- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Die Geschichte mit dem »Sumsi«-Sparbuch
Meine Tochter Julia kam kurz nach meinem neunzehnten Geburtstag zur Welt, aber ich sah noch viel jünger aus. Vielleicht war es ja die Schwangerschaft selbst, die mich so verjüngte: Wenn ich in den Spiegel sah, schaute mir ein Kind entgegen. So kam es, dass mich in den ersten Jahren nicht selten jemand für die große Schwester hielt. Wenn ich den Leuten dann die Wahrheit sagte, schauten sie meistens erstaunt und entschuldigten sich.
Nur einer war es wirklich peinlich…
Julia hatte zu ihrem dritten Geburtstag neben Spielzeug auch Geld fürs Sparbuch bekommen. So spazierten wir an einem schönen Tag im Mai mit dem Geld und ihrem »Sumsi«-Sparbuch auf die Länderbank. Dort angekommen, erspähte sie den runden Tisch, in dessen Mitte eine Plastikschüssel voller Lego-Steine steckte, und rannte hin um zu spielen.
Ich stellte mich währenddessen mit ihrem »Sumsi«-Sparbuch bei der Kassa an. Die drei Kunden vor mir brauchten ewig lange, was aber möglicherweise an der Kassierin lag. Sie war schon etwas älter, wie man so schön sagt, hatte blond gefärbtes, auftoupiertes Haar und eine schmale Goldbrille, die ganz vorne auf der Spitze der Nase saß und an einer Kette um den Hals hing. Sie arbeitete sehr gewissenhaft und sorgfältig, jedenfalls musste man das glauben, wenn man die Zeit, die sie dafür brauchte, als Maßstab anlegte.
Schließlich kam ich doch noch an die Reihe, sagte »Guten Tag« und hielt ihr Julias »Sumsi«-Sparbuch samt dem Geld entgegen. Sie sah mich über den Brillenrand hinweg an und fragte mit leicht erhobener Stimme: »Bitte, was kann ich für dich tun?«
»Ich möchte da gern was einzahlen«, sagte ich und schaute gleichzeitig auf meine Hände. Ihre Augen folgten meinen. Sie nahm Geld und Sparbuch bedächtig an sich, zählte die beiden Geldscheine und blätterte in dem Sparbuch herum. Das nahm rund zwei Minuten in Anspruch.
Ohne den Kopf zu heben, sodass die Brille auf ihrem Mund zu sitzen schien, schaute sie mich mit dem treuherzigsten Blick an, den es überhaupt nur geben kann, und fragte mit vertraulicher Stimme, als wollte sie mir erzählen, wie man Kinder macht:
»Möchtest du jetzt nicht einmal ein Jugendsparbuch eröffnen?« Begleitend klappten ihre Augenlider ein paar Mal auf und zu.
Ich versuchte, ebenso treuherzig zu schauen und ihr so die Wahrheit schonend beizubringen: »Nein, meine Tochter ist erst drei …«
Das Gesicht der Bankangestellten lief rot an, sie rückte ihre Brille an die Nasenwurzel und wollte offenbar irgendwo versinken, entschloss sich dann aber doch, wieder eine aufrechte Sitzposition einzunehmen. Sie räusperte sich. »Entschuldigen Sie bitte«, brachte sie verlegen hervor, was ich mit einem verzeihenden Lächeln quittierte. Dann blätterte sie nochmals in dem Sparbuch und meinte amtlich: »Ach, da steht ja das Geburtsdatum.«
Nun beeilte sie sich aber wirklich, den Eintrag im Sparbuch vorzunehmen. Schließlich stand hinter mir eine Menschenschlange, die darauf wartete, ebenso gewissenhaft bedient zu werden…