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Die Fremde
Er saß da und blickte in das fahle Gesicht. Seine Tochter schien friedlich zu schlummern, und doch war die Stille so unnatürlich, als wäre das Leben aus ihr gewichen. Die Ärzte hatten ihm versichert, dass sie keine 24 Stunden im Koma liegen würde, aber er traute ihnen nicht. Wenigstens war sie noch am Leben.
Seine geliebte Britta, sein kleines Mädchen. Es schien, als hätte sie erst gestern mit wehenden Zöpfen auf der Schaukel gesessen und gerufen:
“Höher, Papa, höher!“
Die Wände seines Büros hatte er mit unzähligen von Brittas Bildern und Bastelarbeiten tapeziert gehabt. Noch heute stand auf seinem Schreibtisch ein Foto, auf dem Britta lächelte und voller Stolz ihre erste Zahnlücke zeigte. Obwohl er schon mehrmals das Büro gewechselt hatte, und dieses Ereignis 20 Jahre her war, hatte er sich von diesem Bild nie trennen können.
Seine Gedanken wollten weiter wandern, um das Heranwachsen seiner Tochter vor seinen inneren Augen abzuspielen. Doch Nebelschwaden des Vergessens drängten sich zwischen ihn und die Erinnerung. Unbarmherzig machten sich neue, scharfe Bilder in seinen Gedanken breit und versperrten jede Sicht auf die liebliche Vergangenheit.
Er sah sich in einem geräumigen Büro in dessen Mitte ein langer Schreibtisch stand, der mit Bildschirm, Computer, verschiedenen Ordnern, und einem ständig klingelnden Telefon ausgestattet war. Der ganze Raum schien ihn andauernd zu mahnen, er solle seine Arbeit sauber, schnell und sofort erledigen. Unterstützt wurde dieses Gefühl noch durch Arbeitskollegen, die wie wild gewordene Bienen um ihn herum schwirrten und ihn mit Fragen, Aufforderungen und Reklamationen bombardierten.
Doch nun wandelte sich das Bild und er sah sich inmitten einer fröhlichen Menschenmenge stehen, ein Glas prickelnden Champagner in der Hand, und spürte, wie ihm auf die Schulter geklopft wurde. Geschmeichelt schwamm er in Lob und Anerkennung, ja sogar im Geld.
Er erschrak! Die Arbeit ihn betört hatte wie eine Riesenschlange. Langsam hatte sie sich um ihn gerollt und ihr Griff war immer enger geworden, bis er nicht mehr bei Sinnen gewesen war. Und nun, dessen war er sich sicher, wollte sie ihn ganz verschlingen.
Heftig schüttelte er den Kopf, um die Erinnerungen an seinen Arbeitsplatz zu verscheuchen und sich auf die junge Frau im Bett vor ihm zu konzentrieren.
Dieses wundervolle, sanfte, fröhliche Wesen, das er so sehr geliebt hatte, kannte er nun kaum mehr. Vor ihm lag eine Fremde.
Beschämung über die Wunden, die er seiner Familie zugefügt hatte und tiefe Traurigkeit zogen sein Herz schmerzvoll zusammen, in dem Bewusstsein, dass er nichts mehr rückgängig machen konnte. Doch gleichzeitig keimte langsam eine Kraft in ihm auf, die immer größer wurde. Der Kampfgeist war geweckt und plötzlich wusste er, dass ihn nichts mehr davon abhalten konnte, sich aus dem eisernen Griff der Schlange zu befreien. Er würde kämpfen mit aller Kraft und Willensstärke, die er besaß, selbst wenn es ihn den Arbeitsplatz kosten würde, um wenigstens den Rest seines Lebens für die Menschen da zu sein, die er einmal so sehr geliebt hatte.
Er wollte wieder bereit sein, wenn Britta ihn brauchte und mit seiner Frau glücklich alt werden.
Einem inneren Impuls folgend beugte er sich nach vorne und strich zärtlich eine Haarsträhne aus Brittas Gesicht, während er Worte flüsterte, die ihm seit Jahren nicht mehr über die Lippen gekommen waren: „Ich liebe dich!“