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Die Frau von vorhin
6 Eier, 2 Liter Milch, ein Brot, einige Äpfel, Kaffee... Die drittletzte Kundin packte ihre Einkäufe ein. Er versuchte sie einzuschätzen: Über 40, grauwerdende Haare, nicht sein Typ. Hatte aber immerhin knapp 20 Franken eingebracht. Nächster, oder besser gesagt, zweitletzter Kunde: 6 Red Bull, reichlich Bier. Der Ausweis musste gezeigt werden, der Junge regte sich auf, war nämlich noch nicht 16. Der liess das Bier einfach stehen, bezahlte und ging fluchend hinaus. Die Kollegin, die ständig zwischen den Regalen hin- und herlief, wurde gefragt,ob sie bitte das Bier zurückbringen würde. Natürlich, gerne.
Der angeblich gefederte Bürostuhl ächzte. Nun war endlich, endlich die letzte Kundin des Abends an der Reihe. Sie kaufte Waschmittel, sonst nichts, nur Waschmittel.
Mittlerweile konnte er seine Kunden ziemlich gut einschätzen. Sie war wohl etwa in seinem Alter. Eine alleinstehende Frau vielleicht, eine, die unsicher war, die einsam war. Aber sie hatte ein leises Lächeln. Das war schön.
Als sie bezahlte, berührten ihre Finger kurz seine Handfläche. Es musste kein Rückgeld gegeben werdfen, sie hatte den exakten Betrag bezahlt, hätte es aber gern getan, nur um nochmals ihre Hand berühren zu dürfen. Sie ging mit einem kurzen "Auf Wiedersehen!" zur Tür hinaus. Er schaute ihr nach, wandte sich aber sofort ab und wurde etwas rot, als er bemerkte, dass seine Kollegin ihn beobachtete. Hastig schloss er die Kasse ab. "Ich geh dann mal", rief er, dem vielsagenden Blick seiner Kollegin ausweichend.
Er legte sich den Mantel um, schulterte die Tasche. Vielleicht, wenn er sich beeilte, konnte er die Frau von vorhin noch einholen, vielleicht, wenn er Glück hatte, musste auch sie zum Bahnhof. Da sah er sie gehen, tatsächlich, in Richtung Bahnhof. Hinter ihr herhastend, darauf achtgebend, nicht von ihr bemerkt zu werden, folgte er der Frau. Sie stieg die Treppe zur Unterführung hinunter. Und wenn er sie eingeholt hätte, was würde er dann tun? Vielleicht einfach weiter hinter ihr hergehen...
Plötzlich drehte sich die ganze Welt um ihn herum, etwas polterte. Er fand sich am Fuss der Treppe liegend wieder. Es dauerte eine Weile, bis er begriffen hatte, dass er soeben, ganz in Gedanken versunken, die Treppe heruntergestürzt war und dass er es gewesen war, der gepoltert hatte. Sein Arm schmerzte etwas.
"Ist alles ok bei ihnen? Kann ich helfen?", fragte eine Stimme. Er blickte auf, direkt in ein Gesicht, das Gesicht der Frau von vorhin. "Äh, ja, danke, mir geht es gut", stotterte er etwas unbeholfen. Es war ihm sehr peinlich. Sie half ihm auf die Beine. "Ich muss zum Bahnhof, Sie auch?", erkundigte sie sich. Er bejahte. Dann gingen sie, nebeneinander.