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Die Durchquerung des Raumes
Die Durchquerung des Raumes
Lange schon ist an der Decke des niedrigen Raumes ein Fleck zu erkennen. Seit ungezählten Stunden bahnt sich eine Flüssigkeit ihren Weg durch den Beton, folgt Rissen und Hohlräumen und durchquert so die Grenze zwischen draußen und drinnen. Es ist kalt und riecht nach Schimmel, riecht nach frischem Wasser, das im Sommer die Kehle hinab rinnt. Es ist der Geruch von Erfrischung, Hauch der Vergänglichkeit.
Bis auf einen Stuhl ist das Zimmer leer. Er ist aus Holz, abgenutzt, verwittert, als wäre er tagein, tagaus schlechtem Wetter ausgesetzt, obwohl er nie anderswo steht. Der Stuhl steht mit dem Rücken zu einer Tür, die vom Boden bis zur Decke reicht. Auch sie ist aus Holz und längst reparaturbedürftig. Daran ist kein Schloss, auch kein Riegel; lediglich ein Holzgriff, sie zu öffnen oder zu schließen.
In der Mitte des Flecks an der Decke bildet sich zaghaft ein Tropfen. Die Stille strengt an, aber das Auge fixiert ihn, möchte nichts übersehen, wagt nicht, sich abzuwenden. Stunde um Stunde beobachtet es, und endlich verändert sich etwas.
Der Tropfen wird herabfallen, doch er scheint sich nicht von der Decke lösen zu wollen, kämpft um seinen Halt, so dass sich ein Faden bildet, der ein Stück weit ins Nichts des Zimmers hineinreicht, bis die Oberflächenspannung verpufft. Jetzt ist der Tropfen für sich, folgt seiner Mission, durchquert das Drinnen und weiß nicht, dass sein Weg erneut über die Grenze ins Draußen führen wird. Er pulsiert auf seinem Weg, tanzt, als sei er lebendig und als er gewahr wird, zu fliegen, ihm klar wird, dass er existiert, endet sein Dasein. Am Boden zerplatzt er in tausend Teile, und ein Zeuge dieses Wunders des Lebens kann niemandem Bericht erstatten, denn es gibt keinen.
Die Splitter des Tropfens heben sich ganz plötzlich empor, zittern und breiten sich aus zu einer flüssigen Kugel, welche die Struktur des Bodens wie eine Lupe vergrößert und Einblick gewährt in eine Welt jenseits der unseren mit Stühlen, Türen, Gedanken und Tod.
Das Schauspiel erfordert Aufmerksamkeit, verhindert, etwas anderes wahrzunehmen. Erst als die Kugel wieder zerfließt, lösen sich die Blicke. Der Stuhl. Dort sitzt ein Mann. Er ist alt. Er ist ausgemergelt, sitzt gekrümmt und hält eine Gabel, von deren Zinken zwei abgebrochen sind. Er ist nackt und hockt an einem Tisch, doch der ist nur in seiner Wahrnehmung vorhanden, wie es scheint. Der Mann öffnet eine Schublade in seinem Bauch, tastet darin herum und holt endlich einen Blechteller heraus, den er lautlos vor sich abstellt. Da fällt ein Tropfen von der Decke in den Teller und dünne Suppe spritzt dem Alten entgegen.
Die Bewegungen des Mannes sind träge. Seine Hand zittert, als er versucht, von der Suppe zu essen. Dass er nichts ausrichtet, bemerkt er nicht.
Langsam erhebt er sich. Er stützt sich am Tisch ab, verliert den Halt und schafft es in letzter Sekunde, die andere Hand zur Hilfe zu nehmen, die er ungeschickt auf den Tellerrand legt. Suppe fließt über Hand und Tisch und Stuhl. Er registriert es nicht, dreht sich zur Tür, während er mit der Hand den Teller vom Tisch fegt und den Stuhl umwirft. Das irritiert ihn, und er macht einen Schritt, verfängt sich in den Beinen des Stuhls, stürzt hinten über. Es knackt, es splittert, ein Knochen durchbohrt ranziges Fleisch. Weit offen ist der Mund des Alten, doch da ist nichts, was man hören könnte. Nichts als das Schaben schlaffer Haut auf Stein. Die Fingernägel knirschen, brechen. Am Holzgriff der Türe zieht er sich jetzt hoch. Ein Nagel löst sich, dann ein zweiter. Feucht klingt das, wie das Auslösen der Innereien beim Fisch. Der zahnlose Mund ist immer noch offen, die Augen tränen, aber er steht, der Mann, an der Tür, hinter der es schreit.
Die Tür öffnet sich ganz von selbst, mit Kraft, denn der sterbende Greis wird hinein gezerrt. Wieder das feuchte Geräusch. Die Hand hängt am Griff, hängt am Nagel, hängt an der Tür. Diese in der Angel. Im Beton. Der Alte blickt ihr hinterher, auf seine Hand, am Griff, am Nagel, blickt auf seinen Arm, dem die Hand fehlt. Da schließt er den Mund und bekommt große Augen. Er taumelt in den Gang, stolpert, den Schreien entgegen.
Die Beine brechen entzwei, mitten durch, hängen nur noch an den feuchten Fetzen von Haut.
Er ist nicht da. Nicht wie erwartet, nein, er ist nur noch staubige Reste, ist geworden, was er immer war. Wer schreit? Wer tobt? Weg, schnellstens weg, laufen! Sackgasse.
Eine Maschine. Eiserne Rohre, rostige Gitter. Leitungen und Schläuche die zu einem Tisch führen, der zum Gebären, zum Auslöschen dient. Sichtbar ist er diesmal. Organisch geformt, weiblich weich, hart und kalt. Der Tisch ist ein Stuhl, ist ein Bett. Die Maschine läuft an. Noch immer Geschrei, lauter inzwischen, gefesselt in den Apparat wird klar, dass alles verspielt ist, vertan. Immer schneller läuft der Kreisel, sprüht Funken und singt ein ungnädiges Lied von der Freiheit von Tod und vom Leben. Alles wird schwarz, durchzuckt von Blitzen und Flackern. Alte Haut, ein Mensch, dem Ende nah. Hautfalten hängen tot herab, zwei leergesaugte Brüste, die wie nutzlose Anhängsel da liegen. Sie reichen starr bis zu den Schenkeln. Nichts bleibt übrig. Nichts außer der Erinnerung, und die wird sterben - jetzt. Ein Tropfen löst sich aus der Mitte.
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