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Die ewige Konstante
Als ich zu den anderen stieß, war Sebi bereits betrunken und sang Lieder in einem derart grauenvollen Englisch, dass ich am liebsten sofort wieder kehrt gemacht hätte. Doch das Wetter draußen verhieß nichts Gutes. Vorhin an der Bushaltestelle hatte ich meine Hand ausgestreckt und die vielen Schneeflocken auf meinen Fingern schmelzen lassen; es hatte sich angefühlt wie unzählige kleine Nadeln, die in meine Haut stachen.
Der kleine Keller war verraucht und es roch nach verschüttetem Bier, die Möbel hatten zu müffeln angefangen und die Stimmung war ausgelassen.
Tom las in einem fetten Buch und blätterte nur langsam Seiten um, wahrscheinlich hatte er vorhin geraucht. Und Benni kam auf mich zu und klatschte mir seine feiste Hand auf die Schulter.
»Kommst spät, Klaus.«
Ich grinste. »Hatte noch zu tun.«
»Deine Eltern?«
»Mein Bruder. Hast du Bier?«
»Nur Becks.«
»Du machst Scherze.«
»Natürlich.«
Ich folgte ihm und wir setzten uns auf eins der Sofas. Es war grün bezogen und der Stoff war an vielen Stellen zerschlissen. Ich sah mich um, hier hatte sich nicht viel geändert seit dem letzten Mal, ein paar Poster hatten gewechselt.
Wie lange war es nun her, dass ich zum letzten Mal in Bennis Keller gewesen war? Sechs Wochen? Sieben? Ich konnte mich nicht daran erinnern und hatte keine Lust, nachzurechnen.
Sebi hatte inzwischen Bennis Gitarre gefunden und schrammte ein paar Akkorde.
Benni reichte mir ein Bier. Es war lauwarm, ich trank trotzdem davon.
»Und? Alles klar bei dir?«
Ich nickte. »Ja, alles klar.«
»Freundin?«
»Nope.«
Der Wind rüttelte an dem Fenster und ich genoss die wohlige Wärme, die im Keller herrschte. Benni musste die Heizung aufs Maximum aufgedreht haben, jedenfalls war die Luft heiß und trocken und brannte auf meinen vom Schnee kalten Wangen.
Tom setzte sich uns gegenüber, seine Augen müde. »Klausi, was machst du denn hier?«
»Benni hat mich eingeladen«, sagte ich.
Benni grinste.
Und Sebi begann zu singen:
Aber wir sind trotzdem alle hier.
Und freuen uns darüber.
»Hat er das selbst geschrieben?« fragte ich.
Die Zeit verging schnell und doch langweilte ich mich. Ich begann, mit der Bierflasche herumzuspielen, die einfach nicht leerer wurde. Benni erzählte mir allerlei Kram, über das Studium, über seine Probleme mit Kristin, aber ich hörte nur mit einem halben Ohr zu und gab hin und wieder einsilbige Antworten.
Tom war kurz nach draußen gegangen, um sich »neue Kippen« zu holen, wir alle wussten, dass das nicht stimmte. Er würde sich eine Tüte drehen und sie in der Garage rauchen, weil Benni das im Keller nicht leiden konnte.
Wir hatten kein Mitleid mit ihm, als er in die Kälte stiefelte. Zumindest ich nicht mehr.
»Immer die selbe Scheiße, Klausi, verstehst du?« fragte mich Benni. Sebi war inzwischen weggepennt, keine Ahnung, wie viel Bier er intus hatte. »Übrigens, neulich war ich im Theater.«
Ich zog die Brauen hoch und musterte ihn überrascht.
Er kicherte. »Nein, wirklich, war irgendsoein abgewrackter Scheiß über junge Menschen, die in einer Stadt leben, mit lebenden Wasserspeiern und Golems, die Fabrikarbeiter bedrohen. Und irgendwann hat dann jemand angefangen, sich auf der Bühne einen runterzuholen.«
»Wirklich?«
»Naja, das kann ich nicht sagen, aber es hat schon sehr echt ausgesehen. Und einer der Golems hat sich dann in einen jungen Mann verliebt.«
»In den Wixer?«
»Nein, der hatte nur ne Nebenrolle.«
Die Gitarre, eben noch gegen das Sofa gelehnt, fiel um und gab einen dissonanten Klang von sich. Benni fluchte und Sebi wachte auf. Im selben Moment klingelte ein Handy.
Es war Sebis.
Der kratzte sich am Kopf und griff dann in seine Tasche, um das Ding herauszuholen. Er sah auf das Display, runzelte die Stirn und schob eine blonde Haarsträhne zur Seite, die ihm ins Gesicht gerutscht war.
Dann ging er ran.
»Ja?«
Benni kicherte.
Wir konnten hören, wie jemand ziemlich lange auf Sebi einredete, ohne dass dieser auch nur ein Wort sagte.
Benni lachte weiter. »Guck mal, wie er aussieht«, sagte er und deutete auf Sebi.
Ich begann zu grinsen. Sebi saß zusammengesunken auf dem Sofa und hatte Mühe, seine Augen offen zu halten, er hielt das Handy an sein Ohr und lauschte.
Tom kam herein und musste sich am Tisch abstützen, um nicht hinzufallen. Seine Finger waren blau von der Kälte.
Benni lachte immer mehr. Und auch Tom stimmte mit ein.
Sebi legte auf und ließ das Handy aufs Sofa fallen. Er lehnte sich zurück und starrte vor sich hin.
»Und?« fragte Benni.
»Meine Mutter«, sagte Sebi.
Ich lachte. »Musst du heim?«
Sebi sah mich an und sein Blick vertrieb das Lachen aus meinem Gesicht, ließ jedes Gefühl in meinem Inneren gefrieren.
»Mein Vater hat versucht sich umzubringen.«
»Danke, Klausi«, sagte Sebi und stieg aus dem Auto aus.
Ich war als einziger nüchtern genug, um zu fahren. Wir hatten Bennis Auto genommen, um zum Krankenhaus zu kommen. Benni stützte Tom, als wir ausstiegen.
Das Krankenhaus war hell erleuchtet und wirkte fast heilig in der Dunkelheit, die es umgab. Wir schlenderten auf den Eingang zu, Sebi alleine voran und Benni, Tom und ich hinterher.
Ich betrachtete die Fenster. Nur in wenigen brannte noch Licht. Hinter einem Fenster ein paar Stockwerke über uns stand eine hagere Gestalt, die uns beobachtete. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Kurz vom Eingang hob ich die Hand und winkte. Die Gestalt reagierte nicht.
Der Pförtner wirkte erstaunlich munter. Er war ein älterer Mann mit grauen Haaren und ohne Bart. Er trug eine schlecht sitzende Krawatte und ein altes Sakko. Seine Ohren hatten eine komische Form, denn die Läppchen standen weiter vom Kopf ab als die Ohrmuschel darüber.
»Ich suche meinen Vater«, sagte Sebi und nannte den Namen.
Der Pförtner tippte geschäftig auf seiner Tastatur herum.
»Intensivstation, aber ich weiß nicht, ob sie da jetzt stören dürfen.«
Sebi nickte, aber sein Blick sagte, dass ihm egal war, ob er störte oder nicht.
In der Aula war ein älterer Mann im Bademantel. Neben ihm stand ein Infusionsständer und eine klare Flüssigkeit tropfte langsam über eine Infusionsnadel in seine Venen. Er betrachtete uns stumm und sein Blick blieb nur an Tom hängen, der einen unglaublich fertigen Eindruck machte in seinem Hard Rock Café New York T-Shirt unter der dicken Lederjacke und seinem verschwitzten, dunklen Lockenkopf.
»Zu viel getrunken?« fragte der alte Mann, als wir an ihm vorbeigingen.
»Arschloch«, grunzte Benni.
»Hey«, sagte der alte Mann und schob seinen Infusionsständer vor sich, so als ob er Angst vor Benni bekommen hätte. Benni konnte Menschen tatsächlich Angst machen, mit seinen kurz rasierten Haaren, seinen mehr als zwei Zentnern Lebengewicht und seinem starren Blick.
Sebi ging zu den Aufzügen und wir folgten ihm. Er lehnte sich gegen die Wand der Kabine und drückte den Knopf in den ersten Stock, wo sich die Intensivstation befand.
Wir sammelten uns auf der anderen Seite der Aufzugkabine und ich beobachtete Sebi, bis die Tür aufging.
Die Intensivstation war nur ein paar Meter weiter, aber wir kamen gar nicht bis dorthin. Auf einem Stuhl, im Wartebereich davor, saß Sebis Mutter. Ich hielt Benni und Tom zurück und wir gingen in den Fahrstuhl, um Sebi allein zu lassen.
Er würde uns sicher nicht dabeihaben wollen.
»Scheiße, Mann, Scheiße.« Dann nur Winseln. Und Würgen.
»Scheiße, Scheiße, dieser blöde Scheiß.«
»Wie lange geht das noch?« fragte ich Benni.
Benni zuckte nur mit den Schultern.
Wir standen in der Herrentoilette bei den Waschbecken und warteten auf Tom, der in einer Einzelkabine vor der Kloschüssel kniete und sich immer mal wieder übergab.
»Wahrscheinlich hat er auch was getrunken«, sagte Benni. »Und dann kotzt er immer, wenn er auch noch raucht.«
»Scheiße. Scheiße, echt, wieso immer ich?«
»Er ist völlig neben der Spur«, sagte ich.
Benni zuckte mit den Schultern. Er wusch sich die Hände und ein angenehmer Seifengeruch überdeckte den Gestank von Erbrochenem, der die Luft infiltriert hatte.
»Triffst du ihn noch oft?« fragte ich.
»Tom?«
»Sebi.«
Benni schüttelte den Kopf. »Nein. Öfter als dich zwar«, er grinste und ich grinste zurück, »aber es wird seltener. Ich wusste, dass ihn etwas bedrückt, aber ich hätte niemals gedacht, dass es um seinen Vater geht. Scheiße, ich weiß nicht mal, wie der aussieht. Oder was er macht.«
»Irgendwas in der Bank«, sagte ich, »aber ich bin nicht sicher. Ich hab ihn nur selten gesehen, früher, wenn ich bei Sebi übernachtete. Er kam meistens spät heim und hatte einen Bart, glaube ich.«
Ich sah zu Tom, der sich inzwischen auf den Boden gelegt hatte und eingeschlafen war.
Benni schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, Klausi, es geht alles so rasend schnell«, sagte Benni.
»Was meinst du?«
»Ach, egal.«
»Nein, sag’s mir.«
»Wie hieß deine letzte Freundin?« fragte er.
Ich runzelte die Stirn. »Bitte?«
»Wie war ihr Name? Du wirst es doch noch wissen, oder? Oder hat dir das viele Lernen das Gehirn vernichtet?«
»Anna«, sagte ich. »Sie hieß Anna.«
»Siehst du. Ich wusste es nicht.«
Die Tür ging auf und ein Mann betrat das Klo. Er zögerte kurz, als er Benni und mich am Waschbecken stehen sah und den Geruch in der Luft wahrnahm. Als er Tom dann zu allem Überfluss noch auf dem Boden liegen sah, machte er kehrt und verließ die Toiletten wieder.
Wir lachten.
Das Neonlicht machte Bennis Haut blass und als ich in den Spiegel sah, bemerkte ich, dass meine Augen rot waren. Benni lachte immer noch und auch ich musste kichern.
»Es geht ihm wieder besser«, sagte Benni und meinte Tom.
Ich nickte. »Ich schau mal eben rauf, vielleicht braucht mich Sebi.«
Benni nickte. »Soll ich mitkommen?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, besser nicht. Pass auf Tom auf.«
»Okay. Wie du meinst.«
Ich nahm das Treppenhaus. Es war finster und kühl, aber ich wollte nicht wieder in den engen Aufzug steigen. Als ich durch die Tür in den ersten Stock trat, saß Sebi schweigend neben seiner Mutter. Er bemerkte mich und stand auf. Seine Mutter schlief. Er kam leise auf mich zu, sein blondes Haar wirr und zerzaust.
Er grinste. »Du bist noch da?«
»Wir sind alle da, Sebi«, sagte ich. »Tom hat gekotzt.«
»Nichts Neues also.«
»Hast du Hunger?«
»Ich möchte ne Zigarette.«
»Hast du nicht aufgehört?«
»Dachte, es wäre ein guter Zeitpunkt, wieder anzufangen.«
»Dann gehen wir Kippen suchen«, sagte ich.
Wir fanden keine. Im ganzen Krankenhaus gab es keinen Zigarettenautomaten. Was eigentlich nicht weiter verwunderlich war.
Wir schlenderten durch die Gänge. Unsere Gummisohlen quietschten auf dem Linoleum. Es war erstaunlich ruhig, wir begegneten keinem Menschen.
»Wie in diesen Zombiefilmen«, sagte Sebi. »Alles ist verlassen und menschenleer. Dann unheilschwangere Musik und plötzlich ein Schockeffekt.«
»Mhm«, machte ich.
Sebi nickte. »Und keine Zigaretten.«
»Moment«, sagte ich und blieb stehen.
Sebi kicherte, als er es auch bemerkte.
Wir standen direkt vor dem Raucherzimmer des Krankenhauses. Ein kleiner, abgesperrter Raum, der für rauchende Besucher eingerichtet war. Darin saß einsam und verlassen ein junger Mann. Und das Zimmer war so voller Rauch, dass ich annehmen musste, dass dieser Typ ein Raucher der übelsten Sorte war.
Wir klopften an und öffneten die Tür.
Der Mann sah auf und grinste.
»Hi«, sagte ich.
»Hallo«, sagte er.
Wir setzten uns zu ihm. Er zitterte.
»Meine Frau ist hier«, erzählte der Mann. »Sie wird heute ihr Kind kriegen. Sagt die Ärztin. Mitten in der Nacht. Ich dachte, es würde früher kommen, aber das alles hat sich verzögert. Sie hat ziemlich viel geschrieen, meine Frau. Die Hebamme sagt, das wäre ganz normal. Aber ich musste jetzt mal schnell eine rauchen gehen, versteht ihr, Jungs?«
Ich nickte, Sebi starrte den Mann nur weiter an.
»Sie hat wirklich viel geschrieen.«
»Glückwunsch«, sagte Sebi.
Der Mann sah ihn an. »Ja, Danke.«
»Haben Sie ne Zigarette für uns?« fragte ich.
Der Mann öffnete seine Packung. Es war nur noch eine einzige übrig. »Die brauch ich selber, Jungs«, sagte er dann und klappte die Packung wieder zu.
Die Terrasse des Krankenhauses war eiskalt. Aber die Nacht war klar.
Wir stellten uns an das Geländer und guckten nach unten.
»Klausi?«
»Ja?« fragte ich.
»Ich war etwas unsicher wegen heute Abend. Als du gesagt hast, dass du kommen würdest. Zuerst ging mir das gegen den Strich. Du kommst immer seltener. Und manchmal frage ich mich, warum. Ob es an uns liegt.«
»Nicht an euch«, sagte ich.
»Ja, schon klar, je weniger wir dich sehen, desto weniger... ach, was weiß ich.« Sebi spuckte aus und betrachtete, wie sein Speichel nach unten fiel.
»Jedenfalls dachte ich, dass es sicher Scheiße wird, wenn du heute kommst. Aber jetzt bin ich froh, dass du hier bist. Ehrlich. Ich könnte mir keinen Besseren vorstellen.«
Ich schwieg. Manchmal ist das besser als reden. Und Sebi wusste das auch.
»Geht es dir eigentlich gut?« fragte er mich plötzlich.
Ich sah ihn an. »Ja«, sagte ich. »Ja. Es geht mir gut.«
Sebi nickte. »Mir ging es auch gut«, meinte er. »Mein Vater hat mich gefragt, ob wir gemeinsam nach Kuba fahren.«
»Wann?«
»Gestern Abend.«
Ich zögerte. »Und was hast du gesagt.«
»Dass er mich mal kann.«
Ich sagte nichts.
»Natürlich nicht mit den Worten«, sagte Sebi. »Aber ich hab es so gemeint.« Er spuckte wieder aus. »Die Ärzte sagen, er kommt durch. Wahrscheinlich wird er bald wieder entlassen.«
»Gut.«
»Hier seid ihr ja«, hörte ich plötzlich eine Stimme von hinten. Benni.
»Einen kälteren Platz hättet ihr euch nicht aussuchen können, oder?« fragte Tom, der zwar etwas blass, ansonsten aber ganz normal aussah.
»Der Platz ist gut«, sagte ich und Sebi lachte.
Tom und Benni stellten sich neben uns.
»Was spricht man in Kuba eigentlich für eine Sprache?« fragte Sebi.
Tom sah ihn von der Seite an. »Spanisch, natürlich.«
Der Himmel war finster und im matten, dunkelgelben Licht der Straßenlampen konnte ich die vielen Schneeflocken sehen, die vom Himmel fielen. Ein paar davon landeten in meinen Augen, schmolzen kalt und mit einem Blinzeln waren sie verschwunden.