, die mich wie Blitze durchzucken. Lass es. Lauf weg. Warum?
Ich sehe zu Thomas hinüber. Mein Freund schaut mich ebenfalls an. In seinem ruhigen Blick ist Entschlossenheit, die mich ansteckt und meinen Geist wieder sanft gegen mich werden lässt.
„Also letzte Stunde haben wir Ereignisse auf der Lebenslinie eingetragen. Heute wollen wir besprechen, warum unsere Gesellschaft so großartig ist.“
Bedächtig hebt Thomas die Hand, die andere lässt er in die Manteltasche gleiten. Ich tue es meinem Freund gleich. Meine schwitzigen Finger umkrallen den glatten Holzgriff.
„Ja. Thomas.“
„Was, wenn sie gar nicht so großartig ist?“
Thomas Stimme ist klar. Er spricht wie immer laut und sehr deutlich.
„Wie meinst du das Thomas? Unser System ist das beste, was es gibt.“
„Ich meine: Was, wenn unser Gesellschaft eine Sackgasse ist. Das führt doch alles nirgendwo hin. Die Menschen leben doch nur noch nebeneinander her. Wenn man miteinander redet, dann sind es doch nur Nebensächlichkeiten, die ausgetauscht werden. Es ist doch kaum noch ein Mensch in der Lage überhaupt zu denken.“
„Bitte Thomas ich verstehe dich nicht. Wir reden doch sehr viel hier im Unterricht.“
Patrick plappert los ohne sich gemeldet zu haben.
„Ja, wir reden doch immer darüber, wie man den Andern auch unser freiheitliches System bringen kann und da denken wir doch auch viel nach.“
„Was ist aber, wenn die Anderen das gar nicht wollen. Wenn sie den Weg ihrer Kultur gehen wollen?“
Frau Kromann schüttelt den Kopf.
„Thomas, unsere Gesellschaftsordnung ist die beste und es ist unsere Pflicht, diesen Segen mit der Welt zu teilen.“
„Aber so einfach ist es nicht. Es gibt doch nicht nur ein Richtig und ein Falsch. Eine Gesellschaft ist etwas, das sich dynamisch entwickelt und diese Entwicklung unterliegt Faktoren - Faktoren, die nicht überall gleich sind.“
„Thomas, es ist doch aber Fakt, dass nur wir wirklich glücklich sind.“
Zitternd führe ich den Zeigefinger den Griff hinauf, bis ich das Metall fühle.
„Ich bin nicht glücklich.“
„Ich auch nicht.“, sage ich heiser.
Alle Blicke ruhen jetzt auf uns.
Frau Kromann sieht uns verständnislos und entgeistert an.
Scheinbar in Zeitlupe formen ihre Lippen das Wort.
„Kokolores.“
Das war das vereinbarte Zeichen. Ich reiße den Revolver hoch und drücke ihn gegen meine Schläfe. Mein Blick schweift hinüber zum Freunde.
In seinem edlen Gesicht, das ich so sehr liebte, sehe ich keine Angst, nur die Gewissheit, dass es das Richtige ist. Nur so kann die Heiligkeit jener Tage, die mir nun wie im goldenen Glanz der Spätsommersonne erscheinen, auf ewig bestehen bleiben. Ein echtes und sinnhaftes Leben, will zur Rechten Zeit beendet sein.
Es ist nicht der Freitod, den wir wählen, sondern der Tod der Freien. Das Kapitel ist abgeschlossen. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Wir haben gelebt. Jetzt blieb nur noch eines. Der Funke musste entzündet werden.
Ich sehe den Wiederschein der lodernden Flammen in den auf uns starrenden Augen. Alles ist still. Zwei Schüsse fallen und die Welt steht in Flammen.