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Die Farben der Nachtfalter
Die beiden Gestalten saßen im Dämmerlicht der Bibliothek.
Der alte Mann mit den weißen Haaren hatte gerade ein Buch zugeklappt, auf dem ein großer, bunter Schmetterling abgebildet war, und es auf seinem Schoß gelegt. Ihm gegenüber saß ein kleiner junge mit strubbeligen dunkelbraunen Haaren und grün-blauen Augen.
„Großvater, warum haben Nachtfalter keine bunten Farben wie die anderen Schmetterlinge?“
Der alte Mann seufzte.
„Weißt du mein Kind, einst hatten sie viele Farben, sie waren viel farbiger als alle Schmetterlinge, die du kennst und sie flogen ebenso im Sonnenlicht wie all ihre anderen Brüder und Schwestern.
Denn jeder von ihnen war einmal ein bunter Traum und zu jeder Zeit flatterten sie schillernd über die Welt und warteten auf die Menschen, die ihren Traum fanden. Und wenn ein Mensch diesen Traum in sich gefunden hatte, schillerten die Flügel noch mehr und die Farben auf ihnen wurden mehr und mehr kräftiger.“
Der Großvater hielt einen Moment inne, seuftze erneut und fuhr dann fort:
„Doch leider gaben die Menschen auch früher schon ihre Träume auf, weil sie entweder nicht mehr an sie glaubten oder schon zu lange um sie gekämpft hatten. Oftmals weinten sie dann, wenn sie den Traum enttäuscht aufgegeben hatten, oft nur eine Träne, doch wenn diese fiel, verlor der Falter, dem der Traum innegewohnt hatte, seine Farben. Nur grau und braun blieben ihm, die Farben der zerfallenen Träume. So ging es vielen, und aus Scham trauten sie sich nur noch im Schein des Mondes hervor.“
„Heißt das, dass alle Nachtfalter einmal Schmetterlinge waren und dass wenn ein Traum stirbt ein Schmetterling seine Farben verliert?“ fragte der Junge.
Sein Großvater nickte.
„Ja, genau so ist es.“
„Kann man ihnen denn ihre Farben nicht wiedergeben?“
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
„Nein, man kann keinen zerbrochenen Traum flicken, ihn nicht mehr genauso zusammen-
fügen wie er war – deshalb kann man auch keinem Nachtfalter seine Farben zurückgeben.“
Der Junge blickte ihn traurig an.
„Man kann aber“, fuhr der Großvater fort, „jeden Traum neu träumen und immer wieder ein neues Luftschloss bauen – und genau in diesem Moment wird ein neuer Schmetterling geboren – mit bunten und schillernden Flügeln.“