Die Insel
Der Sturm war vorüber und das Meer gerade dabei, sich zu beruhigen. Die Rettungsinsel war auf den, immer noch kraftvoll wogenden, Wellen kaum auszumachen. Wenn sich die Insel auf einen Wellenkamm erhob, sah man von oben, dank der Signalfarben, einen winzigen Punkt in der zerklüfteten Wasserlandschaft des unendlich erscheinenden Ozeans. Wenn die Insel jedoch in eines der tiefen Wellentäler hinabstürzte, sah man nichts als aufspritzende Gischt und das tiefe Blau der alles beherrschenden Wassermassen. Den Jungen hätte keiner von oben sehen können. Er verschmolz vollkommen mit der Eintönigkeit des Meeres, war zu klein, um gesehen zu werden, trug keine Signalfarben, die hätten Schimmern und eventuellen Rettern den Weg weisen können. Der Junge war allein und er hatte Angst. Die Kraft zum Schwimmen war, wie es schien, schon seit Stunden aus ihm gewichen. Er ließ sich treiben, konnte nichts anderes tun als sich treiben zu lassen und auf Rettung zu hoffen. Die Kraft der Wellen trieb ihn auf die Rettungsinsel zu, ohne dass er es bemerkte. Er hielt die Augen geschlossen, hatte noch nicht ganz aufgegeben, war jedoch dabei mit sich ins Reine zu kommen, sich auf sein Ableben vorzubereiten. Er betete, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab zu dem Moment, als er den Bug brechen sah, als er wusste, dass sie untergehen würden, dass dies der letzte sein würde, den dieses Schiff zu überstehen versuchte. In seinen Ohren hallte immer noch das Geräusch berstenden Holzes nach und die Schreie der Passagiere und der Besatzung, als sie alle begonnen hatten kopf- und ziellos über das Deck zu rennen. Der Junge hatte nicht lange gezögert. Er hatte gewußt, dass das Schiff untergehen würde. So schnell wie möglich war er in seine Kabine gerannt, um seine Rettungsweste zu holen. Seine Kabine hatte offen gestanden, und der Junge war eingetreten. Direkt vor ihm hatte ein Mann gestanden, der die Schwimmweste des Jungen an seine Brust gepresst hielt. Der Junge hatte nicht einmal Zeit gehabt seine Weste einzufordern. Er hatte einen pochenden Schmerz gefühlt, dort wo der Kinnhaken ihn getroffen hatte und nur noch die Tür hinter dem Dieb zuknallen hören.da hatte der Junge begriffen, dass die Zeit für ihn knapp wurde und ihm schauderte, als er an den Sog dachte, den das Schiff beim Untergang erzeugen würde. Er war gelaufen so schnell er konnte und einfach von Deck gesprungen. Dann war er geschwommen, bis sich seine Muskeln angefühlt hatten, als würden sie gleich reißen. Als er sich auf den Rücken gedreht hatte um sich treiben zu lassen, hatte er nur noch den Rumpf des Schiffes aus den Fluten ragen sehen und auch dieser war bald von den Wassermassen verschluckt worden. Er erschauderte angesichts der furchtbaren Erinnerung an diese schrecklichsten Minuten seines kurzen Lebens.
Plötzlich wurde er jäh aus seinen Gedanken gerissen, als seine Hand die Plastikverkleidung der Rettungsinsel berührte. Ein Adrenalinstoß mobilisierte seine letzten Kräfte und er schaffte es, sich ins Innere der Rettungsinsel zu hieven. "Der Junge muss weg", war das erste, was er hörte, nachdem sich der schwarze Nebel vor seinen Augen und in seinem Verstand wieder halbwegs gelichtet hatte. Er sah auf und blickte in zwölf Augenpaare, die alle in seine Richtung starrten. Aber sie sahen nicht ihn, sondern an ihm vorbei die Öffnung an, durch die er gekommen war und durch die, dank seines zusätzlichen Gewichtes nun Wasser eindrang.
"Der Junge muß weg", wiederholte die Stimme, "sonst werden wir alle sterben". Der Junge konnte nicht ausmachen, wer das gesagt hatte, sein Blick hatte sich noch nicht vollends geklärt, doch lähmende Angst umfing ihn beim kalten, unmenschlichen Klang dieser Stimme. "Wir können den kleinen doch nicht einfach sterben lassen", erwiderte eine Frauenstimme so kraftlos, dass es das Herz des Jungen fast zum zerspringen brachte. "Wir müssen, wenn wir überleben wollen", gab die kalte Stimme zurück. Schweigen erfüllte den Innenraum der Rettungsinsel, in dem der Wasserspiegel langsam aber stetig anstieg. "Der Junge muss...", setzte die kalte Stimme an, doch sie wurde von einem kräftigen Bass übertönt, der unter anderen Umständen jovial geklungen hätte: "Dann schmeiß du ihn doch auch wieder ins Meer oder traust du dich nicht, du feige Drecksau?". Der Junge begann, wieder Hoffnung zu schöpfen. Er war immer noch zu schwach, die Augen lange genug aufzuhalten, um etwas zu erkennen, doch von einer Bewußtlosigkeit war er inzwischen wieder weit entfernt. Ein Schock traf ihn, als auf einmal kalte, fischige Hände begannen, seinen Körper auf die Öffnung zuzuschieben.. Dann hörte er ein Klatschen, wie von einem Faustschlag und die kalten Hände verschwanden in das Nichts, aus dem sie gekommen waren. Der kräftige Bass fluchte, der Kalte gurgelte, die Frau schrie, Kampfeslaute drangen an das Ohr des Jungen.
Dann war alles vorbei und nur das schwere Atmen zweier Männer war noch zu hören. "Der Junge hat noch mehr Jahre vor sich als du! Wieso sollten wir nicht dich ins Wasser werfen?", trotz des Keuchens klang die Stimme des kräftigen Basses noch überaus imposant, doch sie wurde von der Emotionslosigkeit und Kälte der anderen Stimme zerschnitten wie Papier: "Und warum opferst du nicht dein Leben für die vielen Jahre, die er noch zu leben hätte?". Wiederum folgte ein langes Schweigen und wiederum hörte der Junge die Worte des Kalten, die ihn erstarren ließen:
"Der Junge muß weg". Das Schweigen wurde diesmal nicht gebrochen und so wartete der Junge, wartete auf die kalten, fischigen Hände, wartete auf das Meer, den Schmerz, die Erschöpfung.