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Die Galerie der Erinnerungen
Tief versteckt unter der Erde gibt es einen Ort, an dem jede Erinnerung eines Menschen, in Form eines Gemäldes, gespeichert ist.
Ich hörte zum ersten Mal als Kind von diesem Ort. Jeder Mensch hat dort seine eigene Galerie, mit all seinen Erinnerungen. Keine einzige gleicht der anderen. Die wenigsten Menschen wissen jedoch davon und jene, die es tun, halten es streng geheim. Sie sind versammelt im verbotenen Orden der Wächter der Erinnerungen.
Seitdem die Regierung das „Gesetz zur Regelung der Erinnerungskultur“ verabschiedet hatte, war es den Menschen verboten diese entstehen zu lassen und zu behalten, wenn sie die Volljährigkeit erreicht haben. Sobald eine entsteht, müssen sie sich freiwillig beim Amt für Erinnerungen melden und diese abgeben. Nur Kinder haben Anspruch auf Erinnerungen.
Wo genau man sie alle hinbringt, ist schwer zu sagen. Nicht einmal die Amtsmitarbeiter selbst wissen es. Zu verworren sind die Strukturen und Wege, die die Erinnerungen nach ihrem Auffinden nehmen.
Zunächst kommen sie in einen zentralen Verteilraum, in dem Mitarbeiter diese nach verschiedenen Kategorien vorsortieren, bevor sie in die jeweiligen Spezialabteilungen weitergeleitet werden. Es wird ausgewählt zwischen Kindheitserinnerungen, soziale und metaphysische, sowie verborgene Erinnerungen. Die verborgenen werden in mehrstufigen Verfahren, mindestens zwei Mal, von unabhängigen Gutachtern, geprüft, um festzustellen, ob sich eventuell noch Reste von ihnen in der fraglichen Person befinden. Sie sind die gefährlichsten von allen, da die Betroffenen selbst oft nicht wissen, dass sie in ihrem Unterbewusstsein schlummern.
Seit einiger Zeit versuche ich die Wächter ausfindig zu machen. Ich muss dabei sehr vorsichtig sein, denn auf Rückholung einer Erinnerung steht die Todesstrafe und selbst der Versuch wird geahndet.
Aber seit Langem taucht in meinen Träumen immer wieder eine Frau auf. Wir leben dort zusammen und müssen schon einige Jahre miteinander verbracht haben. In letzter Zeit erscheint sie mir regelmäßig und mit jeder Nacht, die vergeht, beginne ich mich klarer an diese Träume und ihr Gesicht zu erinnern.
Um uns nicht zu gefährden, darf ich keine Erinnerung an sie behalten. Wenn ich aufwache fühlt es sich an als würde ein Magnet an mir ziehen, um mich näher zu ihr zu bringen. Ich muss dagegen ankämpfen. Mein ganzer Körper, mein ganzes Sein möchte in diesen Momenten nichts anderes als wieder einzuschlafen, um bei ihr sein zu können.
Ich muss vorsichtig sein und meine Gedanken vor ihnen im Verborgenen halten. Doch das Gefühl zu vermissen zerreißt mich. Mein Magen krampft sich zusammen als hätte man mir hineingeschlagen. Mein ganzer Körper krümmt sich und ich möchte laut aufschreien.
Aus den runden Aussparungen in ihren tiefschwarzen Masken, die ihr Gesicht vollständig bedecken, sehen mich ihre Augen aufmerksam an. Beide stehen, den Rücken mir zugewandt, vor der Aufzugtür und neigen mir ihren Kopf zu. Ihr schwarzer Umhang und der zylindrische Hut lassen sie riesig erscheinen. Ihr gesamtes Gesicht ist von schwarz bedeckt. Keinerlei Züge sind durch die Masken auszumachen. Zwei runde Löcher, bedeckt von einer Art Netzgewebe, ermöglichen es ihnen zu sehen.
Wir steigen in den Aufzug. Sie gehen vor. Aus Sicherheitsgründen wird beim Betreten der Kabine das Licht ausgeschaltet. In völliger Dunkelheit fahren wir hinab. Wie weit kann ich nicht sagen, aber es müssen mindestens zehn Minuten sein. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Die beiden Wächter, die mich begleiten schweigen. Nur das regelmäßige Klacken des Aufzugs ist zu hören. Meine Gedanken pochen gegen meinen Schädel und mit jeder Sekunde, die verstreicht steigt meine Aufregung. Was wird mich dort unten erwarten?
Wie ich hergekommen bin daran kann ich mich nicht erinnern. Das ist Teil der Vereinbarung mit ihnen. Ich weiß nur, dass man mich hier herbrachte und ich durch eine große, hölzerne Tür ging. Alles andere wurde gelöscht.
Mit einem Ruck bleibt die Kabine stehen und die Tür geht auf. Vor uns liegt ein dunkler, endlos wirkender Gang im Halbdunkel. Hier und da leuchten in kleinen Nischen bläulich schimmernde Lampen, die gerade hell genug sind, um einen kleinen Halbkreis vor sich zu beleuchten. Wortlos gehen die bedrohlichen Erscheinungen vor und bedeuten mir nachzukommen.
Langsam bewegen wir uns durch endlose Gänge im Zwielicht, vorbei an zahllosen Türen. An jeder befindet sich mittig ein Schild mit einem Namen und ein riesiges Vorhängeschloss verhindert ein unerwünschtes Eindringen. Die Decke ist halbrund und nicht gerade sehr hoch. An einigen Stellen muss man den Kopf einziehen, um sich nicht zu stoßen. Hin und wieder kreuzen sich verschiedene Gänge. Ich muss mich konzentrieren keine der Abzweigungen zu verpassen und meinen Begleitern zu folgen, während ich die Namensschilder auf den Türen im Vorbeigehen lese.
Keiner der Namen kommt mir bekannt vor. Überhaupt wirkt dieser Ort befremdlich. Wir biegen mehrmals nach rechts und je weiter wir gehen, desto labyrinthartiger erscheinen mir die Gänge. Hier unten scheint keine Logik, keine Gesetzmäßigkeit zu existieren. Eigentlich müssten wir schon längst wieder dort angelangt sein, von wo aus wir gestartet sind. Mehrmals bogen wir rechts ein, doch scheinen wir uns nicht im Kreis zu bewegen.
Das Unwirkliche dieses Ortes wird noch unterstützt durch andere dunkle Hüter, die plötzlich auftauchen und regungslos in einer der großen Nischen in den Gängen im Halbdunkel stehen. Ihre Erscheinung wirkt unmenschlich. Bewegungslos stehen sie dort, lediglich ihre Augen folgen aufmerksam der vorbeiziehenden Bewegung. Meine beiden Wächter scheinen von ihnen keinerlei Notiz zu nehmen. Fast geräuschlos gehen sie aneinander vorbei. Erst jetzt bemerke ich, dass sie dabei leicht über dem Boden schweben. Die schwarzen Umhänge überragen ihre Beine, doch scheinen ihre Füße die lehmige Erde nicht zu berühren.
Meine eigenen Bewegungen kommen mir plump und unbeholfen vor. Wie ein Fremdkörper bewege ich mich dumpf durch diese traumartige Welt. Jeder meiner Schritte hallt in meinem Kopf wider.
Abrupt bleiben die Wächter stehen und ich remple einen von ihnen an. Wir sind so lange gelaufen, dass ich nicht mehr damit gerechnet habe irgendwo anzukommen. Ich schaue an ihnen vorbei. Der Gang endet hier in einer Mauer. Beide sehen sich an. Einer von ihnen nickt dem anderen zu.
Aus seinem Umhang nimmt er eine Flasche mir einer Flüssigkeit und hält sie mir entgegen. Im Schein des Zwielichts kann ich kann ich ihre Farbe nicht erkennen. Beide stehen vor mir und ihre Augen sehen mich durch ihre Masken an. Sie erscheinen mir wie riesige, bedrohliche Wesen aus einem Albtraum, wie sie so halb über mich gebeugt stehen.
Ich öffne den Deckel, setze an und schlucke die Geschmacklose, zähe Flüssigkeit hinunter. Nachdem ich ausgetrunken habe, nickt der andere leicht mit seinem Kopf und holt einen Schlüsselbund aus der Tasche seines Umhangs. Er dreht sich um und öffnet eine Tür am Ende des Ganges, die ich zuvor nicht dort gewesen war.
Zartes, gelb-weißes Licht strahlt uns entgegen. Meine Aufregung steigt, aber ich kann nicht erkennen, was sich hinter der Tür befindet, da meine Sicht durch die beiden schwarzen Erscheinungen vor mir verdeckt ist. Schließlich drehen sie sich etwas zur Seite, öffnen so einen Weg für mich und bedeuten mir in das Licht zu treten.
Es ist Teil der Vereinbarung, auch meiner, eine Reise ohne Rückfahrschein. Aber ich muss sie finden. Die eigenen Erinnerungen zurückzurufen ist eine einmalige Sache. Sobald man diesen Ort wieder verlässt, endet die Macht und der Schutz der Wächter. Man wird verfolgt werden. Das Versteck, die Dunkelheit, die Masken, all das dient zu ihrem Schutz. Jedes noch so kleine Detail über ihre Identität oder Aufenthalt wäre sowohl ihr Ende als auch das Ende all unserer Erinnerungen, für immer.
Die Tür hinter mir ist verschwunden. Der Raum erscheint formlos. Es gibt keine Wände oder Decken. Ich kann in alle Richtungen sehen ohne eine Begrenzung zu erkennen. Aus allen Richtungen strahlt sanft gelbliches Licht und überzieht den Raum mit einen schier endlosen Schleier aus Licht. Über dem Boden liegt ein weißer, nebliger Dunst. Bilder hängen in goldenen Rahmen aufgereiht in der Luft, unmöglich zu sagen, wodurch sie so gehalten werden.
Ich trete an das erste heran. Auf ihm sieht man einen Mann und eine Frau, die ein Kleinkind im Arm hält: einen Jungen. Beim Betrachten des Bildes steigt ein süßlicher Geruch in meine Nase. Ich kenne ihn. Irgendwo habe ich ihn schon einmal gerochen. Ganz tief in meinem Bewusstsein resoniert er mit etwas, das sich aber so weit entfernt befindet, dass ich es nicht sofort zuordnen kann.
Ich versuche mich auf ihn zu konzentrieren. Es ist ein warmer, blumiger Duft, eine Mischung aus Pfirsich, Rose und Patschuli. Plötzlich trifft es mich. Ein Zittern durchfährt meinen Körper und eine Ahnung steigt in mir auf. Zu dem Geruch kommt das warme Gefühl einer Berührung auf meiner Haut. Unwillkürlich sehe ich den Mann an und spüre ein leichtes Kratzen auf meiner Wange. Er trägt einen dunklen, gepflegten Dreitagebart und schaut mit sanften Augen auf das Kleinkind.
Wankenden Schrittes gehe ich zum nächsten Bild. Auch hier kann man die drei erkennen. Dieses Mal ist der Junge etwas größer und trägt eine zylinderförmige Tüte im Arm, die fast so groß ist wie er selbst. Der Mann und die Frau stehen neben ihm.
Meine Ahnung wandelt sich in Gewissheit und vor Überwältigung sacke ich auf den Boden zusammen. Mein Körper krümmt sich, wie der eines Embryos. Laut schreie ich einige Male nach ihnen. Der Klang meiner eigenen Stimme wirkt auf mich merkwürdig verzerrt und verhallt in der Formlosigkeit dieses Raumes. Lange bleibe ich reglos auf dem Boden liegen, bevor Wut und Trauer schließlich der Gewissheit über ihren endgültigen Verlust weichen.
Der letzte Bilderrahmen ist leer. Ich habe mich bis hierhin vorgearbeitet. Wie viel Zeit dabei vergangen ist, vermag ich nicht genau zu sagen, aber es müssen Tage gewesen sein. Das, was sie mir zutrinken gaben, heilte meine Müdigkeit und meinen Hunger in dieser Zeit.
Sieht man sein gesamtes Leben vor sich, fällt es schwer sich nicht zu fragen, wie viel Bedeutung die eigene Existenz hatte, nachdem sie all ihrer Erinnerungen beraubt wurde.
Ich muss viele Jahre sehr einsam gewesen sein. Über jeder meiner Erinnerungen schwebt ein dunkler Schatten der Traurigkeit. Ich schaue auf das leere Bild und spüre das Gefühl von Hilflosigkeit und Verzweiflung in mir aufsteigen. Die Frau konnte ich nicht finden. Keine Erinnerung verrät mir etwas über sie, doch dieses Gefühl, das ich mit ihr verbinde ist noch immer da.
Meine zwei Wächter erscheinen aus dem Nichts und stehen hinter mir. Ich kann sie spüren und weiß, es ist Zeit zu gehen.
Schweigend laufen wir durch den dunklen Korridor. Die beiden gehen mir voran. Benommen kreisen meine Gedanken um die Frau und das leere Bild. Mein Herz schmerzt und mein ganzer Körper fühlt sich an wie taub.
Mit einem Mal höre Schritte ganz in der Nähe. Ich versuche mich ganz auf sie zu konzentrieren. In der Dunkelheit meiner Umgebung wirken sie unwirklich. Es sind weder meine, noch die meiner Wächter. Es muss uns jemand entgegen kommen. Sanft und rhythmisch kommen sie näher. Ich versuche vor uns etwas zu erkennen, aber die riesigen Erscheinungen machen es unmöglich, etwas zu erkennen.
Ich schrecke zusammen als etwas sich im Augenwinkel neben mir bewegt. Ein Wächter geht in entgegengesetzter Richtung an uns vorbei. Sein schwarzer Umhang berührt mich dabei leicht. Dieser Geruch. Ein Gefühl wie ein Schlag durchzieht meinen Körper. Für einen kurzen Augenblick schließe ich meine Augen und atme ihn bewusst ein, lasse seine ganze Kraft meinen Körper durchziehen. Dann sehe ich sie. Ich erkenne sie nur von der Seite und das Zwielicht um uns herum erschwert die Sicht, doch es sind zweifellos ihre Züge. Sie ist es! Langsam geht sie an mir vorüber und folgt ihrem Wächter. Die Zeit scheint verlangsamt. Unsere Blicke treffen sich. Unwillkürlich greift meine Hand nach ihrer. Als sie sich berühren, kehren all meine Erinnerungen zurück. Mein Herz fängt rast und pocht bis an meinen Hals. Schweiß treibt mir aus allen Poren. Mein Kopf fühlt sich an als würde er glühen. Ich weiß wir haben nicht viel Zeit. Zitternd nehme ich ihre Hände fester in meine.
„Endlich habe ich dich gefunden. Ich habe dich so vermisst. All die Jahre, all die Erinnerungen, die man uns genommen hat, sie sind jetzt wieder da. Komm mit mir zurück. Ich liebe...“ , doch ehe ich den letzten Satz mit zitternder Stimme zu Ende sprechen kann, löst sie ihre Hand aus meiner, die kraftlos gegen meinen Oberschenkel fällt. Ihr Blick wirkt, als würde sie durch mich hindurchschauen.
Schweigend geht sie weiter und folgt ihrem Wächter tiefer hinein in das Labyrinth mit den Namensschildern. Mein Herz zerreißt. Ein Stein liegt in meinem Magen.
Ich rufe ihren Namen. „Bleib bei mir. Geh nicht“. Ich versuche ihr nachzulaufen, doch die Kraft meiner Wächter hält mich zurück. Ich krümme mich vor Schmerz. Aller Lebenswille scheint diesen Leib zu verlassen. Ihre Energie zieht meinen Körper hinter sich her, der ihnen mechanisch folgt. Wir betreten den Fahrstuhl und fahren nach oben.
Ich stehe in der Dunkelheit der Kabine, doch mein Geist befindet sich noch immer dort unten. Alles in mir will zu ihr. Mein Herz fühlt sich an als möchte es aus meinem Körper springen. Bilder von gemeinsamen Erlebnissen sausen wie wild durch meinen betäubten Geist. Ungeordnet kommen und gehen einzelne Erinnerungsfetzen.
Ein lautes Geräusch holt mich aus meinen Gedanken und mit einem Mal wird mir alles klar.
Die Wächter öffnen die riesigen knarrenden Holztüren des Eingangs. Morgendliches Sonnenlicht strahlt mir sanft entgegen. An dieser Stelle bin ich zuvor angekommen. Die beiden schwarzen Silhouetten sehen mich an und bedeuten mir zu gehen.
Für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen. Mein Geist ist noch immer dort unten. Er bleibt bei ihr. Durch ihn sehe ich noch einmal die Bilder der Galerie vor mir und gehe jede meiner Erinnerungen durch. Am Ende angekommen erkenne ich: das fehlende Bild ist nun vollständig. Ein letztes Mal erscheint ihr Gesicht vor mir. Dieses Mal deutlicher als je zuvor. Ich kann mich jetzt an alles klar erinnern. Ich wünschte, ich könnte noch einmal ihre Hand in meiner spüren.
Ich öffne meine Augen. Kraftlos gehe ich aus der Tür hinaus.
Sie kommen.