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Die, die noch da sind.
Wir werden immer weniger. Wie ein kräftiger Strom formten wir einst das Land. Voller Kraft prägten wir die Jahrzehnte. Unmerklich hat der Strom an Kraft verloren. An Bedeutung. An Glanz. Ein quälendes Rinnsal sind wir geworden. Ein Rinnsal das endgültig zu versiegen droht. Bis auch die letzten Tropfen verschwunden sind.
Wie stolz wir einst waren! Kriege haben wir begonnen. Kriege haben wir verloren. Demokratien haben wir erschaffen. Demokratien haben wir zerstört.
Hunderte, tausende sind wir gewesen! Und nun sind wir einfach die, die noch da sind. Die Alten. Die Senioren. Die Senilen.
Früher bevölkerten wir die Welt. Heute siechen wir in den Spitälern, schlurfen in den Pflegeheimen und ab und an sieht man einen von uns mit langsamen Schritten auf dem langen Weg in den Dorfladen. Das sind die, die Glück haben. Die Glücklichen. Die, die noch Zuhause wohnen können. Denken wir Anderen. Die, die etwas weniger Glück haben. Die, die in den Pflegeheimen wohnen und aus den Fenstern starren.
Doch etwas haben all unsere Blicke gemeinsam. In ihnen spiegelt sich die Angst. Die Angst vor dem nächsten Sturz. Die Angst vor der nächsten Nacht. Die Angst vor der Zukunft und dem Tod. Eine Zukunft die wir eigentlich nicht sehen wollen. Genau so wenig, wie die jüngeren Generationen unsere leeren Blicke richtig deuten wollen. Nichts sehen. Nichts sagen. Nicht wissen.
"Wie geht es Ihnen heute?"
"Ich habe Angst."
"Ach, heute wird ein guter Tag! Sie kriegen doch Besuch."
Ach, die jungen Menschen. Die, die da sind. Also alle anderen. Nur nicht wir.
Wenn ich durch das Fenster meines Zimmers schaue, sehe ich nicht jene einzelne Lärche im Park, sondern den Pausenhof meiner alten Schule. Wenn ich die Augen schliesse, träume ich nicht von den Erlebnissen des vergangenen Tages, sondern von meinem ersten Kuss in einer dunklen Tiefgarage. Wenn ich mein Spiegelbild betrachte, sehe ich nicht den unbehaarten alten Mann, sondern den sonnengebräunten Jüngling, den ich einmal war. Alles würde ich geben, um noch einmal mit dem Fussball vor den Füssen auf das gegnerische Tor zu stürmen. Voller Kraft. Voller Freude am Leben. Wie gerne würde ich noch einmal den Ärger spüren, die blinde Wut auf den Gegner, wenn ein Spiel verloren gegangen ist. Die Furcht vor einer Prüfung. Das Glück an der Diplomfeier. Die Nervosität vor der Hochzeit. Wie gerne würde ich noch einmal mehr fühlen, als die Vorfreude auf den nächsten Besuch meines Enkels und das leise Frösteln beim Gedanken an die nächsten Jahre.
Ein Leben lang habe ich gewusst, dass er eines Tages kommen würde. Immer hatte ich gedacht, dass es dann einfacher wäre. Welcher alte Mann hat schon angst vor dem Tod? So ist eben der Lauf der Dinge. Wehr dich nicht. Lass es sein. Verbrauch nicht dein ganzes Erspartes. Deinen Kindern zuliebe. Ehrlich gefreut dich zu sehen, hat sich schon lange niemand mehr. Quatsch, sage ich mir. Die bösen Gedanken eines Geistes, der sich zu viele Gedanken machen kann. Wenigstens kann ich noch denken. Denke ich. Nicht so wie die armen Teufel, die ihre Verwandten nicht mehr erkennen. Herzzerreißend, die vergebenen Versuche das Aussehen ihrer eigenen Kinder in der kleinen Agenda festzuhalten um sie beim nächsten Besuch identifizieren zu können. Alzheimer. Das Damoklesschwert eines jeden Lebens. Genetisch vererbbar. Ich habe die Gene nicht. Sage ich mir immer wieder. Dann besonders laut, wenn Wissen fehlt, das vor einigen Jahren noch da gewesen ist... Vielleicht werde ich einmal nicht mehr gehen können. Vielleicht werde ich einmal nicht mehr essen können. Vielleicht werde ich einmal nicht mehr atmen können. Doch meinen Geist werde ich dem Alter nicht auch noch überlassen! Denn was wäre ich ohne meinen Geist? Ohne meine Erinnerungen? Deshalb sage ich es mir immer wieder. Dich trifft es nicht. Du hast die Gene nicht.
Ich gehe nun an den See und werde mich eine halbe Stunde auf die rote Bank setzen. Eine halbe Stunde werde ich draussen sein. Mitten unter den Jungen. Sie werden mich nicht sehen. Sie werden, wie immer an mir vorbei gehen. Sie werden sich an alles Erinnern, ausser an den alten Mann auf der Bank. Doch es ist ok. Wir sind halt die, die noch da sind. Jeden Trifft es. Das Alter. Ich kann es ihnen nicht neiden. Auch ich war einmal jung. Auch in meinem Leben hat es sie gegeben. Die Alten. Habe ich sie dazumals gesehen? Nein. Also ist es schon ok. Ich nehme den Stock, schliesse das Zimmer und gehe.
So stelle ich es mir vor. Das Alter. Zum Glück ist es noch sechzig Jahre entfernt. Zum Glück muss ich mich noch nicht darum kümmern. Nur manchmal schleicht es sich in mein Leben. Wenn ich sie sehe. Sie, die noch da sind.