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Die Farbe der Zeit
für Angelika
“Kommt ja nicht wieder, ihr Flaschen!”, brüllt Clara den großen Fünftklässlerinnen der Lustenauer Grundschule hinterher. Bei ihrem niederschmetternden 5:0 Sieg hat sie, die Kleinste auf dem braungrünen Rasenplatz, in fünf Minuten im Alleingang alle fünf Tore geschossen. “Wir geben auf, du bist unschlagbar”, lassen die bezwungenen Mädchen verlauten und ziehen vor der gerademal achtjährigen Clara respektvoll ihre Mützen. Während sie mit ihren langen braunen Haaren geschickt einen zweiten Zopf flechtet, blickt die Kleingeratene noch ein Mal wunderlich auf die Außenlinie. Weiterhin am Spielgeschehen völlig teilnahmslos, spielen und streiten die Jungs weiter mit ihren Puppen. “Wir haben den Platz gerecht verteidigt!” sagt die unsichtbaren Nova neben ihr. Ihre mitreißende Stimme spornte die überragende Clara während des gesamten Spielverlaufs an. Nun, ganz im Alleingang hat sie es vielleicht doch nicht geschafft. Wie ein Geist räumte die blitzschnelle Helferin, die Clara gerademal bis zu den Knien geht, gelegentlich, ganz unauffällig, die eine oder andere Gegenerin auchmal aus dem Weg.
Ganz recht; nach vollbrachtem Werk ist es an der Zeit nach Hause zu gehen- doch wo sie wohnt, weiß Clara irgendwie nicht und wie sie überhaupt zum Platz kam, ist erst recht ihrer Erinnerung entschwunden. Bald scheint das Feld außer Sichtweite und die beiden Gefährtinnen sind ganz alleine über Stock und Stein durch den schummerigen Laubwald auf dem Weg nach Hause- von den anderen Kindern keine Spur.
Entzückt beobachtet Clara wie die niedlichen Fußspuren ihrer zwergenhaften Freundin wie von Zauberhand, im nach modrigen Blättern riechenden, weichen Herbstlaub sich mit jedem Schritt fortpflanzen. “Es ist schon ganz schön spät Clara. Sieh nur, die Sonne hat sich schon fast hinter dem Mond versteckt.” Und tatsächlich schiebt sich in diesem Augenblick die große leuchtende Scheibe gemächlich hinter den leuchtenden hellgrauen Mond und lässt den goldenen herbstlichen Wald noch geheimnisumwobener wirken. Bis auf das leuchtende Rot und Gelb der weichen Blätter auf dem Boden, die sich bei jedem Schritt um ihre Füsse rekeln, ist alles andere finster und kalt. Geschwind und geheimnisvoll zieht, die nur für Clara überhaupt wahrnehmbare Nova, aus dem Nichts einen Pullover und bedeckt zügig den zarten Körper ihrer gar zu engelhaft anmutenden Freundin vor der klirrenden Kälte. Es ist unglaublich, wie Nova ihr in jeder denkbaren Situation immer helfen konnte. Niemand anders versteht Claras Innerstes so sehr und steht ihr so zur Seite- wobei die Kleine es selbst sicherlich auch nicht leicht hat, wenn sie, mit Ausnahme von Clara, mit niemanden auf der Welt zu sprechen vermag.
“Ach Nova!” seufzt die wieder aufgewärmte Clara “Was würde ich wohl ohne dich machen!?” Nova zögert zunächst, beginnt erst langsamer, dann aber etwas schneller zu gehen und zum ersten Male wünscht Clara sich sehnlichst ihrer allseitsbereiten Freundin in die Augen sehen zu können. Langsam zieht sich eine Atemwolke aus Novas Nase über die leichte Wölbung ihrer Lippen und verliert sich im Halbdunkel. Endlich erwidert sie: “Ihr wärt wohl wie die Anderen…”. Clara beisst sich auf ihre schmale zartrosane Unterlippe und schaut verdutzt tief in den Wald, indes sie gleichmässig dem zwiellichten Weg folgt.
Je enger das Dickicht und je zweifelhafter der mit Blättern übersähte Weg wird, desto mehr verspürt, das so fröhliche mit Sommersprossen befleckte Kind, das Verlangen einfach anzuhalten; doch sie kann nicht. Die Geschehnisse um sie herum werden ihr langsam unheimlich. Nach wie vor weiß Clara weder wo sie ist, noch wo es genau hingeht. Anzuhalten ist ihr nicht möglich. Immer weiter gehen sie ruhig Seite an Seite, wie von einer fremden Kraft gezogen, stetig einher mit Novas sich vermehrenden Fußabdrücken. Noch ahnt sie nicht, wie hinter ihr die ersten Bäume bereits von einem bedrängenden Nichts verschlungen werden.
“Clara, hör’ mir jetzt gut zu!” sagt Nova mit ihrer liebreizendsten Stimme, ganz bewusst den Ernst der Lage herunterspielend:“Wir laufen auf drei so schnell wie wir nur können zum Ende des Waldes in Sicherheit- also, eeeiiins, zweeeiiiiii… drei!!” Und ohne weitere Bedenken rennen die beiden Mädchen mit vollem Tempo tiefer ins Unbekannte. In der Hoffnung ihre Angst unterdrücken zu können, schließt Clara ihre Augen und versucht ihre Gedanken auf ihren jüngst errungenen Sieg zu lenken. Doch selbst dies ist bereits beinnahe ihrem Gedächnis entflohen. Schon bald wird jeder Schritt mühseliger, da nun der Boden langsam nachgibt.
Endlich lässt sie die mysteriöse Kraft los und Clara kann stehenbleiben, nach Luft schnappen und sich vor allem umsehen. Umherum ist nichts als eine stille, mit kleinen Dünen überhäufte Wüstenlandschaft, das Mondlicht und Novas Abdrücken im feinen Sand. Es ist noch immer dunkel- weder von Blättern, Bäumen, der Sonne noch von Menschen irgendeine Spur.
Geschmeidig weht aus der Ferne ein immer kräftiger werdender Wind über die harmonische Landschaft hinweg. Noch bevor sie an den scharfen Sandkörnern Schaden nimmt, fühlt das verwirrte Mädchen wie die federleichte Nova mühelos an ihrem blauen Jeanskleid hinaufsteigt um ihr einen kunterbunten Wollschal um die Ohren zu wickeln und mit ihren putzigen Händen Claras Augen zu schützen. Durch die unsichtbaren Hände hindurch, sieht sie endlich das von den vorbeistreifenden Sandkörner angedeutete rundliche Antlitz ihrer Beschützerin. Durchdringend blickt sie in Claras schmale hellbraune Augen und löst in ihrem Gegenüber mit ihrem von Besorgnis gezeichneten Gesicht noch mehr Unbehagen aus.
Ganz unerwartet beginnt Nova mit einem beängstigend neugierigen Unterton Fragen zu stellen: “Wenn jetzt alle Uhren rückwärts laufen, werden wir dann jünger?” Geschwind glaubt Clara, selbstbewusst und für dergleichen Fragen gesprächig wie eh und je, auch bereits die Antwort zu kennen: “Natürlich, wir können ja nicht bestimmen was die Zeit macht!” Ein zartes Lächeln huscht über Novas unsichtbare Lippen. “Und was wäre aus dir geworden, Clara, wenn deine Mama und dein Papa sich gar nicht kennen würden?” Wenn auch nach einem kurzen Zörgern, scheint die Lösung wieder rasch parat: “Ganz einfach! - Eine Hälfte von mir wäre bei Mamas Tochter und die andere bei Papas- dann wäre ich zwei Mal da, jeweils mit einer falschen Hälfte verbunden … das wären dann ja meine Schwestern!” folgert sie, worauf der Sand einen völlig verwirrten Ausdruck in Novas Gesicht andeutet. In tiefsinnigste Überlegung verstrickt lässt sie dieses Mal nicht locker:“Aber Clara- wie sollst du denn da Geschwister haben? Dich selbst gibt es dann doch gar nicht mehr!” Seit langem hat Clara gehoft mit jemanden darüber reden zu können, doch nun steht sie da, sprachlos, weiß nicht weiter und schweigt. Plötzlich verändert Nova sich; wird zunehmend ernster, genervt und selbst ihre Stimme wird tiefer:“Mein Kind, was stellst du denn für dumme Fragen?!” schimpft sie. “Aber Nova, du hast mich doch gefra…” “Nichts habe ich! Kannst du dich nicht mit normalen Dingen beschäftigen?!” In ihrem Kopf hat Clara die Vorwürfe bereits ignoriert, denn ein Gedanke lässt sie nicht mehr los: “Dann gibt es micht ja gar nicht...” murmelt sie abwesend vor sich hin. Von der Vorstellung völlig überrumpelt werden ihre Augen feucht, worauf die erste Träne, selbst Novas Handfläche durchrinnend, hinabkullert über ihre zarte Wange in den staubtrockenen Sand.
Von allen Seiten breitet sich ein unangenehmes Licht über das Ödland aus und übertrifft sogar die Gewalt des Sandsturms. Mit der Landschaft wandelt sich auch Novas wieder, die entsetzt über sich selbst zu Clara aufschaut. Noch kann sie ihr die Frage stellen. “Clara, welche Farbe hat die Zeit?!” Beim Gefühl der Bestätigung lächelt das Mädchen wieder für einen kurzen Augenblick, doch nach einem weiteren langen Schweigen im Fluss des Lichts, vermag sie ihre Gefühle nicht weiter zu bändigen und schreit weinerlich: “Ich weiß es nicht Nova- ich wünschte ich wüsste es, aber niemand will es mir sagen, niemand will mich verstehen!” Nun kann sich auch die mutige Nova nicht zurückhalten, umarmt sie kräftig, weint ebenfalls und fleht zu ihrer einzigen Freundin. “Bitte vergiss mich niemals, denk an mich so viel es geht! Die Kleinen verstehen uns nicht und die Großen erst recht nicht… Wenn es hier vorbei ist, wirst du wieder sie sein, doch ich kann nicht bei euch sein… man lässt uns nicht!”. Mit jedem Wort gewinnt Novas Stimme an Hoffnungslosigkeit: “Wir gehören zusammen, wir dürfen uns nicht trennen. Du brauchst mich, ich brauche dich und sie braucht uns. Die anderen Mädchen sind so anders, sie haben ganz andere Gedanken, sehen so wenig. Bitte vergiss mich nicht und komm wieder, ich weiß nicht wie lange es mich noch geben kann! Komm zurück! Bitte Veronika, bitte!!!”
Mit einem Ruck, der alle im Auto aufschrecken lässt, wacht Veronika auf. “Schatz! Guten Morgen, ist alles in Ordnung? Wir sind ja schon bald zu Hause!” Schnell verdeckt sie ihr Augenlicht um die Gedanken und Gefühle nicht schwinden zu lassen und sie vor den ersten Sonnenstrahlen im Morgengrauen aus den Bergen zu schützen. Bei der anstrengenden Nachtfahrt nach den Sommerferien von Berlin zurück nach Dornbirn war Veronika endlich eingenickt. Ein mechanisches “Ja Mutter.” brummelt sie noch vor sich hin, worauf sie sich wieder gegen die Autotür lehnt und noch ihren Vater sagen hört, wie ihr liebes Engelchen doch einen ungemein seltsamen Schlaf hat. Nun aber schnell die Decke über den Kopf und das Kissen in den Nacken. In ihrem Kopf schwirren noch Wüste, Wind, ein unsichtbares Mädchen, eine Uhr und viele Farben. Irgendetwas sollte sie tun- ach wenn sie nur schreiben könnte wie ihr großer Bruder, aber sie ist einfach noch so klein und jetzt eh viel zu müde.
Mit fest geschlossen Augen geht es für Veronika wieder in eine andere Welt- von Wald, Dünen, Mond, Kindern und Nova keine Spur; doch Vergänglichkeit überall. Diesmal zusammen mit ihrem Bruder auf einer Reise, die wohl niemand jemals verstehen wird; durch die weiten Savannen Afrikas, auf der Suche nach der Farbe der Zeit.
Lux