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Die Geschichte vom Jungen...
Die Geschichte vom Jungen, dem das Leben zu viel wurde…
Ich kannte einen Jungen, der lebte in einer Welt, die mit der unseren, der „realen“, nur wenig Gemeinsames hatte. Eine Welt, wie sie nur in Büchern überleben kann. Und in der Phantasie kleiner Jungen.
Weil ihm das Leben in unserer „Realität“ zu viel wurde, dachte er sich seine eigene Stadt aus, mit Häusern und Straßen, mit Menschen, die es in unserer Welt nie geben wird, geben kann.
Ihm war es aber schon bald zu wenig, nur in seinen Tagträumen die Stadt besuchen und mit seinen neuen Freunden spielen zu können. Er wollte mehr.
An einem Sommertag ging er morgens auf eine Wiese, legte sich ins taunasse Gras und starrte minutenlang, stundenlang in die Sonne, bis diese farbenprächtig hinter einem Wäldchen unterging. Der Junge sah die Abendröte nicht mehr, nur die Gesichter “seiner“ Menschen. Für unsere Welt war er geblendet, blind.
Dem Jungen war es, als würde er in einem Stummfilmkino sitzen, sein eigenes Werk betrachtend. So, als würden alle anderen im Saal mit Popcorntüten rascheln, nur um ihn zu stören und zu ärgern.
Eines Tages ging er wieder aus dem Haus hinaus und zu der Wiese, mit einem Stück Draht. Er stach sich damit so lange in die Ohren, bis er seine eigenen Schmerzensschreie nicht mehr hören konnte, nur noch fühlte, wie das Blut aus seinen zerstoßenen Gehörgängen drang.
Endlich hatte er Musik, Freudenschreie und Kinderlachen in seinem ganz privaten Kino, seiner wahren Welt. Seine „realen“ Freunde, seine „reale“ Familie, sie trafen mit ihren Geschichten und ihren Gesprächen nur noch auf taube Ohren.
Bald wurde es ihm zu wenig.
Eines Tages kletterte er, blind und taub, auf die Fensterbank und ließ sich fallen. Vier Stockwerke tief.
Als er gelähmt in seinem Krankenbett aufwachte, war der Junge glücklicher als je zuvor. Endlich konnte er mit seinen Freunden aus der anderen Welt spielen, mit ihnen herumlaufen, tanzen. Für unsere Welt hatte er keine Gefühle, keinen Schmerz mehr übrig.
Doch da bemerkte er das dumpfe Schlagen seines kleinen Herzens, bemerkte, dass er manchmal an die „Realität“ dachte und er erkannte, dass er noch nicht zu seiner eigenen Welt gehörte, nicht vollständig.
Dann beschloss er zu sterben.
Ich weiß nicht, ob der Junge glücklich war, oder ob es ihm bald schon zu wenig wurde. Er konnte es mir nicht mehr erzählen.
…und der Tod zu wenig