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Die Comtesse in der Kiste
Der November brachte jene feuchte Kälte, die durch die Kleidung kriecht wie der Schwarze Tod durch das finstere Mittelalter. Das Land zwischen den Hügeln der Nordmark und den endlosen Schilffeldern von Mordac wurde heimgesucht von einem Herbst, der die Bewohner der Gegend schwermütig werden ließ.
Als Ratsmann der Königlichen Gesellschaft zur Erforschung Unnatürlicher Phänomene war ich unterwegs, um Untersuchungen über einen gewissen Comte de Guipavas anzustellen. Im Laufe des vergangenen Jahres war er mehrmals in vornehmen Pariser Häusern aufgefallen - durch ruchlose Drohungen gegenüber gebildeten Herren, die die Courage besessen hatten, seine vermeintlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse anzuzweifeln. Inzwischen ließ er sich dort nicht mehr blicken – Grund genug für die umtriebige Königliche Gesellschaft, zu prüfen, ob der Comte seine sonderbaren Arbeiten eingestellt hatte, oder ihnen weiterhin nachging, womöglich gar erfolgreich.
Viel zu früh verdunkelte sich der Tag, als ich unter feuchten Baumgerippen zum Palais des Comte wanderte. Mein Mantel hing nass und schwer an mir, und ich sehnte mich nach dem wärmenden Kaminfeuer in der Stube.
Eilig legte ich die letzten Schritte zurück, stand bald vor der schlichten Eichentür und klopfte energisch. Ich zählte lautlos ... sieben, acht, neun ... dann ging die Tür auf. Ein kleines Männlein sah zu mir hinauf. Sein Gesicht erinnerte mich an die beklagenswerte Wasserleiche, die man letzten Montag aus der Seine gezogen hatte.
»Monsieur«, schnarrte der Bedienstete mit einer Stimme, die einem mechanischen Gerät zu entspringen schien.
»Ist Monsieur le Comte zu sprechen?«
Das Männlein musterte mich. »Wen darf ich melden?«, fragte es.
Ich nannte meinen Namen und meine Mission und wurde hineingebeten. Der Bedienstete nahm mir Hut und Mantel ab, dann machte er sich davon, um dem Comte meine Ankunft zu melden.
Während ich wartete, ließ ich meinen Blick schweifen. Wenige Lampen erhellten winzige Flecken des schmucklosen Vorraums. Die Tür zum großen Wohnsaal stand offen; ich sah Wandteppiche, Regale voller Bücher, hörte das Knistern des Feuers. Es nahm mich gefangen in einer wohligen Decke der Beschaulichkeit.
»Monsieur«, schreckte mich eine schneidende Stimme auf. Der große, in schwarz und rot gewandete Mann bot mir seine Hand an. »Seien Sie an diesem Abend mein Gast«, bat er, aber sein Lächeln war das einer Maske, die eine Fratze des Unwillens kaum verbarg. Er führte mich zu zwei Sesseln am Kamin, und sein Bediensteter servierte wortlos zwei Kelche mit Wein. Wir nahmen Platz, und ich beobachtete einen Moment lang das Lichtspiel der Flammen in der dunkelroten Flüssigkeit. Währenddessen überlegte ich, wie ich den Comte am günstigsten auf seine Arbeiten ansprechen konnte. Ich beschloss, zunächst nicht von mir aus auf das fragliche Thema zu kommen; da ich mich ja offen zu erkennen gegeben hatte, würde mein Gastgeber früher oder später selbst damit anfangen.
»Trinken wir auf den König. Und auf das Leben«, sprach der Comte vieldeutig und hob sein Glas. Wir tranken von dem schweren Tropfen, und mir wurde sofort warm. Nach einem Moment des genussvollen Schweigens fragte mein Gastgeber: »Monsieur, kennen Sie das Gefühl, als habe Ihr Leben eine Lücke?«
Ich lächelte in mich hinein, denn meine Strategie funktionierte offenkundig. So beliebig seine Frage auch klingen mochte: Sie war sicher nichts anderes als der Beginn einer Vorrede, an deren Ende er seine Forschungen preisgeben würde.
Bevor ich antworten konnte, fuhr der Comte fort: »Wären Sie ein Buch, ein Werk von Dante zum Beispiel ...« Er sprang auf. Zwei Schritte – nein, Sprünge – und er stand an der hohen Regalwand. Schon hielt er Die Göttliche Komödie in der Hand. »Wären Sie ein Buch, würden Seiten darin fehlen? Das letzte Kapitel vielleicht ...« Er blätterte in dem Band. »Das Paradies?« Er kam zurück zum Kamin und sein Blick bohrte sich in meine Welt. »Hatten Sie, Monsieur, je das Gefühl: Gestern ... war kein Tag?«
Seine Augen entließen mich, er richtete sich auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich brauche Ihre Antwort nicht. Vielleicht lautet sie: Nein. Dann, Monsieur, haben Sie nie einen geliebten Menschen verloren.«
Es war nicht so, dass ich nicht hätte antworten wollen. Ich konnte nicht. Eine warme Kraft zerrte meine Augenlider nach unten ... natürlich ... war etwas im Wein ... wie dumm von mir ...
Ich erwachte in Dunkelheit. Mein schwerer Kopf lag auf weichen Kissen, und als ich mich von dem Bett erhob, in das man mich gebracht hatte, schien ich zu schweben. Die Stille der Nacht machte das geringste Geräusch zu einem Leuchtfeuer am Rande einer wellenförmig verzerrten Welt, das mein einziges Ziel sein konnte. Die Erinnerung an meinen Weg hinunter in die feuchten Keller des Palais liegt hinter Vorhängen aus Samt, blutrot wie der Wein, der mich betäubte. Das Geräusch, dem ich folgte, wurde zu einem Flüstern, dann zu einem dünnen Gesang. Meine Hände klammerten sich an das grobe Mauerwerk, als ich wie hinter einem roten Nebel den Comte de Guipavas sah, wie er auf einem einfachen Stuhl saß. Neben ihm flackerten Kerzen auf einem einfachen Tisch. Fast völlig im Dunkeln stand am Boden eine längliche Kiste. Obwohl meine Gedanken träge wie Honig tropften, erkannte ich sofort die Form. Den Sarg. Den Sarg, der nicht begraben war. Den Sarg, der keinen Deckel besaß. Den Sarg, aus dem heraus die schwache Stimme Dante rezitierte:
»Zur Fahrt in bess’re Fluten aufgezogen
Hat seine Segel meines Geistes Kahn,
Und läßt nun hinter sich so grimme Wogen.«
Ich schob mich zitternd vor, um einen Blick in die Kiste zu erhaschen, obwohl mir dünkte, dass mich ein grausiger Anblick erwarten würde. Einen Schritt, lautlos, in den Raum hinein, dann noch einen ...
Dann sprach der Comte, auf seinem Gesicht ein vom Kerzenlicht gezeichnetes, wie zerbrochen erscheinendes Lächeln: »Ins Meer des Nichts wirst du nie mehr entfleuchen, du ...« Der Sarg lag im Schatten, ich musste noch einen Schritt tun ...
Dann sah mich der Comte.
»Das ist unmöglich«, zischte er. »Das Schlafmittel hätte für die ganze Nacht reichen sollen!«
Mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, war er bei mir. Ich spürte seinen Hieb kaum, fiel wie durch Watte zurück in die samtene Dunkelheit des vergifteten Weins.
Mein zweites Erwachen in diesem verfluchten Haus war weitaus unangenehmer als das erste. Da ein furchtbares Hämmern meinen Kopf zu sprengen drohte, wollte ich mit der Hand an meine Stirn fassen – allein, es ging nicht. Ich zerrte an einem festen Seil. Spürte Stoff vor meinen Augen, nahm dahinter nichts als gedämpftes Tageslicht wahr, stemmte mich gegen die Fesseln, die mich in liegender Stellung auf einem harten Untergrund hielten.
»Es hat keinen Sinn, sich gegen diese Knoten zu sträuben«, hörte ich die Stimme des Comte.
»Monsieur«, begann ich, aber meine Stimme gab nicht mehr als dieses eine Wort her, und auch das schien eher dem Mund eines gebrechlichen Fremden entsprungen zu sein, nicht meinem.
»Schenken Sie mir Ihr Ohr, Verehrter Ratsherr«, sprach der Comte. Es klang, als setze er sich auf einen Stuhl neben meinem Kopf. »Eines Tages werde ich meine Forschungen vielleicht der Königlichen Gesellschaft zugänglich machen. Aber im Moment ziehe ich es vor, sie ausschließlich für mich zu verwenden. Für meine persönlichen Zwecke. Sie haben sicher bereits richtig erkannt, Monsieur, dass meine Gemahlin, die Comtesse, zwar verstorben ...« Seine Stimme näherte sich mir. »... aber keineswegs von mir gegangen ist.«
»Bei Gott«, entfuhr es mir.
»Gott hat nicht das geringste damit zu tun«, erklärte der Comte leicht belustigt, »wie könnte er auch, da er nicht einmal existiert.« Ich wollte etwas entgegnen, wurde aber unterbrochen. »Aber darüber will ich nicht mit Ihnen reden, Monsieur. Sie sollen erfahren, wie ich einen Menschen vor dem Tod bewahre, indem ich den Vorgang des Sterbens unterbreche, um den Zustand des Halbtods zu verewigen.«
»Erklären Sie es mir«, bat ich.
»Nein, Monsieur.« Seine Stimme war jetzt ganz dicht an meinem Ohr. »Sie werden es am eigenen Leib erfahren.«
»Nein!«, rief ich und zerrte an meinen Fesseln. Erfolglos, verzweifelt.
Der Comte war aufgestanden, er schien in einiger Entfernung mit metallischen Gegenständen zu hantieren. »Meine Methode ist sehr einfach«, erklärte der Comte, »sie basiert darauf, dass der Geist völlig vergisst, zu sterben, wenn er davon abgelenkt wird. Diese Ablenkung gelingt am besten ... durch unerträgliche Schmerzen.«
Ich zuckte zusammen. Meine Augen waren verbunden, und doch war mir, als sähe ich den Comte mit einer Anzahl scharfer Folterwerkzeuge hantieren, die er gleich an mir anwenden würde.
»Sie haben die Comtesse zu Tode gequält!«, schrie ich.
»In den Halbtod«, verbesserte mich der Comte, »und sie wäre sowieso gestorben, die Ärzte gaben mir keine Hoffnung mehr.«
»Sie sind verrückt!«
»Ich denke«, sagte der Comte, »dass wir für den Moment genug geredet haben. Sie sind zu erregt für ein freundliches Gespräch. Ich bin aber sicher, dass wir viele heitere Unterredungen haben werden, wenn Sie den unangenehmen Vorgang erst einmal hinter sich haben und im Halbtod verewigt sind. Ich verspreche Ihnen kein ewiges Leben, aber, Monsieur – nachdem Sie die Hölle der Prozedur durchlitten haben, werden Sie die wahre Hölle niemals sehen.«
Mein ganzer Körper explodierte in einem unnatürlichen Schrei.
Es ist wohltuend, dass das menschliche Gehirn nicht selten unangenehme Erinnerungen verdrängt. Dies geschah auch mit den Stunden, wenn nicht Tagen, die der Comte damit verbrachte, mir schmerzende Mittel zu verabreichen, meine Glieder langsam abzutrennen und die restlichen anzuzünden oder mit Säure zu übergießen. Ich kann nicht behaupten, dass ich die Prozedur überlebt habe. Und doch bin ich nicht tot. Immerhin kann ich Ihnen ja diesen Bericht erstatten.
Der Halbtod ist gar nicht so schlecht, wissen Sie. Ich liege in einer eigenen Kiste direkt neben jener der Comtesse, und auch wenn ich ihr Gesicht nie sah, so habe ich doch ihre Schönheit erkannt. Ich sehe nicht, wie ich verwese, kann es nicht fühlen, spüre keine Angst vor dem Tod, der nach den Worten des Comte nicht mehr sicherer Teil unserer Zukunft ist. Zwar macht es mich traurig, meine Füße nie mehr in die Natur setzen zu können, nie mehr die Sonne zu sehen, nicht einmal den Regen oder einen Wurm, der meine Organe verzehrt. Aber die Comtesse ist mir ein lieber Trost. Wenn der Comte nicht zugegen ist, reden wir ohne Unterlass miteinander, und ich möchte Ihnen etwas verraten, lieber Freund. Ernestine – das ist der Vorname der Comtesse – hat mir ihre geheimsten Gelüste offenbart. Nicht ihrem Gemahl, der ihr unbeschreibliche Qualen zumutete, und dem sie vorgibt treu zu sein. Sondern mir, ihrem Leidensgenossen, dem einzigen Menschen, der ihr Schicksal teilt, der sie verstehen kann, weil er ist wie sie.
Fast scheint es, als könnten wir einander berühren, obwohl unsere zerstörten, verfallenden Körper bloß in zwei getrennten Kisten nebeneinander liegen. Unsere unsterblichen Seelen machen nicht Halt vor den Holzbrettern, treffen sich in der Mitte, durchdringen einander, sind eins.
Es erregt mich mehr, als ich es je verspürt habe, und es lässt mich gern vergessen, dass mir der Comte auch jenes Organ abgetrennt hat, mit dem ich nun im Geiste fast jeden Tag in seine geliebte Gemahlin eindringe.