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Die Definition eines lebensrettenden Zufalls
Die graue Rampe
Es gibt einen Grund dafür, warum ich mir stets zuerst meinen linken Schuh anziehe, warum ich immer auf der linken Straßenseite entlanglaufe und warum ich immer mit dem linken Bein aus dem Bett steige.
Immer wenn ich schwarz-weiß Aufnahmen aus einer längst vergangen Zeit sehe, stelle ich fest, dass grau damals die allgegenwärtige Farbe war. Obwohl meine Augen durchaus in der Lage waren Farben zu erkennen, sah ich in diesen drei Jahren meines Lebens immer nur grau. Graue Wände, graue Wege, graue Kleidung, graue Haut sowie grauen Rauch aus grauen Schornsteinen.
Ich liebte Züge, die schweren dampfenden Lokomotiven beeindruckten mich, doch dass eine Zugfahrt mein Leben und das von Millionen anderen derartig verändern würde, darauf war ich nicht gefasst. Wie Schweine auf ihrem letzten Weg zum Schlachter wurden wir in kalte, graue Viehwagons verfrachtet. Männer, Frauen mit Kindern, Greise, alle mussten wir stundenlang stehend in der Kälte ausharren. Es gab weder Sitzgelegenheiten noch Toiletten, dafür viel Ungewissheit. Viele von uns überlebten die Zugfahrt nicht, die anderen waren der Meinung das Schlimmste überstanden zu haben.
Wir waren Hunderte die nun auf dem grauen Bahnsteig warteten. Wir alle hatten unser eigenes Schicksal, das uns dorthin gebracht hatte, an einen Ort den wir nicht kannten. Ich bereue nicht, dass ich in einem grauen, kalten Kellerlokal illegal Kinder unterrichtet hatte und ich verzeihe auch dem Vater des einen Kindes, der mich angezeigt hatte.
Ich war damals froh darüber, dass ich alleine war. Ich war froh darüber, dass ich damals noch keine Frau und keine Kinder hatte. Ich sah die Schicksale, die über die Familien hereinbrachen. Trennungen von Mann und Frau, von Frauen und ihren Kindern. Traurige, herzzerreißende Szenen im grauen Nebel. Ich war noch nie so glücklich darüber alleine zu sein.
Ich lebte die nächsten drei Jahre in einem bösen Traum. Krankheiten, Ungeziefer, Schmutz und der Tod waren allgegenwärtig. Mit jedem Tag in diesem Albtraum sank meine Hoffnung auf Freiheit. Ich hatte so viele Pläne, doch mit jedem Tag in dieser Hölle, verblassten sie immer mehr.
Doch mit der Zeit veränderte sich das Lager. Immer mehr Häftlinge verließen diesen schrecklichen Ort. Über ihren Verbleib konnte ich nichts sagen, doch der stetige Rauch der aus den Schornsteinen der Krematorien kam und der beißende Geruch, verhießen nichts Gutes. Dann war sie aber da, die Nacht des langen Marsches im Jahr 1945, zurück in die nicht mehr für möglich gehaltene Zivilisation. Leider waren es nicht mehr viele, die sich mit uns auf den Weg machen konnten, zu viele von uns ließen ihr Leben im Lager und ihre verbrannten Körper färbten den Himmel über Polen in den letzten Jahren grau ein.
Zwei Jahre nach der Befreiung, lernte ich meine Frau Agnes kennen. Sie schenkte mir zwei Kinder und ein erfülltes Leben. Leider starb meine Frau vor einigen Jahren, aber ich bin glücklich, dass ich so großartige Jahrzehnte mit ihr teilen durfte. Viele der Menschen, die ich in meinem bösen Traum kennengelernt hatte, hatten leider nicht so viel Glück wie ich.
So sitze ich nun auf meiner kleinen Terrasse und denke oft an die vergangene Zeit. Mittlerweile sind seit der Befreiung 75 Jahre vergangen. Dass ich diese 75 Jahre gemeinsam mit meiner Frau und meinen Kindern verbringen durfte, verdanke ich nur einem Zufall.
Bei meiner Ankunft an der grauen Rampe des Bahnsteigs im Vernichtungslager Birkenau im Jahr 1942 entschied ein Mann in grauer Uniform, dass ich nach links gehen sollte. Und nicht nach rechts.