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Die Bubble
Das Eis knirschte gefährlich unter ihrem Gewicht. Mit jeder anrollenden Welle wurde die Scholle kleiner. Der eisige Wind, das tiefe Wasser, all das hätte sie ängstigen müssen, aber das war es nicht, was sie schmerzte. Es war die Hoffnungslosigkeit, die sich in einem tiefen, grollenden Brüllen entlud. Einem Schrei, den niemand hören würde. Raven, diese alte Hexe, sie hätte ihr nicht vertrauen dürfen. Aber was wäre die Alternative gewesen? Es nicht zu tun und einfach ohne Ben weiterzuleben?
*
Kay schob sich durch den engen Tunnel und obwohl die Platzangst sie quälte, fühlte sie sich so glücklich, wie lange nicht mehr. Ben kroch dicht vor ihr. Er hatte sie geholt, wie er es versprochen hatte. Mit jedem Meter, den sie durch den schmalen Schacht robbte, ließ sie die zerstörerischen Stürme und die Hoffnungslosigkeit der Outlands hinter sich. Ganz bald würde sie mit Ben im sicheren Schutz der Bubble leben. Kay lächelte trotz der Schmerzen in ihren Armen und Beinen. Trotzdem war sie froh, als sie endlich den Abzweig erreichten. Ben gab ihr einen grauen Overall aus einem Bündel, das er in einer Nische versteckt hatte. Die Kleidung roch frisch und sauber, fruchtig und unbekannt. Kay tauchte die Nase tief in den weichen Stoff.
„Lass das Kay. Dort oben musst du so tun, als ob alles ganz normal für dich ist. Wir dürfen nicht auffallen. Sonst sind wir geliefert und Jo und Paula gleich mit.“
Sie nickte, schlüpfte aus ihrer verschwitzten Leinenhose und zog den Overall über. Dann presste Ben ein schwarzes Kästchen auf ihr Handgelenk und ein scharfer Schmerz ließ sie zusammenzucken.
„Das ist ein Bewohnerchip für die Bubble. Ein Fake, aber gut gemacht. Also keine Angst. Falls du dich ausweisen musst, halte den Chip einfach unter den Scanner.“
Beeindruckt strich Kay über den metallicblauen Streifen an ihrem Handgelenk. Dann kletterte sie hinter Ben flink an den eingelassenen Eisentritten im Schacht nach oben und folgte ihm durch einen labyrinthartigen Keller nach draußen. Sie spürte, dass die schwüle Hitze der Outlands einer angenehmen Wärme gewichen war. Selbst die Luft schien in der Bubble süßer und farbiger zu sein. Neugierig blickte sie in die neue Welt, als sie hinter Ben vom Hof auf eine Straße trat, die von gigantischen Hochhäusern begrenzt wurde, an deren Fassaden Bohnen, Kiwis und Melonen in einen wolkenlosen Himmel rankten. Eine freundliche Sonne schien auf graugekleidete Passanten hinab, die durch die Straßen eilten. Kay versuchte mit Ben Schritt zu halten, aber es gab so viel Unfassbares zu sehen: autonome Caps, die sich zu Fahrverbänden drängten, große Mediawände auf denen die Vorzüge von Produkten gepriesen wurden, deren Funktion Kay nicht einmal erraten konnte, Beerensträucher und Obstbäumen mit kleinen Metallwesen, die ihre winzigen Pinselmünder in eine Blüte nach der anderen tauchten. Kay hastete hinter Ben her, doch ihr Blick blieb an den bunten Schachteln im Schaufenster eines Ladens hängen und sie krachte in die graugekleidete, fruchtig duftende Brust eines entgegenkommenden Passanten, der geschockt zurückwich.
„Verzeihung Bürger. Wir war in Gedanken.“ Ben verneigte sich höflich, hakte Kay jetzt eng unter und zog sie fort, während der Mann irritiert seinen Weg fortsetze.
„Reiß dich zusammen“ zischte er und Kay richtete den Blick nun gehorsam zu Boden, bis sie ein paar Straßen weiter einen Wohnblock betraten und den Fahrstuhl in den 32. Stock nahmen. Die Nase an die Glasscheibe gepresst, schrie Kay überrascht auf, als ihr Magen durch die Beschleunigung absackte und ihr wurde bewusst, dass sie in dieser Röhre so hoch hinauf fuhr, wie noch nie in ihrem Leben. Sie wollte jauchzen vor Glück, Ben an sich drücken, ihm alles zeigen, was sie von hier oben entdeckte, aber er schien all die Wunder nicht zu sehen. Grüblerisch und angespannt führte er sie zum Ende des Ganges, wo er zweimal lang, einmal kurz klopfte und sie dann schnell durch die Tür in ein kleines Apartment schob. Zwei Doppelstockbetten, eine Küchennische und ein Tisch ließen kaum Platz für die Neuankommenden und zwangen Kay sich dicht an die Wand zu drücken, um einem Mädchen mit schimmernden blonden Haaren Platz zu machen, das auf Ben zusprang und ihn küsste. Noch nie hatte Kay so eine helle, zarte Haut gesehen.
„Endlich! Ich hatte solche Angst. Ist sie das?“ Das Mädchen sah sie aus strahlend blauen Augen neugierig an und nahm Kay dann in die Arme, die sich plötzlich sehr eckig vorkam, wie aus knorrigem Holz geschnitzt. „Willkommen. Ich bin Paula.“
Hinter dem Mädchen erschien ein großer athletischer Junge mit dunklen Locken, der Ben in den Arm knuffte. „Alter, gut dich zu sehen.“ Dann zwinkerte er Kay zu, die immer noch verlegen in der Ecke stand. „Er hat uns ganz verschwiegen, dass seine kleine Schwester schon so groß ist und hübsch noch dazu. Ich bin übrigens Jo.“
Als sie zum Essen gedrängt um den Tisch saßen, probierte Kay gierig die verschieden-farbigen Breie, die alle trotz des unterschiedlichen Geschmacks die gleiche Konsistenz hatten. „Bubble-Essen“, erklärte Jo, „Eiweißreicher Cellulose-Pamp in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Schmeckt mies, braucht aber wenig Platz für den Anbau. Ben hat ´ne Weile gebraucht, aber man gewöhnt sich dran.“
„Wenigstens macht es satt. Wenn Dürre oder Hagel bei uns die Ernte vernichten, stopfst du dir den Bauch voll, mit allem, was du kriegen kannst. Weißt du noch Ben, das eine Frühjahr, als wir fast nur von Erdbeeren gelebt haben, die Jolanda im Wald gesammelt hat. Zum Schluss konntest du sie nicht mehr sehen.“
„Hör auf Kay. Das will keiner wissen.“
„Doch, mich interessiert es. Ich weiß fast nichts über deine Kindheit.“ Paula griff nach Bens Hand, doch der zog sie fort, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen.
„Nein, dass willst du nicht. Bubbler haben keine Ahnung, wie es ist, nach jedem Unwetter von vorne anzufangen und zu zählen, wer noch da ist und wer fehlt.“
„Ben, ich will ja helfen. Wir holen noch mehr rein. Wir hacken uns ins Register, machen neue Bewohner-Chips. Wir holen deine Freunde und Jolanda.“
„Die Leute hier wollen nicht teilen. Kapierst du das nicht? Jeder da draußen ist eine Bedrohung, den die Wächter gnadenlos abknallen, wenn er hereindrängt. Kay und ich hatten Glück, aber jetzt müssen wir das Draußen vergessen. Jolanda ist tot und Walderdbeeren werde ich nie wieder essen.“ Ben sprang auf. „Manchmal ist es hier so verdammt eng, dass ich keine Luft mehr bekomme.“ Er stürmte aus dem Appartement und knallte die Tür hinter sich zu.
*
Schon den ganzen Tag lag Kay auf einem der oberen Betten und starrte an die Decke. Drei Jahre hatte sie darauf gewartet, darauf gehofft, ihren Bruder wieder zu sehen. Drei Jahre ohne ein Zeichen, ob ihm die Flucht gelungen war, ob er am Leben war und nun wünschte sie sich, unsichtbar zu sein, denn Alles an ihr schien Ben an die Outlands zu erinnern, an das, was er vergessen wollte.
„Hej, komm mal da runter“, Jo zupfte am Ärmel ihres Overalls, doch Kay schüttelte den Kopf und drehte sich zur Wand, so dass er auf das untere Bett steigen musste, um ihr ins Ohr zu flüstern: „Gib ihm etwas Zeit. Die Rückkehr nach draußen hat ihn aufgewühlt. Lass ihm einfach etwas Raum. Und jetzt komm von diesem blöden Bett. Wir brauchen was zum Abendessen und deshalb gehen wir beide jetzt einkaufen.“
„Du meinst in einen der Läden mit den bunten Päckchen?“ Kays Augen leuchteten vor Aufregung als Jo nickte und sie kletterte geschwind vom Bett hinunter.
„Wir gehen ´ne Runde einkaufen.“
„Kay bleibt hier. Das ist viel zu gefährlich. Sie ist noch nicht so weit.“
„Und sie wird auch nie so weit sein, wenn sie das Leben in der Bubble nicht kennen lernt. Sie ist kein Kind mehr, Ben. Und ich pass gut auf sie auf.“
Ben hatte den ganzen Tag mit Paula daran gearbeitet, das Einwohnerregister zu hacken und alles um sich herum ignoriert. Auch jetzt schaute er sie nicht an. Kay strich sanft über seinen verkrampften Rücken. „Es wird schon klappen, Ben.“
Mit einem Seufzer zog er Ihren Kopf zu sich hinunter und küsste sie auf die die Schläfe. „Du hast Recht. Du hast es da draußen geschafft, dann schaffst du´s hier auch. Ich sollte aufhören, dir zu sagen, was du tun oder lassen sollst.“
„Danke!“ Kay schmatzte ihrem Bruder einen stürmischen Kuss auf die Wange. Dann trieb die Neugierde sie nach draußen. Der wolkenlose Himmel schien ihr etwas vertrauter, die Sonne, ein bisschen weniger hell und sie versuchte die unbekannten Dinge um sich herum zu ignorieren. Obwohl Jo lockerer war als Ben, war Kay angespannt. Vor allem die Stille ängstigte sie. Sie vermisste, das Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Pflanzen im Wind, das Lachen von Kindern.
„Wo sind die Kinder?“, fragte sie Jo. Doch seine Antwort wurde von einem schrillen Alarm übertönt. Kay sah irritiert auf die blau blinkenden Handgelenke der Passanten. Auch bei Jo leuchtete der Bewohnerchip nur an Kays Handgelenk tat sich nichts. „Eindringlingsalarm! Eindringlingsalarm!“ ertönte es von allen Seiten und die ersten Menschen registrierte das fehlende Blinken an Kays Arm, schrien und zeigten mit dem Finger auf sie. „Hier! Die ist es. Die da!“
In der Ferne ertönten Sirenen. Verzweifelt klammerte sich Kay inmitten des Schubsens und Zerrens an seine Hand. Ihr Herz raste wie wild, als Jo sie im Zickzack durch die aufgeregte Menge manövrierte. Die Einsatzwagen der Wächter kamen näher und näher und rasten dann an ihnen vorbei Richtung Süden. Kay durchlief ein eisiger Schauer. In Jos Augen sah sie die gleiche Angst, den gleichen furchtbaren Gedanken: Ben und Paula! Obwohl sie wussten, dass sie zu spät kommen würden, rannten sie weiter, drängten sich durch die Traube aus neugierigen Passanten, die dich vor dem Wohnblock gebildet hatte und dann sahen sie sie. Kay wollte schreien, wollte sich auf die Wächter stürzen, die Ben und Paula aus dem Hauseingang zum Wagen zerrten, doch Jo hielt sie eng umklammert, eine Hand fest auf ihren Mund gepresst. Für einen Moment hob Ben den Kopf und blickte sich suchend um. Trotz des Blutes, das ihm aus einer Wunde über Schläfe und Augen rann, erkannte Kay ein kurzes Leuchten in seinen Augen, als er sie in der Menge entdeckte. Dann senkte er schnell den Kopf und Jo zerrte sie fort.
„Ruhe verdammt!“ krächzte es aus einem stinkenden Haufen in der hinteren Ecke.
Kay trat näher und entdeckte einen Kopf mit wirrem, verfilztem, grauen Haar, der aus dem Bündel Decken herausschaute und schnarchte. Sie schüttelte die Hexe, die wieder eingenickt war, unsanft an der Schulter, bis sich die Alte mit einem mürrischen Grummeln aufsetzte. Aus ihrem Mund roch es nach billigem Fusel, doch ihre Augen blitzten hell und stechend, als sie Kays schimmernden Overall sah. „Feines Stöffchen. So leuchtend. So rein.“
„Ich brauche einen Zauber. Ich muss in die Vergangenheit. Meinen Bruder retten.“
Die knochige Hand der Hexe befingerte den weichen Stoff. „Dann gib mir das hier.“
Ohne zu zögern schlüpfte Kay aus dem Overall. Die Alte betrachtete ihren nackten Körper und warf ihr ein altes zerfressenes Fell zu, das früher vielleicht einmal weiß gewesen war. Kay ignorierte den Gestank und wickelte sich schnell in den Fetzen.
„Durch die Zeit willst du reisen“, brummte die Alte und steckte ihre krumme Nase in den schimmernden Stoff. „Hab schon lange keinen Zauber mehr gewirkt. Niemand kommt. Niemand glaubt mehr an die alten Raven. Niemand glaubt noch an Magie. Ein Zeit-Zauber, also. Nicht so einfach. Nicht so einfach. Du kannst nie mehr zurück.“
Jo griff nach Kays Schulter, doch sie schüttelte ihn ab. „Ist mir egal. Hier hält mich nichts. Ich mache es. Du kannst es doch noch, oder?“ Kay riss der Alten den Overall aus den Händen. „Fang an. Den behalte ich, bis du den Zauber gewirkt hast.“
„Unfreundlich“, grummelte die Alte, aber sie fing an, ein paar Dinge zusammen zu suchen. „Unfreundlich, aber entschlossen. Entschlossen muss man sein, um sich nicht in der Zeit zu verlieren.“ Sie zeichnete um Kay einen Kreis auf den Boden der Hütte und murmelte Worte, die Kay nicht verstand. Die Hütte fing an sich vor ihren Augen zu drehen. Sie sah Jos entsetztes Gesicht auftauchen und verschwinden
„Was muss ich tun?“, schrie sie. „Wie halte ich an?“
„Du musst das Ende bestimmen. Das Ende.“
Kay wirbelte durch die Straßen der Bubble. Die Einsatzwagen der Wächter tauchten auf und verschwanden. Sie sah den Passanten, mit dem sie zusammengestoßen war vor ihren Augen erscheinen und verschwinden. „Jetzt“, dachte Kay. „Jetzt kann ich Ben warnen.“ Doch was dann? Und sie ließ los, trieb weiter zurück in der Zeit. Sah Ben aus der Hütte schleichen, auf dem Weg in ein neues Glück. „Jetzt“, beschloss Kay. Sie würde ihn bitten nicht in die Bubble zu flüchten. Doch dann erinnerte sie sich an Jolandas alten Körper, wie er im Hochwasser forttrieb und sie drehte sich weiter durch die Zeit. Sie würde Jolanda warnen, nicht auf den Steg zu gehen. Und Vater? Vielleicht fand sie Vater? Kay drehte sich weiter und weiter in der Zeit. Sah all die Menschen, die mit den Katastrophen in den Outlands kämpften. Sie musste das in Ordnung bringen. Die Outlands und die Bubble. Das war alles so falsch. Und plötzlich wusste sie, dass sie weiter zurück musste. Weiter und weiter bis zu den Vorfahren. Sie musste den Vorfahren sagen, was passieren würde, wenn sie den Klimawandel nicht stoppten, dass es keinen Schutz gab, nicht für alle und zu einem hohen Preis. Und plötzlich spürte sie ein Ziehen in ihren Gliedern, das alte Fell schien mit ihrer Haut zu verschmelzen. Da war ein Drängen und Sehnen. Eine Kraft, die sie bestärkte, sie führte, sie leitete, ganz sicher auf einen Punkt zusteuerte. Und plötzlich ließ das Drehen nach, spürte sie Boden unter ihren Tatzen. Schwankenden Boden im eisigen Wind.
„Wäre ich auch, wenn mir mein Zuhause unter den Füßen wegschmelzen würde“, erwiderte Ben und fing mit dem Richtmikrophon das Brüllen des Tieres ein. „Ich glaube wir haben´s. Jetzt ab ins Hotel und unter die heiße Dusche. Ich spür meine Beine kaum noch.“ Er gab der Crew das Zeichen zum Aufbruch und das Schiff drehte bei.
„Meinst du unser Film bringt was? Sind die Leute nicht zu faul, um ihr Verhalten zu ändern? Haben wir überhaupt eine Chance es noch hinzukriegen mit dem Klima?“
Ben warf einen letzten Blick auf den Eisbären, der am Horizont verschwand und er hatte plötzlich ein gutes Gefühl.