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Die Hallig
Einsamkeit.
Mit jedem Luftzug, den mir der Wind jodgeschwängerte Seeluft in die Lungen trieb, atmete ich sie ein. Mit jedem Fertiggericht, das ich mir auf dem Gaskocher in der kalten Küche meines Gasthauses zubereitete, nahm ich sie zu mir.
Einsamkeit.
Ich stand an der Westküste und beobachtete, wie Welle für Welle an den Steinwällen der Küste zerschellte. Ein leichter Nieselregen durchnässte mich nach und nach, aber nach zwei Monaten auf der kleinsten Hallig der Nordsee war ich Regen mehr als gewohnt. Ja, ich spürte ihn kaum. Am Horizont brachte eine Fähre die letzten Touristen des Tages nach Föhr oder nach Amrum.
Während ich der Spätnachmittagssonne zusah, wie sie sich langsam der Wasseroberfläche näherte, um geräuschlos und mit einem kilometerlangen Schweif darin zu versinken, griff ich nach meinem Fernglas, das an einem reichlich abgenutzten Lederband um meinen Hals baumelte, und bei jeder Bewegung an meine Regenjacke schlug. An diesem Tag war ich nicht groß weitergekommen in meinem Bemühen, das Brutverhalten der Austernfischer zu entschlüsseln.
Aber ich musste rechtzeitig im Haus sein. Diese Nacht würden sie wieder kommen.
Also startete ich einen letzten Versuch, durch den Sehkraftverstärker brütende Austernfischer auf der einmaligen Salzwiesenvegetation der Hallig auszumachen. Aber ich hatte kein Glück. Es musste bis zum nächsten Tag warten.
Am Horizont berührte die Sonne schon das Wasser.
Auf Hallig Habel finden verschiedene Vogelarten die idealen Brutbedingungen und macht diese Perle der Nordsee zu einem der strengsten Naturschutzgebiete des Landes.
Nur dem glücklichen Umstand, dass der Vogelwart der Hallig Habel ein sehr guter Freund meines Professors ist, hatte ich die Tatsache zu verdanken, hier zu sein. Denn in seinem Bemühen, eine Vertretung für ein Vierteljahr zu bekommen, hat sich die normalerweise einzige Person, die dieses Eiland betreten darf, Hilfe suchend an eben meinen Professor gewandt. Mehrere Freiwillige meldeten sich für diese Aufgabe, und nach diversen Lehrgängen über das richtige Verhalten im Naturschutzgebiet konnte ich meine Koffer packen und an die Nordseeküste reisen. Diese Chance, auf einer Hallig in der Nordsee meine Doktorarbeit zu schreiben, wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Während meine Kommilitonen ihre Ausarbeitungen über die Verbesserung von Antibiotika oder Ähnlichem verfassten, würde ich eben über das Brutverhalten des Austernfischers oder der Küstenseeschwalbe schreiben.
Jetzt musste ich mich aber wirklich beeilen, die Sonne war schon zur Hälfte im Meer versunken.
Kein Risiko eingehen.
Die Küstenlinie der Hallig besteht aus einem befestigten Kiesufer, und nur Dank diesem kann sie sich noch über dem Meeresspiegel halten, zumindest Teile von ihr. Tatsächlich ist sie in den letzten zweihundert Jahren, bevor die Küste in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts befestigt wurde, von rund einhundert auf siebzehn Hektar, der Fläche von knapp 20 Fußballfeldern, geschrumpft. Das einzige Haus steht auf einer Erhebung, einer so genannten Warft, um es vor Sturmfluten zu schützen.
Eben diese schritt ich hinauf, und, auf der Kuppe angekommen, drehte ich mich einmal im Kreise und nahm die Schönheit der Szenerie in mich auf. Dies hatte sich mittlerweile zu einem festen Ritual entwickelt. Im Norden und im Osten konnte ich die Windkraftanlagen an der Küste des Festlandes von Nordfriesland erkennen. Im Süden offenes Meer, dort befand sich jedoch knapp außerhalb meines Sichtradius die Hamburger Hallig.
Im Westen schließlich, dort wo die Sonne gerade ihren Kampf gegen den grauen Horizont verlor, die in Flammen stehende Nordsee.
Ich öffnete die schwere Haustür, etwas außer Atem aufgrund meines Marsches die steile Warft hinauf. Als ich die Tür hinter mir ins Schloss drückte, empfing mich das Haus mit einer Wärme, die ich den vielen zur Südseite zeigenden Fenstern zu verdanken hatte. Trotz des regnerischen Tages hatte der Raum angenehm aufgeheizt.
Einsamkeit.
Langsam beruhigte sich mein Atem, und so konnte ich nach und nach die mittlerweile vertrauten Geräusche des Hauses und der Hallig vernehmen. Das Wimmern des Windes, der um die Ecken meiner Unterkunft pfiff und an den hölzernen Fensterläden klapperte, als würde er Einlass begehren. Die Schreie verschiedener Vogelarten. Den prasselnden Regen, der unablässig auf das Reetdach niederging und dort ein Knistern und Knacken erzeugte, das ich als den Inbegriff der Gemütlichkeit definierte.
Milliarden Staubflocken tanzten in der Luft eine immerwährende Polka, sichtbar gemacht durch die letzten sterbenden Strahlen, die die Sonne als endgültigen Abschiedsgruß für diesen Abend durch die Fenster sandte.
Da das Haus über keinerlei Strom verfügt, entzündete ich die kleine Gaslampe, die ich immer neben der Haustür abstellte, wenn ich hinausging. Meine einzige Verbindung zur Außenwelt bestand in meinem kleinen batteriebetriebenem Radio. Der Empfang war jedoch die meiste Zeit derart verwaschen und von atmosphärischen Störungen durchzogen, dass man der Meinung sein konnte, verschlüsselte Nachrichten von Lebewesen ferner Planeten zu hören. Manchmal fragte ich mich, ob es die Welt draußen überhaupt noch in der Form gab, wie ich sie kannte. So wie ich das sah, hätte die Erdkugel tatsächlich von sabbernden Tentakelträgern aus dem siebten Orionnebel angegriffen worden sein können, ohne dass ich davon auch nur eine Spur mitbekommen hätte.
Auch Telefon gab es nicht. Mein Handy verweilte nun schon seit zwei Monaten mit leerem Akku nutzlos in meinem Reisegepäck. Ich hatte es vergeblich von jedem Punkt der Insel ausprobiert, wenigstens nur einen Balken Empfang auf das Display zu zaubern.
Es gab ein Funkgerät, mit dem ich mich bei Krankheit oder einer sonstigen Notsituation Verbindung mit dem Festland hätte aufnehmen können. Das Funkgerät war jedoch zerbrochen und lag in seinen Einzelteilen neben der Station. Ich hatte versucht, es zu reparieren, aber es gibt einen Grund, warum ich Biologie studiere und nicht Elektronik.
Nachdem ich mich meiner Regenjacke entledigt hatte, machte ich mich an das gewohnte Abendprogramm, welches ich seit zwei Wochen durchführte. Im Uhrzeigersinn ging ich durch das Erdgeschoss und überprüfte alle Fenster, ob sie richtig verschlossen waren. Danach wiederholte ich die Prozedur im oberen Stockwerk, in dem sich auch meine Schlafstätte befand.
Nicht gänzlich beruhigt beendete ich meinen Kontrollgang und bereitete mir auf meinem kleinen Gaskocher Ravioli zu, während ich in einem Fachbuch über Ornithologie blätterte.
In einem Monat würde ich wieder auf das Festland zurückkehren – wenn ich denn so lange durchhielt. Dann hätte ich ein Vierteljahr auf Hallig Habel verbracht. Wieder und wieder überlegte ich, nebenbei Ravioli direkt aus der Dose fischend, wer diese Gestalten waren, die ich nachts sah. Und vor allem fragte ich mich, ob sie gefährlich waren.
Zum ersten Mal habe ich sie vor zwei Wochen gesehen. An jenem Abend brauchte ich nach verschiedenen Ereignissen einen klaren Kopf, und so entschied ich mich dafür, noch mal die Warft hinunter und an die Küste zum improvisierten Bootsanleger zu laufen. Ich wollte mir den Seewind um die Ohren wehen lassen, auf dass die Fülle an Gedanken, die sich zwischen den Hörmuscheln herumtrieb, hinaus geblasen und durch eine angenehme Mattigkeit ersetzt würden. Bevor ich mich auf den schmalen Steg setzte und mir die Lichter der Westküste Föhrs entgegenblitzen, wusch ich mir in einer Pfütze die Hände. Und so saß ich gedankenverlorenen auf dem kalten Holz mit der abblätternden grünen Farbe und beobachtete das aufkommende Wasser, welches die Ebbe ablöste, selbst beobachtet vom kalten Auge des Mondes.
Und noch von vielen Augen mehr, wie mir nach einiger Zeit bewusst wurde, als mich eine Art Grunzen aus meinen düsteren Gedanken riss und in die Wirklichkeit zurückkehren ließ. Der Mond schien von einem wolkenlosen sternenklaren Nachthimmel herab, und beleuchtete so die Szenerie.
Trotzdem musste ich die Augen zusammenkneifen, um genauer sehen zu können, was das Geräusch ausgestoßen hatte. Dann sah ich den Ursprung: Eine Gestalt stand reglos bis etwa zu den Fußknöcheln im Wasser, vielleicht dreißig Meter von mir entfernt. Sie schien völlig nackt zu sein, bekleidet nur mit quer über dem Körper verteiltem Schlick, der verkrustet aussah und abbröckelte. Ich konnte es nicht mit Gewissheit sagen, aber ich vermutete, einen nackten Mann vor mir zu sehen. Es sah so aus, als würde er mich anschauen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als sähe er etwas Interessantes. Die frische Brise der Nordsee, zwar weniger schneidend als an vielen anderen Abenden, ließ längliche, verklebt wirkende Haarsträhnen um das Gesicht der Person wehen. Ansonsten bewegte sich der Mann keinen Millimeter. Es war unheimlich, doch trotzdem fasste ich mir ein Herz, stand auf und winkte. Keine Reaktion.
„Hallo!“, rief ich.
Doch ich erhielt keine Antwort. Ohne jegliche Bewegung stand die Person in der Nordsee, im langsam steigenden Wasser und erinnerte in ihrer Reglosigkeit an eine Vogelscheuche. Dann nahm ich aus dem Augenwinkel eine weitere Gestalt wahr. Diesmal war ich mir sicher, dass es sich um eine Frau handeln musste, ebenso nackt und stoisch wie das andere Exemplar. Auch sie schien mich ins Auge gefasst zu haben. Der Mond spiegelte sich in ihren Augen wider, was ihr etwas Katzenähnliches verlieh. Etwas weiter hinter ihr sah ich eine weitere Gestalt, rechts von ihr noch eine. Ich blickte mich um und stellte fest, dass ungefähr zwanzig dieser reglosen Stoiker im Watt standen und mich anstarrten. Irritiert stand ich auf und spürte Eiswürfel meine Wirbelsäule entlang rutschen. Ich hatte von nächtlichen Wattwanderungen gehört, wie sie beispielsweise zwischen Amrum und Föhr veranstaltet werden, aber dies hier war definitiv keine.
Zuerst einmal ist es aufgrund des weiträumigen Naturschutzgebietes verboten, sich als Unberechtigter in der Nähe der Hallig aufzuhalten. Außerdem liegt Habel weitab der Touristeninseln, und da für eine Wattwanderung ja nur begrenzt Zeit zur Verfügung steht, bevor die Flut wieder das Szepter übernimmt, ist es unwahrscheinlich, dass Habel ein Zielort für einen solchen Ausflug sein soll, selbst wenn der Aufenthalt hier erlaubt wäre. Und natürlich gehört auch eine gewisse Bewegung zu einer solchen Wanderung. Eine solche war hier aber nicht im Ansatz auszumachen. Völlig reglos standen die Gestalten im Schlick, nur ihre fast ausnahmslos langen Haare umwehten ihre Gesichter. Ich hatte das Gefühl, als wären alle Augen auf mich gerichtet und ihre Blicke waren fast körperlich spürbar, glitschig und schleimig, und ich verspürte das dringende Bedürfnis mich zu duschen.
Ich drehte mich um und rannte ins Haus.
Jener Abend war der erste, an dem ich sämtliche Fenster überprüfte. Die folgenden Nächte lunste ich immer wieder mal aus der Scheibe meines Schlafzimmers durch den Schlitz der Fensterläden und sah die Gestalten bewegungslos im Watt stehen. Doch damit nicht genug, jede Nacht schienen sie dem Haus ein Stück näher zu kommen. Ich sah sie nie in Bewegung, niemals kommen oder gehen, immer nur stehend. Und doch waren sie da. Und sie kamen immer näher. Hegte ich zuerst die Hoffnung, die Küstenlinie würde eine Grenze für sie darstellen, so sah ich mich vor ein paar Nächten enttäuscht, denn sie standen um die Warft herum und hielten ihr Gesicht zum Haus aufgerichtet. Dann hatte ich gehofft, sie würden die Warft nicht betreten, könnten die Erhebung nicht erklimmen, doch auch hier hatte ich mich getäuscht. Gestern Nacht standen sie auf ungefähr der Hälfte und der Mond beschien ihre vom Schlamm verschmierten Körper und die Nordseeböen ließen ihre Haare flattern.
Ich habe weder eine Ahnung, wer diese Menschen sind, noch was sie von mir wollen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich mich nach meinem ersten zaghaften Annäherungsversuch auch nur noch einmal bemüht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Dies geschah letzte Woche, als ich nach vier Flaschen Flensburger nachts die Fenster meines Schlafraumes aufriss und damit einem fürchterlich kalten Westwind Eintritt gewährte. Sie standen wieder in keiner sichtbaren Anordnung und schauten auf das Haus hoch.
„Verdammt was wollt ihr von mir?“, rief ich in die Kälte. Und dann nochmal, fast flehentlich: „Was wollt ihr von mir?“ Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass meine Stimme ängstlich klang.
Aber ich erhielt keine Antwort, noch nicht mal eine Bewegung konnte ich ausmachen. Damit stellte ich meine Bemühungen um Kontaktaufnahme ein.
Ich hoffte einfach jeden Abend wieder, dass sie verschwinden und nicht mehr auftauchen würden, denn mittlerweile hatte ich wirklich Angst.
Die letzte Ravioli wehrte sich tapfer, doch nach ein paar unerbittlichen Versuchen schaffte ich es, sie aus der Dose zu pulen. Meine Hände zitterten. Es war dunkel draußen, stockfinster. Ich griff die Gaslampe und überprüfte noch mal die Fenster, die Haustüren sowie die Tür zum Keller, wo ich meine Vorräte lagerte. Hier verstaute ich die Essensvorräte sowie auch Kaminholz oder Gaspatronen. Jedoch vermied ich es, dort runter zu gehen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Jedes Mal wurde ich an Dinge erinnert, denen ich mich früh genug stellen musste.
Also ging ich hoch und versuchte zu schlafen. Meist gelang es mir trotz der Umstände recht gut, ins Land der Träume abzudriften, auch wenn ich oft genug mitten in der Nacht aufwachte, einen Schrei auf den Lippen und Schuld im Sinn. An jenem Abend jedoch konnte ich nicht ins Traumland hinüber gleiten, und nach einiger Zeit stand ich auf und schaute wieder durch den Schlitz der Fensterläden. Meine sowieso auf Sparflamme köchelnde Hoffnung, ich würde keine der Freaks draußen zu sehen bekommen, zerplatzte in einer Blase aus Enttäuschung und Angst.
Sie hatten das Haus erreicht. Sie hatten verdammt noch mal das Haus umstellt. Ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen, aber an der Stellung ihrer Köpfe sah ich, dass sie nach oben, in Richtung meines Schlafzimmers, schauten. Ich fühlte mich, als sei ich in einen Bottich mit Eiswasser gesprungen, mein Herz pumpte Panik durch jede Ader und ließ sie zirkulieren.
Auf dem Nachttisch stand die Gaslampe und schweren Herzens löschte ich sie, denn ich fürchtete, die Gestalten durch die Helligkeit anzulocken, sie noch näher an das Haus zu führen.
Ich setzte mich aufs Bett, bewaffnet mit einem fleckigen Hammer und betete, dass die Schweinehunde nicht ins Haus kämen. Ich bat die Sonne, einen Zahn zuzulegen und bald aufzugehen, doch weigerte meine Rettung sich, auch nur eine Minute früher als geplant über den Horizont zu spähen.
Es war vollkommen still im Haus, selbst der Regen gönnte sich eine Pause und ließ dem Hausdach eine Atempause von seinem Dauerfeuer.
In diese Stille hinein hörte sich das Zersplittern eines Fensters in der Eingangshalle wie ein losgebrochenes Inferno an. Zwischen den Glasscherben, die sich auf dem Eichenparkett verteilten, hörte ich etwas Schweres über den Boden rollen. Ein spitzer Schrei entfuhr mir, und ich sprang auf die Füße. Es war weit davon entfernt, warm in meinem Zimmer zu sein, aber mir stand ein Schweißfilm auf dem Gesicht. Mein Schlafshirt klebte unangenehm an meinem Körper. Demgegenüber war mein Mund knochentrocken. Die Dunkelheit lag wie eine Decke auf mir und ich achtete darauf, mir nicht die nackten Füße zu stoßen, als ich langsam zur Zimmertür lief, den Hammer wie eine böse Drohung vor mich haltend. Von der Tür aus konnte ich in die Eingangshalle hinuntersehen, wo der Mond durch die kaputte Scheibe mit dem klappernden Fensterladen morste. Auf dem Boden sah ich etwas Rundes liegen.
Vorsichtig nahm ich Stufe für Stufe ins Erdgeschoss. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Lichtverhältnisse. Ich konnte nirgendwo in der geräumigen Halle eine der Gestalten erkennen. Immer wieder blieb mein Blick an dem Gegenstand auf dem Boden heften. Es war ein Stein von der Größe eines Tennisballs. Es war kalt in der Halle, der Wind saugte das bisschen warme Luft unbarmherzig aus dem Raum und trug es in Richtung Nordsee. Meine Fußsohlen fühlten sich an wie schockgefrostet, während ich am Rest des Körpers immer stärker schwitzte. Ich hatte den Treppenabsatz erreicht und immer noch war kein ungebetener Gast zu sehen. Während ich die Glassplitter umging, bahnte ich mir einen Weg zu dem Stein und hob ihn auf. Ein Stück Papier war mit einem mitgenommenen Seil an ihm befestigt. Mit zittrigen Fingern entfaltete ich es und hielt es ins Mondlicht, um es lesen zu können. Ein Satz stand dort. Vier Worte, die die Zimmertemperatur nochmals um mehrere Grad absinken ließen.
Meine Lunge schien ihren Dienst zu versagen, ich fühlte mich, als hätte sich eine Würgeschlange um meinen Brustkorb gelegt und würde ihn langsam, ganz langsam, immer weiter einschnüren. Wie aus weiter Ferne hörte ich mich keuchen, und bevor ich mich erholen konnte, zerbarst ein weiteres Fenster. Wieder rollte ein Stein über den Fußboden. Dann wurde ein weiteres Fenster eingeschmissen, und noch eins. Dann gab es keine Scheiben mehr im Erdgeschoss, die noch zu Bruch hätten gehen können. Nachdem sich meine Atmung wieder normalisiert hatte, machte ich mich daran, die Steine aufzulesen. An jedem einzelnen war ein Zettel befestigt. Auf jedem war dieselbe kurze Nachricht in einer unbeholfenen Handschrift zu lesen. Ich lief rückwärts, bis ich mit den Fersen am Treppenabsatz hängen blieb und hart auf meinem Hintern aufschlug.
Wie konnten sie das wissen? Wie konnte irgendjemand davon wissen?
Tränen liefen mir über das Gesicht, und sie stammten nur zum Teil vom Wind, der ohne Rücksicht auf Verluste die Eingangshalle als neuen Spielplatz ausgemacht hatte und mein Gesicht als Angriffsfläche benutzte. Die Fensterläden klapperten in einem wilden Rhythmus an die Hauswand. Nach einer unbestimmten Zeitspanne schaute ich mich um, und sah an jedem Fenster eine der Kreaturen. So nah bin ich ihnen noch nie gekommen, und trotz der eher schlechten Sichtverhältnisse konnte ich sehen, dass sich Algen und kleine Meeresbewohner in ihren Haaren verfangen hatten. Auch schienen sich alle in verschiedenen Stadien der Verwesung zu befinden und ich konnte den durchdringenden Geruch von Schlick wahrnehmen. Sämtliche Augen der bläulich angelaufenen Gesichter waren auf mich gerichtet. Verklebte Haare, aus denen Wasser tropfte, hingen an aufgedunsenen Stirnen und Wangen. Ich versuchte, den Ausdruck in ihren Augen zu deuten. Wissend. Sie schauten mich allesamt mit einem wissenden Ausdruck auf ihren verwesten Gesichtern an. Das passte zur Nachricht.
Wie konnten sie von Jenny wissen? Unmöglich. Und doch standen sie hier aufgereiht an den Fenstern, aufgedunsen und ohne Zweifel tot und schickten mir Botschaften.
Dann traf ich eine Entscheidung. Nachdem ich all meinen Mut zusammengenommen hatte, erhob ich mich auf Beinen aus Götterspeise und stakste zur Kellertür. Neben der Tür griff ich die dort an einem Nagel hängende Taschenlampe, ein treuer und dringend benötigter Freund in der Dunkelheit des Untergeschosses. Ich öffnete die Tür, modrige Luft und ein erbärmlicher Gestank stürmten auf mich ein wie ein Empfangskomitee, auf das ich gerne verzichtet hätte. Vorsichtig stelzte ich die schmale Treppe hinunter, der Milchpfütze aus Licht folgend, die die MagLight für mich zauberte.
Unten angekommen, musste ich mich leicht geduckt bewegen, um mir nicht den Kopf an den Deckenbalken anzuhauen. Meine Füße, in denen ich langsam kein Gefühl mehr hatte, waren wie Eisblöcke auf dem harten Lehmboden. In der der Treppe entferntesten Ecke lag der zusammengerollte Teppich. Langsam schritt ich auf ihn zu, während der Gestank immer stärker wurde. Trotz meiner Bemühungen, flach durch den Mund zu atmen, musste ich immer wieder würgen.
Der Teppich war schwerer als ich ihn in Erinnerung hatte, als er auf meiner Schulter den Weg nach unten genommen hatte. Durch die geringe Deckenhöhe war es eine Plackerei, meine Fracht quer durch den Raum und dann die enge Holztreppe hinauf zu schaffen.
Oben angekommen stellte ich fest, dass die eingeschlagenen Fenster wieder frei waren von den ungebetenen Besuchern. Ich schaute aus einem und sah sie wieder als Schemen reglos in der Nordsee stehen, beschienen vom gelblich leuchtenden Mond. Wartend.
Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Der Teppich war mit Paketklebestreifen verschlossen und ich holte mir aus der Küche ein Messer, um diese zu entfernen. Dann rollte ich ihn auf.
Jenny.
Die Kommilitonin, mit der ich auf die Insel gebracht wurde, um mit ihr zusammen die Austernfischer und Küstenseeschwalben zu studieren.
Die Kommilitonin, der ich mit eben dem Hammer, den ich in der Hand hielt, den Schädel eingeschlagen hatte.
Ich hatte ihre Augen geschlossen, bevor ich sie in den Keller gebracht hatte, und auch jetzt sah mich nur das hässliche Loch auf ihrer Stirn vorwurfsvoll an. Das feuchte Klima unten im Keller hatte den Verwesungsprozess wohl beschleunigt. Ich musste schnellstens den Blick von der Toten abwenden, und der Gestank war alles durchdringend, so dass ich mich jetzt wirklich ins Waschbecken der Küche übergeben musste.
Jenny.
Wir hatten uns so gut verstanden. Waren Freunde geworden, hatten miteinander geredet und gelacht und uns gegenseitig bei unseren Studien geholfen und unterstützt. Mut gemacht, aufgemuntert, zugehört, verbessert. Dann die Liebe. Wir haben das Bett miteinander geteilt, Zärtlichkeiten ausgetauscht, uns Halt gegeben. Es war, als wären wir die einzigen Menschen auf diesem Planeten. Es gab nur uns. Nur wir beide, inmitten der Nordsee. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens.
Bis alles anfing schief zu laufen. Sie bekam Heimweh, wollte runter von der Hallig, nach Hause ins bergigere Hessen. Wollte nach Hause zu ihrer Familie, zu ihrem Freund. Doch das konnte ich nicht zulassen. Ich konnte die Zweisamkeit mit ihr nicht aufgeben, wollte auch die restlichen Wochen mit ihr zusammen verbringen. Aber sie ließ nicht mit sich reden und machte sich daran, über Funk ein Boot anzufordern, welches sie abholen sollte. Aber bevor sie es benutzen konnte, zerschlug ich es mit dem Hammer.
Ich strich meiner toten Mitstudentin über die Haare, während ich mich an jenen Abend erinnerte. Ein Tennisball schien in meiner Kehle zu stecken und Rotz lief mir aus der Nase.
Als sie sah, was ich mit dem Funkgerät gemacht hatte, rastete sie völlig aus. Sie schlug auf mich ein, beschimpfte mich, zog mir an den Haaren, bespuckte mich sogar. Und das alles mit einer Ausdauer und einem Hass in ihren Augen, der etwas in mir sterben ließ, dass gerade erst geboren worden war. Dann schlug ich mit dem Hammer zu. Ich schwöre, dass ich es nicht wollte, aber ich schlug ihr den Schädel ein und verschaffte ihr eine klaffende Wunde in der Stirn. Augenblicklich hörte sie auf, auf mich einzuschlagen und sank in sich zusammen. Blut lief aus dem Loch. Ich blieb neben ihr stehen, den Hammer in der Hand, und versuchte aus einem Albtraum der besonders schlimmen Art aufzuwachen.
Doch ich wachte nicht auf, denn dafür hätte ich schlafen müssen.
„Oh Jenny“, presste ich jetzt hervor und sammelte Kraft, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen.
Mein Atem ging stoßweise, während ich um den Tennisball herum Worte zu bilden versuchte. Tränen rannen mir übers Gesicht und fielen wie kleine funkelnde Perlen in Jennys schwarze Haare.
Ich packte sie, wie ein Verliebter seine Freundin trägt, den einen Arm in den Kniekehlen, den anderen an ihrem Rücken, und stand auf. Vorsichtig trug ich sie durch die Haustür nach draußen und sofort begann der Wind ungehindert an uns zu reißen und ließ Jennys Haare wie schwarze Seide flattern.
Den Weg die Warft hinunter musste ich vorsichtig beschreiten, der Boden war aufgeweicht vom wieder einsetzenden Nieselregen und daher bestand die Gefahr, dass ich, besonders mit Jenny in den Armen, ausrutschen und der Länge nach hinschlagen konnte. Doch ich meisterte den Gang abwärts ohne Zwischenfälle.
Kurz danach stand ich an der Küste, und eiskaltes Wasser lief mir über die Füße. Der, den ich für den Anführer hielt, stand etwa fünf Meter weit im Meer, ein Anführer einer Armee von Wasserleichen. Ich ging zu ihm, Jenny immer noch in den Armen, wie ein frisch gebackener Ehemann, der seine Angetraute über die Schwelle des Hotelzimmers trägt.
Als ich ihn auf Armeslänge erreicht hatte, Jenny zwischen uns, ging mir das Wasser bis zu den Lenden.
Der Mond ließ mich Einzelheiten im Gesicht meines Gegenübers erkennen. Ohne Zweifel befand er sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung. Die linke Wange war fast nicht mehr vorhanden, und ich konnte sein Gebiss durch diese Lücke erkennen. Auch sah ich, dass ein Auge fehlte, und ich erkannte darin einen Wattwurm, der sich diesen Ort ausgesucht hatte um seinem Expeditionstrieb nachzugeben. Die Haare des Toten waren versetzt von Algen und kleinen Meerestieren.
Reglos starrte er mich einäugig an, ebenso fühlte ich die Blicke der anderen auf mir ruhen. Ich senkte den Blick und warf einen letzten Blick auf Jenny, auf das Mädchen, dem ich sein Leben genommen hatte.
Dann ließ ich sie langsam in das Wasser gleiten, Abschiedsworte murmelnd und Tränen verschüttend, die mir der Wind auf meinen kalten Wangen trocknete. Langsam ging sie unter, und trotz der geringen Wassertiefe konnte ich sie bald nicht mehr sehen.
Jenny.
Der Anführer blieb stumm, reglos wie immer, beschienen von einem Mond, der gleichgültig und kalt vom Himmel strahlte.
Dann drehte ich mich um und ging ins Haus.
Während ich hier sitze und gelesen habe, was ich vor einer Woche geschrieben habe, ist einiges passiert.
Die nächtlichen Besuche haben nicht aufgehört, ganz im Gegenteil, mittlerweile kommen die Wasserleichen ins Haus. Auch beschränken sich ihre Besuche nicht mehr nur auf die nächtlichen Stunden, auch tagsüber sind sie da und beobachten mich. Jenny ist jetzt bei ihnen. Um genau zu sein steht sie jetzt in diesem Augenblick vor mir und sieht mich an, ihr Loch in der Stirn eine stumme Anschuldigung, eine Anklage.
Aber ich habe eine Entscheidung gefällt. Lest diese Blätter meines Spiralblocks wie ein Geständnis, lest es als Beichte eines Mannes, der für seine Liebe alles tut. Es ist mir egal. Ich liebe Jenny immer noch, und heute Nacht, wenn das Wasser wieder reinkommt und der Spiegel nach und nach steigt, werde ich ihr ins Wasser folgen. Dann können Jenny und ich wieder zusammen sein.
Ich werde ins Wasser gehen und Jenny und ich werden wieder zusammen sein.