Was ist neu

Die Geschichte mit dem »Sumsi«-Sparbuch

Seniors
Beitritt
20.11.2001
Beiträge
7.591
Zuletzt bearbeitet:

Die Geschichte mit dem »Sumsi«-Sparbuch

Meine Tochter Julia kam kurz nach meinem neunzehnten Geburtstag zur Welt, aber ich sah noch viel jünger aus. Vielleicht war es ja die Schwangerschaft selbst, die mich so verjüngte: Wenn ich in den Spiegel sah, schaute mir ein Kind entgegen. So kam es, dass mich in den ersten Jahren nicht selten jemand für die große Schwester hielt. Wenn ich den Leuten dann die Wahrheit sagte, schauten sie meistens erstaunt und entschuldigten sich.
Nur einer war es wirklich peinlich…

Julia hatte zu ihrem dritten Geburtstag neben Spielzeug auch Geld fürs Sparbuch bekommen. So spazierten wir an einem schönen Tag im Mai mit dem Geld und ihrem »Sumsi«-Sparbuch auf die Länderbank. Dort angekommen, erspähte sie den runden Tisch, in dessen Mitte eine Plastikschüssel voller Lego-Steine steckte, und rannte hin um zu spielen.
Ich stellte mich währenddessen mit ihrem »Sumsi«-Sparbuch bei der Kassa an. Die drei Kunden vor mir brauchten ewig lange, was aber möglicherweise an der Kassierin lag. Sie war schon etwas älter, wie man so schön sagt, hatte blond gefärbtes, auftoupiertes Haar und eine schmale Goldbrille, die ganz vorne auf der Spitze der Nase saß und an einer Kette um den Hals hing. Sie arbeitete sehr gewissenhaft und sorgfältig, jedenfalls musste man das glauben, wenn man die Zeit, die sie dafür brauchte, als Maßstab anlegte.

Schließlich kam ich doch noch an die Reihe, sagte »Guten Tag« und hielt ihr Julias »Sumsi«-Sparbuch samt dem Geld entgegen. Sie sah mich über den Brillenrand hinweg an und fragte mit leicht erhobener Stimme: »Bitte, was kann ich für dich tun?«
»Ich möchte da gern was einzahlen«, sagte ich und schaute gleichzeitig auf meine Hände. Ihre Augen folgten meinen. Sie nahm Geld und Sparbuch bedächtig an sich, zählte die beiden Geldscheine und blätterte in dem Sparbuch herum. Das nahm rund zwei Minuten in Anspruch.
Ohne den Kopf zu heben, sodass die Brille auf ihrem Mund zu sitzen schien, schaute sie mich mit dem treuherzigsten Blick an, den es überhaupt nur geben kann, und fragte mit vertraulicher Stimme, als wollte sie mir erzählen, wie man Kinder macht:
»Möchtest du jetzt nicht einmal ein Jugendsparbuch eröffnen?« Begleitend klappten ihre Augenlider ein paar Mal auf und zu.

Ich versuchte, ebenso treuherzig zu schauen und ihr so die Wahrheit schonend beizubringen: »Nein, meine Tochter ist erst drei …«
Das Gesicht der Bankangestellten lief rot an, sie rückte ihre Brille an die Nasenwurzel und wollte offenbar irgendwo versinken, entschloss sich dann aber doch, wieder eine aufrechte Sitzposition einzunehmen. Sie räusperte sich. »Entschuldigen Sie bitte«, brachte sie verlegen hervor, was ich mit einem verzeihenden Lächeln quittierte. Dann blätterte sie nochmals in dem Sparbuch und meinte amtlich: »Ach, da steht ja das Geburtsdatum.«
Nun beeilte sie sich aber wirklich, den Eintrag im Sparbuch vorzunehmen. Schließlich stand hinter mir eine Menschenschlange, die darauf wartete, ebenso gewissenhaft bedient zu werden…

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Häferl,

da hast du eine amüsante kleine Alltagsanekdote sehr anschaulich geschildert, so dass sie auch ohne dramatische Ereignisse lesenswert ist.

Einige Dinge sind mir aufgefallen:

So kam es, dass mich in den ersten Jahren nicht selten jemand für die große Schwester hielt. Wenn ich ihnen dann die Wahrheit sagte, schauten sie meistens erstaunt und entschuldigten sich.
Zwischen den beiden Sätzen stimmt für mich der Bezug nicht ganz: Im ersten (Neben-)Satz ist "jemand" das Subjekt. Wenn du im zweiten Satz, der sich auf den Vorsatz bezieht, "ihnen" schreibst, irritiert der unterschiedliche Numerus. Ich würde formulieren "So kam es, dass die Leute mich in den ersten Jahren..."

... hatte blond-gefärbtes, auftoupiertes Haar...
blond gefärbtes

»Ich möchte da gern was einzahlen«, sagte ich und richtete gleichzeitig meinen Blick auf den Inhalt meiner Hände.
Ich würde schreiben "richtete... meinen Blick auf das, was ich in den Händen hielt".

Ohne, dass sie den Kopf hob, sodass sie die Brille über dem Mund zu haben schien, schaute sie mich mit dem treuherzigsten Blick, den es überhaupt nur geben kann, an und fragte mit vertraulicher Stimme, als wollte sie mir erzählen, wie man Kinder macht:
Der Satz erinnert mich an ein Zitat von Mark Twain: "Wenn der deutsche Schriftsteller in einen Satz taucht, dann hat man ihn die längste Zeit gesehen, bis er auf der anderen Seite seines Ozeans wieder auftaucht mit seinem Verbum im Mund."
Da würde ich etwa entwirren, vielleicht in dem Stil "Ohne den Kopf zu heben, so dass die Brille auf ihrem Mund zu sitzen schien, schaute sie mich mit einem treuherziger nicht denkbaren Blick an..."

Denk mal drüber nach.

Grüße, Chica

 

Hallo Susi,
eine nette, kleine Alltagsanekdote ist dir hier gelungen. Mich haben früher auch immer alle für jünger gehalten, als ich war. Deine Geschichte erinnert mich an ein Erlebnis, dass ich mal in einem grossen Kaufhaus hatte. Ich war achtzehn und wollte mir einen Blazer zu meiner Abiabschlussfeier kaufen. Da spricht mich eine ältliche Verkäuferin an und fragt mich, ob es für die Konfirmation sein soll. Ich wäre der Alten am liebsten an den Hals gesprungen.:D
Heutzutage freue ich mich natürlich, wenn die Leute mich mit meinem dreizehnjährigen Sohn sehen und ihn für meinen Bruder halten.:p :D
Zurück zu deinem Text. Chica hat dich ja schon auf ein paar Sachen aufmerksam gemacht, die mir auch aufgefallen waren.
Komisch wirkt auf mich auch noch die Formulierung:
"Dort angekommen, erspähte sie den runden Tisch, in dessen Mitte eine Plastikschüssel voller Lego-Steine steckte, und rannte hin um zu spielen."
Das Wort "steckte" passt irgendwo nicht. Oder hatte der Tisch in der Mitte eine besondere Vorrichtung, in dem die Schüssel wirklich drin steckte?
Ansonsten würde ich vielleicht "stand" schreiben.

Wie bereits gesagt, hat mir die Geschichte gut gefallen.
Liebe Grüsse nach Wien
Sylvia

 

Hallo Chica, liebe Sylvia!

Danke Euch beiden fürs Lesen und Kritisieren meiner Geschichte! :)

Zu Deinen Anmerkungen, Chica:

Da, wo der Bezug nicht gestimmt hat, hab ich vorm Posten einen ganzen Satz rausgenommen, drum hat´s dann nicht mehr gepaßt. ;) Ist repariert.

Bei »richtete gleichzeitig meinen Blick auf den Inhalt meiner Hände« wollte ich ursprünglich „meinen Blick auf meine Hände“ schreiben, „den Inhalt“ war nur Füllmaterial, damit sich „meine“ nicht so schnell wiederholt…:D – Hab jetzt »schaute gleichzeitig auf meine Hände« draus gemacht.

Den Mark-Twain-Satz hab ich etwas entwirrt, teilweise mit Deiner Vorgabe:
»Ohne den Kopf zu heben, sodass die Brille auf ihrem Mund zu sitzen schien, schaute sie mich mit dem treuherzigsten Blick an, den es überhaupt nur geben kann, und fragte mit vertraulicher Stimme, als wollte sie mir erzählen, wie man Kinder macht:«


Ich hab mit der Geschichte versucht, ob ich noch einmal so etwas lockeres wie »Häferlwecken« zustande bring, da ich dort gerade deshalb so gelobt wurde, die Geschichte aber schon ein Weilchen zurückliegt. Deshalb hab ich sie auch relativ schnell geschrieben und gar nicht lange überarbeitet – sozusagen ein persönliches Experiment. ;)
Sonst überarbeit ich schon mehr und laß mir oft Wochen oder sogar schon Monate für eine Geschichte Zeit. – Würde mich freuen, Dich auch einmal bei einer solchen Geschichte anzutreffen. :)


Sylvia, über Deine Frage wegen dem Lego-Tisch bin ich etwas verwundert, da ich dachte, die kennt man überall? Das sind so fixe Kombinationen aus einem runden Tisch mit drei oder vier Sitzgelegenheiten, wobei vor jeder eine Lego-Platte auf den Tisch geklebt ist, und in der Mitte des Tisches ist ein Loch, in dem die Schüssel mit den Lego-Steinen steckt (sodaß es quasi eine Vertiefung des Tisches ergibt). – Hast Du das wirklich noch nie gesehen? Ich dachte nämlich eigentlich, daß die Beschreibung ausreicht, eben weil sie doch jeder kennt… Vielleicht bist Du schon zu lang in Spanien? ;)

Dein Erlebnis mit dem Blazer-Kauf gefällt mir auch, das könntest Du auch in eine Geschichte einbauen. :)

Danke Euch beiden,
liebe Grüße,
Susi :)

 

HERRLICH :D :rotfl:

Ich konnte mir die Bankangestllte so richtig vorstellen :D

Und ich bin froh das du diese Anekdote aufgeschreiben hast - einfach schön so etwas zu lesen :D

Mir erging es andersrum - da ich mit 12 schon fast 1,80 groß war, war es oft schwer an "Jugendvergünstigungen" ( Bei uns zB billiger Kino) heranzukommen ....

( eine kleine Kritik habe ich noch: Da sind 1 / 2 sehr lange Sätze drin die sich vielleicht kürzen ließen :D )

 

Illu: 1,85 ....

Hey wenn die sagte sie will mit ihrer Schwester da runterfahren - hatte sie vergessen das es ihr Kind war?

 

Liebe Jadzia, lieber Illu!

Danke Euch beiden fürs Lesen und es freut mich, daß Euch die Geschichte so gefallen hat! :)

Hehe, Jadzia, die Bankangestellte hat auch wirklich so ausgesehen, und der Blick war einfach göttlich. Echt schade, daß es davon kein Foto gibt...:D

Irgendwie fallen da scheinbar jedem eigene Erlebnisse dazu ein, das freut mich auch sehr, wenn ich die Decke über Euren Erinnerungen ein bisschen lüpfen konnte...:cool:

Illu, die Frau hat sich bestimmt gefreut, daß Du sie für so jung gehalten hast, auch wenn sie das nicht so gezeigt hat...;) - Also zumindest wenn man ihr als Alternative eine Verwechslung mit der Oma angeboten hätte. :D

Ja, also, um die langen Sätze werd ich mich noch kümmern, aber heute nicht mehr...;)

Alles Liebe,
Susi :)

 

Hey Häferl!

Nett, kurze Episode. Das mit dem jünger ausgucken kenn ich ja, aber sowas.... :D

Flott erzählt, gerne gelesen.
An einer Stelle: "und fragte mit vertraulicher Stimme, als wollte sie mir erzählen, wie man Kinder macht" fand ich es etwas übertrieben - ansonsten sehr gerne gelesen!

liebe Grüße
Anne

 

Salut Häferl,

Der Titel hat mein Interesse geweckt.

Eine nette Geschichte für Zwischendurch. Nichts weltbewegendes, aber du hast es geschafft, das ich hatte die Situation bildlich vor Augen hatte. Aufgefallen ist mir die gute Charakterisierung der Kassiererin.
Die Geschichte ist entspannt zu lesen, leider fehlt ihr so etwas wie einen Höhepunkt. Ich habe nach der Einleitung irgendwie mehr erwartet.

lieben Gruß! :)
Thorn

 

Hallo Häferl,

ich glaub´ inzwischen wäre ich froh, wenn mir so etwas passieren würde...

Eine nette, ganz beiläufig erzählte Geschichte die nicht durch irgendwelche `Action´ lebt, sondern einfach durch die Schilderung einer im Alltag geschehenen Situation. Die Bankangestellte wird aber sicher noch länger an diesen Tag gedacht haben. Ob sie davon ihren Freunden erzählt hat?

„... und fragte mit vertraulicher Stimme, als wollte sie mir erzählen, wie man Kinder macht ...“

Diese Spezifizierung ihres Stimmausdrucks finde ich gelungen, weil ungewöhnlich.


Änderungsvorschläge:

Wenn ich den Leuten dann die Wahrheit sagte, schauten sie meistens erstaunt und entschuldigten sich.
Nur einer war es wirklich peinlich…

- „einer“ stört mich hier, weil es sich nicht auf „Leuten“ beziehen lässt.

was aber möglicherweise an der Kassierin lag - Kassiererin

auftoupiertes Haar und eine schmale Goldbrille, die ganz vorne auf der Spitze der Nase saß und an einer Kette um den Hals hing.

- da habe ich gestutzt: Sie sitzt auf der Nase und hängt gleichzeitig. Eigentlich stimmt das `Hängen´, aber nicht im Moment. Vielleicht habe ich jetzt einfach in die falsche Schublade der möglichen Sichtweisen gegriffen.

LG,

tschüß... Woltochinon

 

Hi Häferl,

obwohl in der Einleitung ja klar war, in welche Richtung die Geschichte zielt, war es trotzdem eine nette Pointe, zumal du die Bankangestellte so schön geschildert hast (bei uns gibt es eine Ähnliche, die dazu noch kiloweise Gold und Pfennigabsätze trägt :D), dass man sich nicht nur auf die Pointe, sondern auf die Person selbst konzentriert hat. Was mir doch etwas fragwürdig vorkam:

Sie nahm Geld und Sparbuch bedächtig an sich, zählte die beiden Geldscheine und blätterte in dem Sparbuch herum. Das nahm rund zwei Minuten in Anspruch.
Zwei Minuten sind eine lange Zeit; auch für eine bedächtige Person ;).

Nette Geschichte für zwischendurch, gerne gelesen :).

Was aber ist ein Sumsi ?

Lieber Gruß
bernadette

 

Hey Häferl,

als ehmaliger Bankangestellter hat mich natürlich der Titel gereizt. Deswegen musste ich deine Geschichte einfach lesen. Und ich habe es sicherlich nicht bereut. Konnte mich komplett in die Situation rein versetzen, da ich auch schon des öfteren ähnliche Peinlichkeiten erlebte.

Wie anschaulich du die ganze Situation schilderst: Brillant! Auch dein Schreibstil gefällt mir außerordentlich gut. Verbesserungsvorschläge hab ich eigentlich keine, außer dass der Text genauso gut in Humor stehen konnte. Habe bei der Pointe lauthals gelacht. Super!

Eins noch. Hast du für diese Geschichte schon eine Empfehlung bekommen??
Wenn nicht bekommst du sie nämlich von mir. Bin wirklich begeistert.

viele Grüße
neukerchemer

 

Hi Susi,

nette kleine Annekdote.

Im ersten Augenblick schien mir als sei die Einleitung zu lang bzw. ich stieß mich daran, daß am Ende die Pointe "nur" im Speziellen wiedergab, was die die Einleitung schon vorausschickte.

Aber dann kam ich zum Ergebnis, daß es nur so wirkt. Bei Kürzungen in der Einleitung würde ich mich fragen, was es soll.
Und wenn der Text noch länger wäre, würde ich sagen, es trägt nicht.
Schön auch, daß die Prot. nicht gleich die Krise bekommt, weil die Angestellte sie duzt, sondern weitermacht, weil sie es eben gewohnt ist, um anschließend den "Denkzettel" raffiniert zu setzen.

Etwas störte mich die Mischung aus wörtlicher Rede im Text und normaler wörtlicher Rede. Möglicherweis könnte man hier (ich denke nur laut) etwas einsparen/optimieren:

Schließlich kam ich doch noch an die Reihe, sagte »Guten Tag« und hielt ihr Julias »Sumsi«-Sparbuch

meinte amtlich: »Ach, da steht ja das Geburtsdatum.«


Einiges an gesprächsbegleitender Erklärung könnte man weglassen und durch einen klar abgegrenzten Dialog rausbringen, allerdings ist dies hier auch die Stärke. Die glasklare Beschreibung der Situation, so eben wie das Nacherzählen mit dem Immitieren der handelnden Personen.

Insofern eigentlich alles genau richtig, obwohl ich nun immer noch nicht weiß, warum das Sparbuch "Sumsi" heißt.

Grüße
mac

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom