Die fliegende Zigarre
Die fliegende Zigarre
oder
Was wirklich geschah...
Wir schreiben den 6. Mai 1937, bei Abenddämmerung um 19 Uhr. Nach ermüdenden 77 Stunden Fahrt steuert das stolze Flagschiff der deutschen Zeppeline, die Hindenburg, mit gemächlicher Geschwindigkeit über dem Atlantik auf den Flughafen Lakehurst in New Jersey zu. Der Gigant übertrifft mit seinen 245 Metern Rumpflänge jede Dimension anderer lenkbarer Flugobjekte der gesamten Geschichte. Die Stewards weisen höflich die letzten Gäste aus der Lounge und räumen schnurstracks die Gedecke ab, um sich ja auch selbst rechtzeitig einen effizienten Fensterplatz für die Landung zu sichern.
Wir befinden uns auf dem Kommandodeck, anwesend sind der erste Offizier (am Steuer) und sein Patron, Ferdinand Graf Zeppelin, als sich der Steuermann plötzlich nervös zu Wort meldet:
„Mein Graf, die Winde wehen immer heftiger, Nimbuswolken gleich vor uns. Wir können da unmöglich durch!“
„Steuermann, nicht in diesem Ton! Achten sie auf ihr Ruder und geben mir Meldung über unvorhergesehene Ereignisse, wie gehabt.“ antwortet dieser etwas teilnahmslos.
„Ich bitte um Verzeihung, mein Graf, aber dies war ich soeben im Begriff zu tun. Über dem Landegebiet erwartet uns küstennahe eine Unwetterfront grossen Ausmasses. Ich denke nicht, dass wir unser Schiff der Gefahr des Gewitters aussetzen sollten.“
„Du lieber Himmel!“ erwidert der Patron erstaunt, „Das ist doch nicht ihr Schiff!“ Er schüttelt ungläubig den Kopf und zieht sich seine Mütze bis zum Haaransatz hinauf, um sich selbst anschliessend mit kritischer Mine im durch die Dunkelheit spiegelnden Fensterglas des Kommandodecks von verschiedenen Seiten her zu mustern.
„Was meinen sie, Steuermann: Soll ich den Koch feuern?“
Offensichtlich überfordert von der ignorierenden Haltung des Grafen Zeppelins erwidert der Steuermann die Frage nicht und scheint sich demonstrativ den wenigen Armaturenanzeigen zu widmen.
„Finden sie, ich habe zugenommen?“ murmelt der Graf weiter ohne ihn anzublicken. Er zieht dabei den Bauch angestrengt ein und greift mit seinen beiden Daumen in die seitlichen Gürtellaschen, um der Enge der Hose etwas Spielraum zu verschaffen. „Über drei Tage Fahrt und als Krönung unserer üppigen Mahlzeiten komme ich kaum mehr in die Stiefel! Dabei ist dies der erste Kurs der Saison. Wo endet das? Ich werde den Koch feuern! Ja, das werde ich wohl tun.“ raunt der Graf vor sich hin und zieht seine Mütze wieder bis über die Brauen herab.
Nach wie vor sichtlich nervös stichelt ihm der Steuermann entgegen: „Mit Verlaub, mein Graf, aber sie werden wohl als erstes uns alle gemeinsam feuern, wenn wir nicht bald den Kurs dem Wetter anpassen! Der Zeppelin ist gefüllt mit über 200'000 Kubikmetern hochexplosiven Wasserstoffs. Eine zündende Entladung des Himmels, ein Blitz reichen, und ihre Sorgen über den Koch erübrigen sich.“
„Wie praktisch!“ scherzt der Graf. „Keine Sorgen mehr über den mästenden Koch, über meinen Rettungsring, über das von den USA verhängte Helium-Embargo, ohne diesem meine Schiffe ja um soviel sicherer würden, und, auch keine Sorgen mehr über einen auffallend frechen, ersten Offizier, der sich dauernd mit dem passenden Tonfall schwer tut!“
Dann schickt er seinem Untertan ein leises Lächeln zu und fragt ihn mit der bekannten Ruhe eines alten Flugdinosauriers: „Nun, nehmen wir doch mal an, wir fliegen sowieso gleich in die Luft! Ganz unter uns, Weidinger, welches wäre denn in der noch verbleibenden Zeit ihr letzter Gedanke?“ - „Freiwilliger Gedanke?“ fragt dieser. „Frei von der Leber!“ tönt es zurück.
Der Steuermann überlegt verbissen, da packt eine erste Sturmböe das Luftschiff sanft und gibt den etwas nervösen Gästen im Passagierraum und der Besatzung ein kurzes Gefühl von Schwerelosigkeit. Das kollektive Stöhnen ist bis in das Kommandodeck hörbar. Eine darauffolgende, noch viel heftigere Böe lässt dann sogar das Gebälke der starren Zeppelinhülle knirschen und wirft schliesslich diejenigen taumelnd zu Boden, welche sich gerade ohne festen Halt in den Gängen aufhalten. Dann ertönt von allen Seiten ein immer lauter werdendes Rauschen und Prasseln. „Es regnet nur wieder mal!“ beruhigen die Stewards die Passagiere und zeigen auf die Fenster vor der dunkeln Nacht. Das Wasser strömt über die Scheiben.
Zurück zum Kommandodeck. Verunsichert fragt der erste Offizier seinen Patron erneut, diesmal aber mit möglichst ruhiger Stimme: „Mein Graf, wollen sie wirklich am vorgesehenen Landeplatz festhalten? Wir fliegen geradewegs durch das Gewitter.“
Dieser will aber davon noch immer nichts wissen und beharrt auf die noch ausstehende Antwort: „Nun sagen sie schon! Weidinger, erster Offizier, Steuermann und Vater dreier Kinder, richtig? Was wäre ihr letzter Gedanke vor dem Aus? Hm? Ich hoffe, da ist doch was!“
„Ich würde wohl...“, überlegt dieser laut „Ich würde wohl versuchen, mein Leben noch einmal als Ganzes zu betrachten und mir schlüssig darüber zu werden, ob ich denn nun in Anbetracht dessen als glücklicher Mensch sterben darf.“ Kurzes Schweigen. „Vielleicht würde ich aber auch unablässig versuchen, meine Haut... ich meine natürlich: zuerst die Passagiere und dann äh... mich zu retten.“
Der Graf korrigiert ihn: „Tiere! Tiere, die kämpfen bis zum bitteren Ende oder darüber hinaus. Der kluge Mensch hingegen hat den Verstand einzusehen, dass die Zeit endgültig abläuft, wenn dem dann auch so ist.“ – „Wohl wahr, mein Graf, aber bitte sagen sie: Wie würde es ihnen denn ergehen?“
Ein ohrenbetäubendes Krachen unterbricht plötzlich das Gespräch. Die Türe zu den hinteren Räumen knallt auf. Der erste Offizier klammert sich mit aller Kraft an sein grosses Steuerrad, der Graf hingegen muss sich mit einem schnellen Sprung an die Gasdruck-Messleitung retten. In einem der hinteren Räume zerberstet ein Fenster. Männergeschrei. Die Hindenburg segelt von sturmartigen Windesstössen getragen unruhig umher. „Sinken sie!“ schreit der Graf seinen Steuermann an, „Wir sind fast da!“
Nach einigen Minuten hektischer Unruhe tritt der Zeppelin in eine bodennahe, ruhigere Luftschicht ein und der Graf lässt wieder von der Gasleitung ab - unbemerkt, dass er diese durch sein Griffmanöver um einige Zentimeter verbogen hatte und nun leise und schleichend Liter für Liter Wasserstoff in das Kommandodeck entweichen.
Die beruhigenden Stimmen der Stewards sind jetzt wieder aus dem Wirrwarr herauszuhören. Das muss wohl auch daran liegen, dass man jetzt schon gut die Signallampen des Landeplatzes und einiger Häuser erkennen kann.
Dann meldet sich der Steuermann wieder: „Mein Graf! Sie sind mir doch noch immer eine Antwort schuldig, wenn ich erlauben darf! Mich würde sehr interessieren, was denn nun ihr letzter Gedanke wäre, müssten sie sich für einen entscheiden.“ „Ich?“ erwidert dieser feierlich und macht einige Schritte auf den Steuermann zu, „Ich... ich würde mir die Ruhe nicht nehmen lassen, zu leben, was es noch zu leben gibt, würde mir den Duft einer guten Zigarre zur Nase führen, sie anschliessend zum erglühen bringen und genüsslich rauchen. Weder Reue an der Vergangenheit noch eine aussichtslose Zukunft zerfleischen den wichtigsten Moment vor dem Sterben: Die Gegenwart! Es spielte dann sogar nicht mal eine Rolle, wann wir nun in die Luft gehen würden; mein Kollege der Admiralität, Churchill, raucht seine Zigarren auch nur zur Hälfte.“
„Eine Zigarre...“ murmelt der Steuermann gedankenversunken. „Ja, eine Zigarre! Wussten Sie, dass eine solche mir den Anstoss für den Bau meines ersten Luftschiffes gab? Zigarren sind wunderbare Geschöpfe: voller Symmetrien, aerodynamisch, schlank, ästhetisch und vielseitig. Sie können sogar fliegen, wie sie ja wissen, Weidinger!“ erfreut sich der Patron, greift in seine Westentasche und zieht eine silberverzierte, flache Box hervor. „Sie können jetzt die vier Landeseile abwerfen, mein lieber erster Offizier! Dann klappt er es auf, nimmt eine der drei grosskalibrigen Zigarren hervor, kappt das Mundstück und klemmt sie sich zwischen die Zähne.
Soeben erscheint der Koch und fragt nach Digéstif-Wünschen. „Ach, lassen wir das jetzt!“ wird er abgewiesen. „Aber sagen sie, Küchenchef, haben sie Feuer?“