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Die Höhle des Schleiers
Linien wie das Kartennetz einer Stadt formten sich zu einem Muster, dem Muster auf einer alten Hand. Die Hand tauchte in eine Kiste auf der Werkbank und entnahm einen weiteren winzigen Kubus aus hellem Holz. Auf der Bank lag bereits eine Struktur aus diesen Würfeln, grob einem Holzei von der Größe einer Rübe ähnlich. Es war ein seltsam kompliziertes Gebilde, in einer Weise zusammengefügt, dass die Würfel immer neue Pfade bildeten, sich wie Schriftzeichen über die Oberfläche der Struktur zu ziehen schienen. Verschiedene Holzarten ordneten sich zu immer neuen Mustern, als der alte Mann sein Werk drehte und wendete. Er kniff eine Lupe in sein Auge, fand schließlich die Stelle, die er gesucht hatte und fügte den kleinen Baustein mit einer Pinzette in eine passende Lücke ein.
Er legte die Lupe beiseite und entspannte sich. Die Struktur in der linken Hand, fuhr er mit seiner rechten eine Liste von Berechnungen ab, verglich die Koordinaten mit den Mustern auf dem Gebilde. Ab und zu brummte er zufrieden. Schließlich legte er die Holzskulptur in eine mit Samt ausgeschlagene Kiste und klappte den mit Silber beschlagenen Deckel zu. Er hatte sechs Monate an dieser Struktur gearbeitet.
Die anderen Holzwerker erwarteten ihn bereits in der Höhle des Schleiers. Heffel betrat die große Vorkammer, deren Felswände vor Jahrzehnten sorgfältig geglättet worden waren. Kondenswasser rann daran herab, im Hintergrund der Höhle waberte der weißliche Nebel des Schleiers. Vor dem massiven Eisenaltar stand Kard, groß und athletisch, aber seine Körperformen verweichlicht und der Rücken gebogen von der Arbeit an der Werkbank. Da war Galcis, die einzige Frau, die eine Holzwerkerin war, ihre roten Haare schon von grauen Strähnen durchzogen. Der alte Pnaum mit seinem völlig kahlen, von Altersflecken bemusterten Schädel grüßte ihn mit einem zahnlosen Lachen, wie immer war er bester Laune. Und er natürlich, Heffel, mit seinem grauen Schnauzbart und seinen unglaublich alten, runzligen Händen, ausgetrocknet vom geduldigen Einpassen tausender Holzteile. Alle vier hatten sie die typische Falte von der Lupe unter dem Auge.
»Heffel!«, krähte Pnaum. »Ich hatte schon befürchtet, du wärst an einem deiner Holzteile erstickt.«
Heffel schüttelte den Kopf, er konnte nicht allzu viel mit Pnaums seltsamen Humor anfangen. »Ich dachte, die Listen der Berechnung, die ich von Mata erhalten hatte, wären falsch. Ich konnte einige Teile lange nicht zuordnen, aber ich hoffe, ich habe es hinbekommen.« Er öffnete die kleine Kiste und ließ die anderen Holzwerker einen Blick auf die Struktur werfen. Sie murmelten beifällig.
»Die Lösung, die du für die Bahn des Heliox gefunden hast, stimmt fast mit meiner Bahn überein«, sagte Galcis. Sie holte einen Samtbeutel aus den Falten ihres Gewandes und öffnete ihn. Ihr Holzwerk war etwas kleiner als das von Heffel gefertigte, aber die Heliox-Bahn hatte denselben Schwung, wie Heffel sofort erkannte.
»Dafür hast du die Plaiden diametral angeordnet! Mir war nicht klar, dass Matas Berechnungen das zulassen!«, rief er aus.
Galcis lächelte. »Ich habe meine Listen dieses Jahr nicht bei Mata gekauft. Der junge Elduc hat sie für mich gefertigt. Er ist auch nur halb so teuer.«
Kard mischte sich ein. »Aber seine Berechnungen werden doch wohl auch auf den Beobachtungen von Oberint fußen? Oder besitzt er ein eigenes Teleskop?«
»Nein«, sagte Galcis, »Oberint hat nach wie vor das Monopol auf die Himmelsmechanik.« Sie seufzte. »Das hält die Preise oben.«
»Hört auf zu lamentieren«, sagte Pnaum. »Zu meiner Zeit musste ich die Berechnungen noch selbst erledigen! Da gab es keinen Mathematiker, der die Planetenbahnen für mich berechnete, ich habe zwei Jahre für mein erstes Holzwerk gebraucht. Und jetzt legt eure endlich auf den Altar!«
Er selbst platzierte sein Werk in der Mitte, ein etwas unregelmäßiges Ovoid aus vorwiegend dunklen Hölzern. Heffel bewunderte die, wenn auch etwas fade Routiniertheit von Pnaums Konstruktion, als er seines daneben legte. Auch Galcis und Kard taten es ihm nach, Kards Holzwerk war fast armlang, mit vielen hellen Streifen überzogen, die die Bahnen der Osterden darstellten.
»Ich sehe, ihr seid alle versammelt«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Unbemerkt war der Priester Fole eingetreten. Heffel war jedes Jahr auf Neue erstaunt, dass Fole überhaupt noch sprechen, geschweige denn laufen konnte. Er musste über hundert Jahre alt sein, und er sah so verwittert aus, dass Pnaum neben ihm wie ein junger Mann wirkte. Fole ließ sich von einer jungen Frau führen, die er zu seiner Nachfolgerin ausgebildet hatte, für den nicht fernen Tag, wenn er sein Amt nicht mehr ausführen könnte.
»Wollen wir keine Zeit verschwenden, der Himmel wartet nicht auf uns«, sagte er und hinkte auf den Altar zu.
Während der langweiligen Zeremonie des Abschieds flüsterten die Holzwerker wie üblich miteinander.
»Das wird den Dämonen gefallen, mein Holzwerk wird sie gewiss beschwichtigen«, brummte Kard.
Pnaum schnaubte abfällig. »Aberglaube! Jedes Kind weiß, dass der Schleier ein Tor zu den Planeten ist. Die Holzwerke dienen den Göttern, um unsere Geschicke auf Kurs zu halten!«
»Der junge Elduc hat eine neue Theorie geäußert«, flüsterte Galcis. »Er meint, der Schleier wäre eine Maschine der Alten, die unser Wetter regelt. Die Holzwerke sind Instruktionen, um die Parameter zu steuern.«
Heffel hielt sich aus der Diskussion heraus. Was brachte es auch ein? Er fertigte Jahr für Jahr eine neue Struktur nach den Berechnungen der Mathematiker, die ihre Daten nach den Beobachtungen von Oberint, dem Astronomen erstellten. Er erhielt dafür seinen Lohn vom Priester und gab Mata ihren Teil ab, die wiederum einen Teil an Oberint bezahlte. Davon konnte er leben, alles andere interessierte ihn nicht mehr.
Der Priester Fole hatte sein Ritual inzwischen beendet. Die junge Frau half ihm, einen Mechanismus am Altar zu betätigen, dann setzte sich der massive Block in Bewegung auf den hinteren Teil der Höhle zu. Knirschend verschwand er im Nebel des Schleiers, um wenig später wieder leer zurückzukehren. Die Holzwerke waren verschwunden.
Wohin auch immer, dachte Heffel.
Langsam schleppte sich Fole die lange Treppe hinunter. In regelmäßigen Abständen warfen Öllampen ein flackerndes Licht auf die feuchten Stufen, sie stanken erbärmlich. Er machte eine Pause.
»Weißt du, mein Kind«, sprach er die junge Priesterin an, »es kommt vor allem darauf an, dass du überzeugend bist, in dem was du tust.« Er hüstelte und klopfte sich auf die Brust. »Verdammte Feuchtigkeit. Bevor der Schleier entdeckt wurde, ging es den Menschen gut, aber sie waren nicht zufrieden. Immer fehlte etwas: Das Wetter war schlecht, oder die Preise zu hoch, zu viele Fliegen, was auch immer. Der Schleier nun hat uns ein Zeitalter des Wohlstandes beschert.«
Sie gingen nun weiter die Treppe hinab, bis zu einer weiteren Eisentür, der dritten auf ihrem Weg. Die Priesterin öffnete sie mit einem Schlüssel.
»Dann ist das alles besser, seit die Holzwerke dem Schleier geopfert werden?«, fragte sie.
Fole kicherte trocken, ein Kichern, das sofort in einen kleinen Hustenanfall umschlug. »Nein«, brachte er hervor, als er sich wieder beruhigt hatte, »aber jetzt haben sie etwas, worüber sie wirklich reden können. Sie haben kein anderes Thema, und das seit Jahrzehnten! Was der Schleier ist, was er bewirkt und so weiter. Alle spenden Geld an uns, und wir verteilen es über die Holzwerker zurück, so sind alle glücklich, nicht wahr?«
Sie betraten eine kleine Kammer hinter der Eisentür. In der Decke war ein Schacht zu sehen, der hinauf in die Dunkelheit führte, in einen Raum hinter dem Schleier, wie sie wussten. Auf dem Boden unter dem Schacht lagen die Holzwerke, an denen die Werker fast ein Jahr gearbeitet hatten. Kards Konstrukt hatte von dem Sturz einen langen Riss davongetragen.
»Sammel die Dinger schon mal auf«, wies Fole die Priesterin an.
Während sie die Holzwerke in ein Tuch legte, öffnete er eine Klappe an einem Ofen der an der Wand stand. Ein lebhaftes Feuer flackerte darin.
»Wichtig ist, den Ölstand immer mindestens auf der Hälfte zu halten«, erklärte Fole und goss Öl aus einer Kanne in einen Glaszylinder über dem Ofen. »Und das Feuer muss immer brennen, sonst gibt es keinen Schleier.« Bei diesen Worten nahm er nacheinander die Strukturen aus dem Tuch und warf sie in die Flammen.
Dann standen die beiden Priester still da und beobachteten sinnend, wie die komplizierten Kunstwerke langsam vom Feuer verzehrt wurden.
»Die Idee hatte eigentlich jemand anderes, er hieß - äh -« Er dachte kurz nach. »Der Lange Mann, genau. Ein komischer Kauz, völlig verrückt, aber so eine Art Gelehrter. Er kam vor vielleicht sechzig Jahren hier vorbei, und wir fragten ihn um Rat. Er hatte dann den Plan mit dem Schleier. Schon genial.« Fole kicherte wieder. »Wir haben ihm die Hände und Füße zusammengebunden und ihn in den Fluss geworfen. Irgendwie schade, aber der Plan funktioniert ja nur, wenn niemand Genaues weiß, nicht wahr?«
Die Priesterin nickte versonnen.
»Verdammte Feuchtigkeit«, schimpfte Fole.