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Die dunkle Straße (Horrorversion)
Die Straße liegt im Dunkeln da,
Leer und weit, wie immerdar.
Du kannst nicht vorbei,
Du musst durchgeh’n.
Und niemand hört den Schrei,
Durch den sich deine Wangen bläh’n.
Die Straße liegt im Dunkeln. Das ist immer so, wenn ich sie sehe. Jedes Mal. Immer.
Nie habe ich sie im Licht gesehen. Und jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, verspüre ich einen unerklärlichen Drang, hineinzugehen. Ich weiß nicht, wie die Straße heißt, es ist nirgends ein Straßenschild zu sehen. Auch die Gegend kenne ich nicht. Nirgends ein Anhaltspunkt, wo ich mich befinden könnte.
Jedes Mal, wenn ich am Straßeneingang vorbeigehe, kreuzt eine weiße Katze meinen Weg. Manchmal ist sie grau.
Die Katze miaut einmal. Wenn sie grau ist, zweimal. Immer, wenn ich dieses Geräusch höre, zieht die Straße mich stärker an, als zuvor. Irgendetwas in ihr scheint einen geheimnisvollen Sog auf mich auszuüben.
Ich gebe nie nach. Ich kämpfe. Ich kämpfe gegen den Sog. Die magische Anziehung. Wie immer Sie es nennen wollen. Aber jedes Mal muss ich mich mehr anstrengen, dauert es länger, bis ich aus dem Anziehungsfeld bin. So darf es nicht weitergehen. In nicht allzu ferner Zeit, wird sie meinen Widerstand brechen wie einen Zweig.
Der Psychiater machte sich Notizen.
„Hm, hm“, sagte er dazu, weil er dem Patienten das Gefühl geben wollte, in kompetenten Händen zu sein. Patienten lassen sich vielleicht durch Diplome beeindrucken, aber nichts geht über ein ‚Hm, hm’, während man sich etwas notiert. „Und das träumen Sie jede Nacht?“
„Ja. Und mit jeder weiteren Nacht dauert es kürzer, bis die Straße mich einsaugen wird.“
„Aber ... es ist doch nur ein Traum. ... Das ist nicht die Realität.“
Der Patient richtete sich ruckartig von der Couch auf. Der Psychiater hatte Mühe, nicht zusammenzuzucken. Niemals Schwäche gegenüber einem Patienten zeigen.
„Das ist kein Traum! Es ist alles real! Natürlich, ich bin nur dort, während ich schlafe. Aber es ist nicht, wie in einem Traum! In einem Traum sehen Sie alles verschwommen. Aber ich kann sogar die Kanalisation durch einen Gullydeckel dort riechen! Verdammt, ich schwitze sogar vor Anstrengung!“
Der Psychiater war überfordert. Er verwies den Patienten in eine Klinik für psychisch Gestörte.
Der dortige Chefarzt vermutete in der Straße die Verkörperung der Ängste des Patienten. Er hielt es für gut, auf den Traum zu warten, in dem er eingesogen werden würde.
Das wäre die Erlösung für den Patienten.
Die Wochen vergingen. Vor dem Einschlafen war der Patient sorgenvoller als am Tag zuvor.
Eines Abends kam er zum Chefarzt:
„Heute ist es soweit. Heute werde ich nicht stark genug sein.“
„Na, dann werden wir ja morgen sehen, was es bewirkt hat“, antwortete der Chefarzt mit väterlichem Lächeln.
„Sie verstehen nicht! Es sind keine Träume! Wenn ich eingesogen werde, werde ich verschwinden!“
„Ich versichere Ihnen, morgen werde ich Sie höchstpersönlich wecken und Sie werden sehen, dass es Ihnen besser gehen wird.“
„Ich kann Sie nicht überzeugen, ... ich kann Sie nicht überzeugen ...“, murmelte er vor sich hin, vielleicht sich nicht einmal bewusst, dass er es laut gesagt hatte. „Dann geben Sie mir bitte einen Pfleger mit in meine Zelle, damit ich nicht einschlafe. Bitte.“
„Wo kämen wir denn da hin, wenn ich jedem Patienten einen Pfleger auf seine Zelle mitgeben würde? Oder ganz allgemein mich nach den Wünschen der Insassen richten würde? Nein, nein, Sie werden heute schlafen und morgen von Ihren Ängsten befreit sein.“
„Aber – “
„Gute Nacht!“
Der Chefarzt drückte einen Knopf und zwei kräftige Pfleger kamen ins Zimmer und waren dem Patienten beim Gang zu seiner Zelle behilflich.
Um zwei Uhr morgens hörte die Nachtschwester Geschrei aus Zelle 3. Sie legte ihr Buch beiseite und schritt zu besagter Zelle. Dort schaute sie durch das kleine quadratische Fenster, das in die Tür eingelassen war. Ihr klappte der Mund auf:
Der Patient schlug wild mit den Armen um sich und bewegte seine Beine so, als ob er sich fortbewegen wollte. Außerdem schien er sich ... aufzulösen ...
Die Schwester rannte zu ihrem Pult zurück und alarmierte den Chefarzt.
Am nächsten Morgen war die Geschichte in aller Munde:
Der Patient aus Zelle 3 war über Nacht spurlos verschwunden. Die Zellentür zeigte keine Gewalteinwirkung und ein Fenster gab es nicht.
„Und warum erzählen Sie mir das alles?“, fragte der Psychiater.
Der Chefarzt sah ihn lange an, bevor er antwortete:
„Gestern träumte ich von einer dunklen Straße.“