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Die Fesseln
Die Fesseln
06:00 Uhr, der Wecker klingelt. Er klingelt nicht, die Stimme im Radio verließt die Staumeldungen auf der Autobahn. Die Nachrichten sind gerade zu Ende. Ich stehe auf, muss zur Arbeit. Muss zur Arbeit um Geld zu verdienen, muss damit Sachen kaufen, Sachen zum Leben und Sachen die ich nicht brauche, keiner braucht. Muss glücklich werden, muss konsumieren. Muss daher arbeiten gehen, in meinem Bürostuhl sitzen und Leute aus meinem Fenster beobachten, denen es genauso geht, eher schlechter. Der Busfahrer, die Hausfrau mit den Kindern, denen es noch mieser gehen wird, die Frau am Telefon, die sich verwählt hat und so weiter und sofort.
Zehn nach Sechs, reinige meinen Körper, darf nicht stinken, darf nicht natürlich sein. Muss wohlduftend in Besprechungen gehen, mit Menschen reden, meine Zeitung am Kiosk kaufen. Was sollen die Leute von mir denken, wenn ich nach Schweiß stinke? Sie werden denken, dass ich aus der Gosse komme, werden denken ich sei ein Penner. Und Penner, ich nenne sie lieber Aussteiger, sind verhasst. Ein besonders schlimmes Exemplar sah ich vor wenigen Wochen in Frankfurt (in einer Besprechung die Geld brachte, Geld zum konsumieren, zum glücklich sein). Der Obdachlose (schönes Wort zwischen dem harten Penner und dem sozialistisch schönen „Aussteiger“, oder?) lag an einer Hausfassade, nur einen halben Kilometer von Karstadt, Woolworth und Mc Donalds entfernt. Eingehüllt in Decken, um sich vor der Kälte zu schützen, lag ein Mann Ende vierzig auf dem Gehweg, es stank nach Urin und war schrecklich. Auf der einen Seite die Bankenmetropole Frankfurt am Main. Zeil, Kunstmuseen, Wohlstand, Römer und Rathaus,... und dann so etwas... so jemand. Deprimierend und augenöffnend zu gleich.
Ich möchte hier betonen, dass es wichtig ist, sich hygienisch zu pflegen. Es kann auch schön sein Arbeiten zu gehen, einen Brief zu tippen und sich danach wohl zu fühlen. Es ist schön eine CD auszupacken, in die Anlage zu schieben. Aber wir können unsere Existenz doch nicht ernsthaft darauf aufbauen wollen?!
Halb Sieben, Frühstück. Der Typ im Radio verlost Karten für ein Bruce-Springsteen-Konzert in Hamburg. Die Frage: Wer brachte mit „For Sale“ 2000 ein mäßig erfolgreiches Album auf den Markt? Tipp: Die Band hatte ihren Durchbruch durch einen Werbesong für C&A. Kein Problem für mich, war bis vor kurzem sehr interessiert an der Musikwelt. Bis ich herausfand, dass Musik, Literatur, Filme und Videospiele, The Beatles, Nick Hornby, Matrix und Zelda nur eine bunte Blümchenmauer bilden. Die Mauer soll verdecken wie elend unserer Dasein ist. Wie unnötig, wie gekünstelt, wie verdammt. Nein, hinter „verdammt“ fehlt kein Adjektiv, leider. „Verdammt dumm“ wäre lange nicht so deprimierend wie das Wort „verdammt“ selber. Das Problem begann, als zwei Bäcker meinten, ein Dorf mit Brot versorgen zu müssen. Wie abstrus, und doch ist es „the first brick in the wall“, der Grundstein für unsere Prinzip des Kapitalismus.
„Ka Ching“ ist vorbei (Gott sei gelobt), der Radiofritze wiederholt seine Frage. Die Antwort lautet Fool’s Garden. Aber warum soll ich zu einem Springsteen Konzert fahren? Blümchenmauer...
Acht Uhr. Ich habe Glück, andere müssen schon seit 04:00 auf der Arbeitsstelle sein. Ich habe Glück, Amerikaner müssen nicht 40 Stunden wie ich, sondern fünfzig oder sechzig die Woche arbeiten. Ich habe Glück, mein Chef verzeiht mir meine mangelnde Motivation, welche von Tag zu Tag schlimmer wird. Allerdings wohl eher, da ihn seine Frau in die Wüste geschickt hat. Depriphase ist bei ihm angesagt, auch Midlifecrisis genannt. Kaum zu glauben, dass mich vor kurzem noch die 1.842,- Euro am Ende des Monats glücklich machten, glücklich weiter zu Arbeiten, Musik zu hören, zu konsumieren.
Ein Tag wie jeder andere... Telefonate, Gespräche, Aktennotizen, Mittagspause, noch mehr Gespräche, Angebot schreiben, Verabschiedung, ab in die Straßenbahn....
Siebzehn Uhr, ich bin daheim. Die wenigen Menschen die mein Schicksal teilen, die Sinnlosigkeit des Lebens erkannt haben, retten sich in vermeintliche Auswege. Selbsthilfegruppen für Leute, die sich für verrückt erklären (oder erklären lassen mussten). Malerei, mit der Begründung sich wenigstens darin verwirklichen zu können. Angeln, Fußballspielen, lesen, Musik produzieren, Fotographie,... Auch Drogen kommen häufig ins Spiel, Alkohol, Marihuana oder schlimmeres. Das eine mehr im Fang des Konsums, des Angepassten, das andere weniger.
Ich hingegen schreibe lieber Kurzgeschichten wie diese. Sicherlich nicht meine beste, aber meine befriedigendste.