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Die einsame Masse
Bill war Sachbearbeiter in einem Büro. Es war später Nachmittag. Seine Kollegen gingen gerade in den Feierabend.
“Und grüß die Kinder von mir.“
“Mach ich, Bill. Und meine Frau lässt dich auch herzlich grüßen“, verabschiedete sich Mark.
“Ach, Danke. Das ist ja lieb. Bis morgen dann!“, antwortete er.
Seine Frau? Kannte sie ihn überhaupt? Vermutlich genauso, wie er Marks Kinder kannte: Erzählungen und Erzählungen. Alle erzählten, alle hörten zu. Alle machten Witze und alle lachten. Doch niemand erzählte wirklich etwas. Also konnte auch niemand richtig zuhören. Man redete, aber sagte nichts, man hörte zu, doch verstand nichts.
Ohne es zu wissen oder es gar als merkwürdig zu empfinden, taten Bills Kollegen das, was jeder tat. Zumindest jeder, den Bill je getroffen hatte. Sie waren nicht sie selbst. Sie verstellten sich.
Sie arbeiteten hart an Projekten, die ihnen egal waren, sie liebten ihre Partner, obwohl sie sie nicht kannten, und sie taten dabei, als wären sie glücklich.
Sie erzählten von ihrem Urlaub, von ihren Familienfeiern oder auch von Festivals, auf denen sie gewesen waren, doch sie erzählten nie von sich. Ob sie die Musik gemocht hatten, ob sich der Urlaub gelohnt hatte oder ob die Familie einem wichtig war, davon erzählte niemand. Doch schlimmer war, dass niemand danach fragte.
Bill hatte es einmal versucht. Er hatte Mark gefragt, ob er seine Kinder liebe. Ob er stolz auf sie sei. Ob er sich Sorgen um ihre Zukunft mache.
Doch die Fragen hatten Mark so überrascht, dass sie ihn komplett aus dem Konzept gebracht hatten. Er stammelte etwas, sagte “Ja“, sagte “Nein“, und begann dann zu erzählen. Er erklärte Bill, dass Lynn Klarinette spielte und Tom gerade anfing, Fußball zu spielen, dass beide gute Noten in der Schule hätten, außer in Englisch, und dann zeigte er ihm noch ein Foto. Auf dem Foto lächelten alle und man sah Lynns Klarinette, Marks lustiges Grinsen und Toms Fußball. Alle schienen sie glücklich zu sein.
Als Bill das Büro abgeschlossen hatte, zu seinem Wagen spaziert war, und zuhause ankam, machte er sich mit viel Mühe und Liebe sein Abendessen. Er pflückte Rosmarin, Thymian und Basilikum aus seinem Garten, schnitt Tomaten und Oliven und rieb Käse und Karotten fein. Als er die selbstgemachten Nudeln in den Topf legte, krümmten sie sich und Bill freute sich. Er liebte es, abends Zeit zu haben und sich ein gutes Essen zubereiten zu können und nicht nur irgendetwas schnell warm machen zu müssen.
Danach, als die Sonne sich dem Horizont näherte, holte er seine Sachen und ging hinaus. Durch ein kleines Tor gelangte er in einen kleinen, aber sehr schönen Wald. Die Blätter waren saftig grün, die Stämme hart und der Boden feucht. An einem Fleckchen stellte er alles auf. Die Leinwand stellte er vor den Hocker und seine Farben und Pinsel daneben. Und dann begann er zu malen.
Er wusste, während er malte, waren seine Kollegen alleine zuhause. Sie spielten gemeinsam, und doch alleine, Online-Spiele, sie lasen Bücher, sie schrieben Kommentare und sie hinterließen Daumen hoch oder runter. Sie suchten Erfüllung in ihrem Leben, Freude, Spaß und Emotionen. Vergebens. Sie blieben alleine. Sie blieben einsam. Sie öffneten sich nicht der Welt, erwarteten aber, dass diese sie sich ihnen öffnen würde. Und am nächsten Montag würden sie freudig zur Arbeit gehen, motiviert, gelangweilt, zufrieden, traurig, einsam.
Bill wusste all das. Er hasste und verabscheute es, doch konnte nichts dagegen tun. Also malte er. Oft waren es Landschaftsbilder oder Naturzeichnungen, mit denen er versuchte die Welt und das Leben einzufangen.
Er zog Striche, erzeugte die grellsten Farben und abstraktesten Formen. Nach und nach nahm sein Bild Gestalt an. Es war ein Mann im Wald bei Nacht. Er atmete frische Luft ein, beobachtete die Sterne und hörte der Stille zu.
Niemand sonst war wach. Alle schliefen. Denn taucht der Einsame als Einziger aus der Einsamkeit, ist er noch immer einsam.