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Die Insel

Monster-WG
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04.03.2018
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Die Insel

Heute könnte der perfekte Sommertag sein, wenn Jerome nicht wäre. Über die Tasse in meiner Hand schaue ich zu ihm hinüber, sehe ihm dabei zu, wie er den Rest Wermut in seinen Hals kippt. Mit lautem Klacken stellt er das Glas in die Lache, die seine vorherigen Drinks auf der Marmorplatte hinterlassen haben.
»Weißt du, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort«, bellt er und wischt mit dem Handrücken über das nasse Kinn. Als er damit fertig ist, grinst er und zeigt auf meine Hose.
Die Möwe fliegt weg, über den ausgetrockneten Springbrunnen, ihr Schatten streift helle Hüte und luftige Sommerkleider, verschwindet Richtung Meer.
Weiter draußen sind der mit Quadern befestigten Küste Sandbänke vorgelagert. Dort auf der Landzunge mit der ehemaligen Sardinenfabrik befindet sich eine große Möwenkolonie, die einst von den Abfällen lebte. Auf dem Geländer direkt an der Rückseite der Fabrik hocken sie aufgereiht wie Perlen auf einem rostigen Draht. Niemand ist mehr dort, der sie vertreiben könnte. Die neue nützliche Plage sind Tagesgäste, von kleinen bis mittleren Fähren an Land gespült.

Nachts ist die Insel beinahe tot. Dieselgeneratoren tuckern zahm vor sich hin, die Straßen gehören den Katzen, durch geschlossene Läden flimmern warme Lichtstreifen, meine Schritte hallen von kahlen Mauern zurück. Wie endlose Würmer ziehen sich die schwarzen Lücken zwischen den Häusern die Hänge hoch, verkräuseln sich jenseits der Gärten mit ersten Ausläufern des Waldes. Unten im Hafen knarzen die Leinen und Fender der Boote, wenn das Meer sie aneinander reibt. Ich weiß das nur, hören kann ich sie hier oben nicht und zum Hafen komme ich nicht.
Kalt ziehen Winde durch die Gassen, ein jeder von ihnen besitzt eine eigene Flüsterstimme und jeder birgt eine andere Botschaft. Sie verflechten sich zu einem Bündel, zu einem pulsierenden Strom, der ein Grundrauschen erzeugt, das auch nicht aufhört, wenn ich mir die Ohren zuhalte. Hinzu kommt der rhythmische Signalton vom Funkturm, der aus der Inselmitte ragt. Der einzige Ort, wo ich dem entkomme, ist die graue Kirche, errichtet mit dem, was der stillgelegte Steinbruch auf dem Weg zum Funkturm einst hergegeben hat. Sie ist älter als der älteste Baum der Insel und meine Zuflucht.

Jerome steht die Sonne im Rücken. Ich muss blinzeln, als ich zu ihm hinüberschaue. Der Zigarrenschneider liegt vor ihm auf dem Tisch. Trotzdem beißt er die Kappe ab, spuckt sie zur Seite und ein paar braune Reste hinterher. Übelkeit kriecht meinen Hals hoch. Ich setze die Tasse ab und zupfe eine Serviette aus dem Spender.
»Scheiß auf Sünde, scheiß auf deinen Gott«, sage ich. Die Serviette lege ich doppelt über den Möwenkot auf meiner Shorts. Jerome lacht. Köpfe drehen sich zu uns. Ich spüre wie es kippt. Was für ein Gott soll das sein, der Kleinigkeiten bestraft und großes Elend gleichgültig geschehen lässt? Ein der Welt entrückter Erbsenzähler?
Mit spitzen Fingern drücke ich die Serviette zusammen. Was auf der Hose bleibt, stinkt bestialisch. Ich spreize das Bein weit ab und hoffe, dass der Fleck in der Sonne schnell trocknet. Die Serviette werfe ich unter den Tisch, wo Jeromes ölverschmierte Flip-Flops stehen.
Auf seinem verblassten Poloshirt zeichnet sich ein weißer Schweißrand ab. Eine zerbrechliche Kette aus Salzkristallen, die wie ein Collier unter seinem filzigen grauen Bart liegt. Seine fleischigen Füße hat er ins gusseiserne Tischgestell gedrückt. Die schmutzigen Zehen wachsen wie Früchte aus den rostigen Blattornamenten. Violette Trauben mit rissiger Haut und gelben Rändern.
Ich schiebe die Tasse zur Seite, kann nicht trinken, nicht mit dem Gestank in der Nase und den Bildern vor Augen. Der Kellner lässt seinen Blick über die Köpfe schweifen, ich hebe die Hand, reibe Daumen und Zeigefinger aneinander. Wie jeden Tag ignoriert er mich.
Wir beide wissen, was er mit der kleinen Sünde meint und sie ist der einzige Grund, warum ich gerade Jerome ertrage.

Zu der warmen Quelle geht es drei Felsstufen hinunter, eine Terrasse wurde in den Stein gehauen, das Wasser speist ein niedriges gemauertes Bassin. Wo es überläuft, hat sich wulstiger Kalk abgelagert. Wie aufgereiht steigen kleine Luftbläschen empor, es riecht streng, erinnert an Klinik. Wir sind allein.
Mona setzt sich auf den Rand, schüttelt die Sandalen ab und schwingt die Füße ins Wasser, lacht. Sie klopft mit der Hand auf die Mauer. »Komm!«
Ich schüttele den Kopf und habe damit nicht nur Nein gesagt zu ihrer Einladung, sondern offenbar auch zu allem weiterem.

»Du hast es so gewollt, es war deine Entscheidung«, sagt er und saugt an seiner Zigarre, bis die Spitze aufglüht wie eine feurige Turbine.
Salzige Mittagshitze kriecht den Hügel hinauf, trägt auf ihrem Weg durch die verwinkelten Gassen den Geruch von Kakao, Chili und alten Steinen mit. Unten im sichelförmigen Hafenbecken dümpeln ausgeblichene Fischerboote, auch das von Jerome, das ich nicht betreten kann, da der ganze Hafen für mich unerreichbar bleibt. Eine Verbotszone.
Ein jedes Boot tanzt seinen eigenen Rhythmus, schüttelt die seitlichen Netze wie lose Zöpfe, um das gleißenden Sommerlicht einzufangen, doch das Glitzern schlüpft immer wieder durch die Maschen. Mit zusammen gekniffenen Augen verschwimmen die Farbkleckse mit den Sonnenreflexionen auf dem Wasser, laufen ineinander und werden eins. Manches Mal, wenn ich blinzele, verschwindet der Hafen und ich peile zwischen alten Kanonenläufen über die Mauerkante auf ein leeres Meer. Hinten im Dunst lässt sich das Festland ausmachen, ein geschwungener Kohlestrich, der in der Luft hängt. Was hilft es, ich kann nicht über Wasser gehen.
»Fick dich, Jerome«, sage ich leise und gehe. Er lacht mir hinterher und wir beide wissen, er wird es mir nicht übelnehmen, weil das nicht geht, weil wir uns schon sehr bald wiedersehen werden.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich schon hier bin, wann ich das erste Mal einen Fuß auf dieses Eiland gesetzt habe, das mich seitdem an sich saugt wie ein Magnet. Regelmäßig pocht der Schmerz in meiner linken Hand, Stunden und Tage zerfließen dann zu einem buttrigen Brei, die Zeit dehnt sich aus, als ob sie mir keinen eigenen Raum geben will.
Seit dem ersten Tag schmeichelt die Insel mir mit berauschendem Meer und unfassbarem Licht, erfreut mich mit gutem Essen und dem Gezwitscher aus hundert Fenstern. Doch ebenso erstickt mich die Schwere der alten Mauern, die rauschende Einsamkeit der schwarzen Nächte und das konstante Signal vom Funkturm.
Die Insel spricht mit mir in einer rauen, herben Sprache, die ich nicht spreche und doch ahne ich, was sie sagt. Dass ich sie nicht verlassen soll, weil es mir doch gut ergeht, dort wo ich bin, und ob denn das, was mich dort erwartet, wo ich hingehen will, tatsächlich besser sei?
Was ich spüre ist eine Sehnsucht nach meinem alten Leben, eine seelische Unterernährung, ohne dass ich mich daran erinnern könnte, wie es dort war, wo ich vorher war. In meinem Kopf versammeln sich lauter blinde Flecken, als hätte die Insel mich als Ganzes verschluckt und als Wesen ohne Erinnerungen wieder ausgespuckt. An manchen Tagen fühle ich mich auf die Insel geworfen wie ein Neugeborenes, sorglos und dumm, gebettet in buttrige Tage eines ewigen Sommers. Würde sich das ändern, wenn ich Festland betrete?

Die Insel weiß jeden meiner Schritte, noch bevor ich selbst den Gedanken dazu gefasst habe. Knurrt mein Bauch, höre ich das Klappern von Besteck und das Schnattern an Tischen, deren Bretter unter Tellern voller Köstlichkeiten versteckt werden. Die Menschen an den Tischen sind jedes Mal neu, doch immer ist ein Platz für mich frei.
Halte ich mir die Ohren zu, weil ich das Signal und das metallische Surren nicht mehr ertrage, öffnet sich hinter der nächsten Hausecke der Kirchplatz. Schon im Schatten der Turmspitze wird es ruhiger, aus dem großen Portal strömt Weihrauch und Frieden. Für einen kleinen Moment bin ich der Insel und dem verrückten Erbsenzähler dafür dankbar.
Werden meine Schritte schwer, führt mich mein Weg aus der Stadt hinaus auf einen Hügel, ich schaue aufs Meer, das Gesicht im Wind, Salzluft in der Lunge. Strengt mich die Hitze an, führt sie mich zu einem duftenden Hain voller Zitronen und Orangen, in deren Halbschatten ich zur Besinnung komme.
Und ja, wenn ich an Mona denke, stehe ich vor den drei Stufen hinunter zum Bassin, wieder sind wir alleine, sie klopft auf den Platz neben sich, Tag für Tag aufs Neue, bis ich mich irgendwann setzte, meine Sandalen ausziehe und mit ihr um die Wette trampele. Wie erwartet prickelt das Aufsteigen der Luftbläschen an meinen Beinen, doch der Rest schmerzt, weil über dem ganzen blinden Fleck eine unverrückbare Gewissheit steht: Es ist nicht wahr. Und weil es nicht wahr ist, kann es auch nicht bleiben. In Wahrheit ist Mona tot, das Bassin mit dem Lebenswasser eine wässrige Lüge, das kann ich jetzt sehen.
Neben Mona ist Jerome der einzige Mensch auf der Insel, der jeden Tag aufs Neue erscheint. Niemanden sonst erkenne ich wieder, niemand sonst ist halbwegs real außer Jerome, dem Fischer und Botschafter, geformt aus dreckiger Inselerde.

Was er als kleine Sünde bezeichnet, ist vergleichsweise belanglos, damit ist mein Sprung von der Stadtmauer hinunter zum Hafen gemeint, in der irren Hoffnung, auf eines der Touristenboote zu gelangen. Dieses eine Mal war ich schneller als die Insel, die es versäumt hat, den Sprung zu verhindern. Weil ich getan habe, ohne zu denken. Dennoch ist es kein Wunder, dass ich nie auf dem Boden des Hafens landete, sondern mich auf dem Bistrostuhl sitzend wiederfand, an einem Tisch mit Jerome und seinem Spott. Jetzt bin ich sicher, dass die Insel mich niemals freiwillig gehen lässt.
Sie zwingt mich zu einem Umweg, den ich nicht zu laut denken darf, den ich im Leerlauf gehen muss als wandelnder blinder Fleck, sonst kommt die Insel mir zuvor.

Die Pflastersteine sind dunkel vor Feuchtigkeit. Salz und schwarzer Sand knirscht unter meinen Sandalen. Aus dem Gewirr an grünen Türen, geschlossenen Fensterläden und dem ewig südlichen Mauerocker schält sich die Fabrik. Der Schriftzug auf dem schmalen Giebel ist lange verblichen, darüber eine offene Luke mit steil ausgestelltem Flaschenzug ohne Seil. Müll und gestapelte Paletten wachsen auf der Rückseite die Wände hoch, wie ein Panzer, der sich mit der Zeit über die Fabrik stülpen will. Ich steige über den kniehohen Draht und die letzten Gräser vor dem Meer und wende mich zur Schattenseite. Der salzige Geruch gewinnt an Schärfe. Meine Gedanken sind leer, kein Grund meine Schritte zu lenken.
In das Geländer hat der Rost ein Loch gefressen, das von zwei Wespen bewacht wird, die nervös mit den Flügeln schlagen, weil ich mit meiner Hand über den Rost gestrichen bin. Ihr Summen ähnelt dem Grundgeräusch, das ich fortwährend höre. Vorsichtig schlage ich einen Bogen und gehe weiter auf die Landzunge hinaus. Dennoch spüre ich den Stich auf meiner Hand, dort wo das Leben aus mir hinausläuft.
Ich sehe Jerome vor mir, er raucht im Schatten der Fabrik, sein rechter Fuß ist an die Wand gelehnt. »Du bist noch nicht dran«, sagt er und lässt die Turbine glühen.
»Nein, ich weiß …«, sage ich, zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht und ziehe langsam meinen Blick von ihm weg. Mein Kopf ist leer, buttrige Gedankenlosigkeit, deshalb lässt er mich gehen. Endlich lasse ich ihn hinter mir, das Signal verebbt, ebenso das Grundrauschen und der Schmerz auf meinem Handrücken lässt nach.
Erste Möwen steigen in die Luft, je weiter ich gehe, desto größer wird ihre Zahl. Ich kann nicht sagen, ob das, was meine Ohren betäubt, Schreien oder Lachen ist.
Ich schließe die Augen, setzte Schritt vor Schritt, weiter und weiter, breite die Arme aus und spreize die Finger, mehr habe ich nicht dabei. Zuerst höre ich das Flattern. Als sie anfliegen, zieht wilde Luft an meinem Gesicht vorbei, erste Krallen greifen zu mit spitzen Schmerzen, ich heiße sie willkommen. Mehr und mehr greifen in meine Arme, knabbern an Fingern und Ohren, ziehen Furchen durch mein Haar. Sie stimmen ein in den vielstimmigen Gesang, bevor sie mich in die Lüfte heben, ein weißgrauer Ballon mit zerfasernder Hülle aus streichelnden Federn, gelben Augen und Schweben.
»Zurück …«, flüstere ich, »… nur zurück.«

 

Ja super ... hab grade den Kommentar mit all den Anmerkungen gelöscht - also dann auf ein neues (in der Hoffnung, dass ich nichts vergesse.)

Hallo @linktofink,

einen schönen Stil hast du. An manchen Stellen war's mir persönlich ein wenig zu viel mit den Beschreibungen/Bildern, aber an sich fand ichs gut. Ich hatte ursprünglich ein paar Stellen herauszitiert, die mir besonders gut gefielen. Auf die schnelle fällt mir nur das Bild mit den Zehen als Trauben ein. Sehr schön. Da kam mir fast das Kotzen. :)

Der Inhalt selbst ließ mich beim ersten Mal lesen etwas ratlos zurück, beim zweiten Mal hatte ich mir noch ein paar Stellen rauszutiert gehabt, ich schau mal, wie viel ich davon jetzt noch finde, wenn ich dann noch mal in den Text schaue. Weil ich's jetzt halt nochmal rauszitieren muss. ^^"

Zum Aufbau/Beschreibungen:

»Weißt du, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort«, bellt er und wischt mit dem Handrücken über das nasse Kinn. Als er damit fertig ist, grinst er und zeigt auf meine Hose.
Die Möwe fliegt weg, über den ausgetrockneten Springbrunnen, ihr Schatten streift helle Hüte und luftige Sommerkleider, verschwindet Richtung Meer.

Weiter draußen sind der mit Quadern befestigten Küste Sandbänke vorgelagert. Dort auf der Landzunge mit der ehemaligen Sardinenfabrik befindet sich eine große Möwenkolonie, die einst von den Abfällen lebte. Auf dem Geländer direkt an der Rückseite der Fabrik hocken sie aufgereiht wie Perlen auf einem rostigen Draht. Niemand ist mehr dort, der sie vertreiben könnte. Die neue nützliche Plage sind Tagesgäste, von kleinen bis mittleren Fähren an Land gespült.
Beim zweiten Mal lesen ergab das natürlich Sinn, Vogelkacke auf der Hose. Beim ersten Mal verstand ich nicht, was der Ausflug in die Vogelkolonie hier soll. Also, ich hab nicht gecheckt, dass er angekackt wurde und aus dem Grund kam mir die Beschreibung vor wie ein Puzzleteil, das noch nicht ganz sitzt.

Nachts ist die Insel beinahe tot. Dieselgeneratoren tuckern zahm vor sich hin, die Straßen gehören den Katzen, durch geschlossene Läden flimmern warme Lichtstreifen, meine Schritte hallen von kahlen Mauern zurück. Wie endlose Würmer ziehen sich die schwarzen Lücken zwischen den Häusern die Hänge hoch, verkräuseln sich jenseits der Gärten mit ersten Ausläufern des Waldes. Unten im Hafen knarzen die Boote, wenn sie aneinander reiben. Ich weiß das nur, hören kann ich sie hier oben nicht und zum Hafen komme ich nicht.
Kalt ziehen Winde durch die Gassen, ein jeder von ihnen besitzt eine eigene Flüsterstimme und jeder birgt eine andere Botschaft. Sie verflechten sich zu einem Bündel, zu einem pulsierenden Strom, der ein Grundrauschen erzeugt, das auch nicht aufhört, wenn ich mir die Ohren zuhalte. Hinzu kommt der rhythmische Signalton vom Funkturm, der aus der Inselmitte ragt. Der einzige Ort, wo ich dem entkomme, ist die graue Kirche, errichtet mit dem, was der stillgelegte Steinbruch auf dem Weg zum Funkturm einst hergegeben hat. Sie ist älter als der älteste Baum der Insel und meine Zuflucht.
Die beiden Erzählblocke wirkten für mich auch beim zweiten Mal lesen noch off. Wir starten mit dem Ich-Erzähler und Jerome am Tag an einem Tisch. Und dann kommen hier zwei Erzählblöcke. Der erste beschreibt, wie die Insel in der Nacht ist, der zweite (der für mich auch so wirkte, als wäre er nur an den zweiten rangesetzt worden, mir kams so vor, als würde da der Übergang fehlen) dann den Funkturm, der später noch vorkommt. Ich würd die beiden Blöcke eventuell noch auf das wichtigte kürzen, zusammenfügen und dann vielleicht auch etwas runder in die Geschichte einweben? VIelleicht kams aber auch nur mir so vor.

Jerome steht die Sonne im Rücken. Ich muss blinzeln, als ich zu ihm hinüberschaue. Der Zigarrenschneider liegt vor ihm auf dem Tisch. Trotzdem beißt er die Kappe ab, spuckt sie zur Seite und ein paar braune Reste hinterher.
Was für ein Gott soll das sein, der Kleinigkeiten bestraft und großes Elend gleichgültig geschehen lässt? Ein der Welt entrückter Erbsenzähler?
Seine fleischigen Füße hat er ins gusseiserne Tischgestell gedrückt. Die schmutzigen Zehen wachsen wie Früchte aus den rostigen Blattornamenten. Violette Trauben mit rissiger Haut und gelben Rändern.
Das sind drei Stellen, die mir sehr gut gefielen. Grade auch der Gedanke mit dem erbsenzählenden Gott, den der Ich-Erzähler später ja auch wieder aufgreift, gefällt mir sehr gut.

Was den Inhalt angeht, da war ich beim ersten Mal lesen lost. Mir fiel aber auf, dass bei Mona was mit Spritzen stand und dann beim zweiten Mal lesen auch, dass da relativ oft der Schmerz in der Hand vorkommt. Daher dacht ich mir dann, vielleicht ja ne Art Drogengeschichte? Wobei die Insel quasi seine Sucht ist, die ihm vorgaukelt bzw. gibt, was er haben will, sobald er daran denkt, da gabs ein paar Stellen, die mich auf den Gedanken brachten, ich schau mal, ob ich sie finde.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich schon hier bin, wann ich das erste Mal einen Fuß auf dieses Eiland gesetzt habe, das mich seitdem an sich saugt wie ein Magnet. Regelmäßig pocht der Schmerz in meiner linken Hand, Stunden und Tage zerfließen dann zu einem buttrigen Brei, die Zeit dehnt sich aus, als ob sie mir keinen eigenen Raum geben will.
Seit dem ersten Tag schmeichelt die Insel mir mit berauschendem Meer und unfassbarem Licht, erfreut mich mit gutem Essen und dem Gezwitscher aus hundert Fenstern. Doch ebenso erstickt mich die Schwere der alten Mauern, die rauschende Einsamkeit der schwarzen Nächte und das konstante Signal vom Funkturm.
Was ich spüre ist eine Sehnsucht nach meinem alten Leben, eine seelische Unterernährung, ohne dass ich mich daran erinnern könnte, wie es dort war, wo ich vorher war. In meinem Kopf versammeln sich lauter blinde Flecken, als hätte die Insel mich als Ganzes verschluckt und als Wesen ohne Erinnerungen wieder ausgespuckt.
Werden meine Schritte schwer, führt mich mein Weg aus der Stadt hinaus auf einen Hügel, ich schaue aufs Meer, das Gesicht im Wind, Salzluft in der Lunge. Strengt mich die Hitze an, führt sie mich zu einem duftenden Hain voller Zitronen und Orangen, in deren Halbschatten ich zur Besinnung komme.

Da hörte sich die Insel so ein wenig an, wie das High.

Woraus ich nicht wirklich schlüssig wurde war Jerome, seine Aussagen und auch die Leute um sie herum, dass der Kellner ihn ignoriert, die Kippende Stimmung, als er sagt "Scheiß auf deinen Gott".

Oder auch diese Stelle hier:

Mona setzt sich auf den Rand, schüttelt die Sandalen ab und schwingt die Füße ins Wasser, lacht. Sie klopft mit der Hand auf die Mauer. »Komm!«
Ich schüttele den Kopf und habe damit nicht nur Nein gesagt zu ihrer Einladung, sondern offenbar auch zu allem weiterem.
Das klingt, als hätte er zu Mona nein gesagt und nicht mit ihr um die Wette gespritzt und so, als wäre es danach schlimm geworden. Als nächster erfahre ich als Leser, dass sie tot ist und dass er jetzt nur noch Jerome hat. Und der sagt dann so kryptische Sachen wie das hier:

»Du hast es so gewollt, es war deine Entscheidung«, sagt er und saugt an seiner Zigarre, bis die Spitze aufglüht wie eine feurige Turbine.

Und irgendwie scheint der Ich-Erzähler nicht von ihm wegzukommen.

»Fick dich, Jerome«, sage ich leise und gehe. Er lacht mir hinterher und wir beide wissen, er wird es mir nicht übelnehmen, weil das nicht geht, weil wir uns schon sehr bald wiedersehen werden.

Und gleichzeitig scheint er mehr zu wissen:

ch sehe Jerome vor mir, er raucht im Schatten der Fabrik, sein rechter Fuß ist an die Wand gelehnt. »Du bist noch nicht dran«, sagt er und lässt die Turbine glühen.
»Nein, ich weiß …«, sage ich, zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht und ziehe langsam meinen Blick von ihm weg. Mein Kopf ist leer, buttrige Gedankenlosigkeit, deshalb lässt er mich gehen.

Da dacht ich, dass er vielleicht sowas wie sein Überbewusst sein sein könnte oder sowas. Dass der Ich-Erzähler ihn sich nur einbildet.

Woraus ich auch nicht schlau wurde, ist die kleine Sünde:

Was er als kleine Sünde bezeichnet, ist vergleichsweise belanglos, damit ist mein Sprung von der Stadtmauer hinunter zum Hafen gemeint, in der irren Hoffnung, auf eines der Touristenboote zu gelangen. Dieses eine Mal war ich schneller als die Insel, die es versäumt hat, den Sprung zu verhindern. Weil ich getan habe, ohne zu denken. Dennoch ist es kein Wunder, dass ich nie auf dem Boden des Hafens landete, sondern mich auf dem Bistrostuhl sitzend wiederfand, an einem Tisch mit Jerome und seinem Spott. Jetzt bin ich sicher, dass die Insel mich niemals freiwillig gehen lässt.
So wie ich mir das zusammengereimt habe, mit der Sucht und dem High, wäre das ein versuchter Absprung, weg von der Insel. Vielleicht hat das dazu geführt, dass Mona sich ne Überdosis verpasst hat, aber dann wäre der Sprung nicht so belanglos. Vielleicht lese ich das alles auch ganz anders, als du dir das gedacht hast.

Ich wäre auf jeden Fall gespannt, was so deine Gedanken sind, steht ja "Seltsam" dabei, auf jeden Fall hab ich's gerne gelesen.

LG
Salatze

 
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Moin @linktofink ,

wusst ich's doch: Challenge-Time und du bist dabei.
Wie immer sind deine Geschichten, also auch diese hier, mit sehr vielen Eindrücken durchsetzt und es passiert auch immer viel darin.
Hier kommt mir der eigentliche Plot, der sich auf die Menschen bezieht, ein wenig karger als sonst vor, aber dafür lässt du umso mehr die Landschaft, also die Insel sprechen.
Da allerdings ist es mir an manchen Stellen etwas too much, da scheint es mir, dass mit dir die Pferde durchgehen, aber das zeige ich noch auf.
Natürlich ist das auch in gewisser Hinsicht reinste Geschmackssache, du musst es also keinesfalls persönlich nehmen, wenn mir hie und da etwas zu dick aufgetragen wurde.
An wiederum einigen anderen Stellen hast du Formulierungen gewählt, die ich zum Niederknien gut finde, ich wünschte, du würdest dieses Talent in dir noch deutlich intensiver ausbauen und hegen und pflegen.
Ich versuch mal, der Reihe nach vorzugehen:

die seine vorherigen Drinks auf der Marmorplatte hinterlassen haben.
Das Bild erscheint mir nicht in sich stimmig. Es ist ja nicht so, dass man stets beim Trinken Pfützen auf dem Tisch hinterlässt. Hier fehlt für mich folglich noch ein kleines erklärendes Detail.
Die Möwe fliegt weg,
Ich störe mich an dem Wort "die", würde eher "eine" wählen, weil es ja eine ganz beliebige Möwe ist.
Nachts ist die Insel beinahe tot. Dieselgeneratoren tuckern zahm vor sich hin, die Straßen gehören den Katzen, durch geschlossene Läden flimmern warme Lichtstreifen, meine Schritte hallen von kahlen Mauern zurück.
Klingt gut, gefällt mir sehr.
Unten im Hafen knarzen die Boote, wenn sie aneinander reiben.
Ich bin vermutlich hier, wie du so schön sagst, zu erbsenzählerisch, aber die Boote reiben bestimmt nicht aneinander, jeder Bootsbesitzer sorgt akribisch dafür, dass dazwischen ein paar Bojen oder andere Gegenstände genau dies verhindern, dass sie sich reiben. Aber diese über Bord hängenden Teile, @Katla weiß garantiert dazu etliche Bezeichnungen, die sind es, die knarzen können oder quietschen.
Ich weiß das nur, hören kann ich sie hier oben nicht und zum Hafen komme ich nicht.
Ich empfinde diesen Satz für überflüssig.
Eine zerbrechliche Kette aus Salzkristallen, die wie ein Collier unter seinem filzigen grauen Bart liegt.
Toll formuliert.
Die schmutzigen Zehen wachsen wie Früchte aus den rostigen Blattornamenten. Violette Trauben mit rissiger Haut und gelben Rändern.
Hier ist es mir too much der garstigen Beschreibung.

Ich schiebe die Tasse zur Seite, kann nicht trinken, nicht mit dem Gestank in der Nase und den Bildern vor Augen.
Ginge mir auch so, ob der vorherigen Beschreibung. Das ist mir alles hier zu dick drauf.
Wir beide wissen, was er mit der kleinen Sünde meint und sie ist der einzige Grund, warum ich gerade Jerome ertrage.
Hier wird es zwar spannend, aber am Ende deiner Geschichte könnte ich nicht sagen, was für eine Sünde das ist. Weiß der Autor es?
Ein jedes Boot tanzt seinen eigenen Rhythmus, schüttelt die seitlichen Netze wie lose Zöpfe, um das gleißenden Sommerlicht einzufangen, doch das Glitzern schlüpft immer wieder durch die Maschen.
Auch hier haut es mir zu fantasiereich ins Gebälk, zu dick aufgetragen.
Zu der warmen Quelle geht es drei Felsstufen hinunter, eine Terrasse wurde in den Stein gehauen, das Wasser speist ein niedriges gemauertes Bassin. Wo es überläuft, hat sich wulstiger Kalk abgelagert. Wie aufgereiht steigen kleine Luftbläschen empor, es riecht streng, erinnert an Klinik. Wir sind allein.
Mona setzt sich auf den Rand, schüttelt die Sandalen ab und schwingt die Füße ins Wasser, lacht. Sie klopft mit der Hand auf die Mauer. »Komm!«
Ich schüttele den Kopf und habe damit nicht nur Nein gesagt zu ihrer Einladung, sondern offenbar auch zu allem weiterem.
Dieser Absatz kommt bereits ein ganzes Stück weiter vorne, aber ich zitiere ihn dir hier erst jetzt, weil ich zunächst dachte, dass ich mal abwarten sollte, wann du den Faden wieder aufnimmst. Das ist mir aber zu spät erfolgt. Ich empfinde diesen gesamten Absatz komplett als Fremdkörper, kein Einschub, der eine neue Facette oder einen neuen Erzählstrang eröffnen soll.
Regelmäßig pocht der Schmerz in meiner linken Hand, Stunden und Tage zerfließen dann zu einem buttrigen Brei, die Zeit dehnt sich aus, als ob sie mir keinen eigenen Raum geben will.
Woher kommt jetzt dieser Schmerz, ich fürchte, ich hab etwas wo überlesen, aber ich weiß nicht wo? Und dann taucht dieses Wort mit der Butter insgesamt dreimal in deiner Geschichte auf und jedes Mal haut es mich raus. Kannst du vielleicht dafür etwas weniger Kalorienreiches finden? In meiner Fantasie wäre es ein Eiswürfel, der obwohl das Glas noch beschlagen ist, wie durch Zauberhand verschwindet, wenn es um Hitze geht. Ich verstehe schon, du willst etwas mit Ausdehnung darstellen.

in buttrige Tage eines ewigen Sommers.
Hier ist die zweite Verwendung des Buttrigen.
Für einen kleinen Moment bin ich der Insel und dem verrückten Erbsenzähler dafür dankbar.
Bei der zweiten Verwendung des Begriffs "verrückter Erbsenzähler" hab ich gestutzt, weil ich mich erinnerte, ihn am Anfang wo schon gelesen zu haben.
Ein der Welt entrückter Erbsenzähler?
Bei beiden Malen bin ich nicht so arg begeistert davon, meinst du Gott damit? Wenn ja, gäbe es nicht noch etwas mehr Punktgelandetes? Wobei ich mich keinesfalls an der Intention der Formulierung störe, sondern nur an dem Begriff, der noch treffender sein könnte.
Niemanden sonst erkenne ich wieder, niemand sonst ist halbwegs real außer Jerome, dem Fischer und Botschafter, geformt aus dreckiger Inselerde.
Hm...ist Jerome also Fischer? Und in welcher Weise ist er Botschafter? Das wird mir nicht so ganz klar. Welche Botschaft übermittelt er dem Protagonisten? Aber noch viel mehr irritiert mich dieses "geformt aus dreckiger Inselerde". Da bin ich inhaltlich ganz raus. An dieser Stelle fragte ich mich, ob Jerome gar nicht real ist?

Sie zwingt mich zu einem Umweg, den ich nicht zu laut denken darf, den ich im Leerlauf gehen muss als wandelnder blinder Fleck, sonst kommt die Insel mir zuvor.
Sehr kryptisch.
, buttrige Gedankenlosigkeit,
Das dritte Mal.
Mehr und mehr greifen in meine Arme, knabbern an Fingern und Ohren, ziehen Furchen durch mein Haar. Sie stimmen ein in den vielstimmigen Gesang, bevor sie mich in die Lüfte heben, ein weißgrauer Ballon mit zerfasernder Hülle aus streichelnden Federn, gelben Augen und Schweben.
»Zurück …«, flüstere ich, »… nur zurück.«
Bei dieser Szene stellt sich mir die Stirn kraus. Was passiert hier? Die Möwen, die wie bei Hitchcock eine lebende Person attackieren? Dann aber sind es streichelnde Federn? Stirbt er?
Lieber @linktofink , das waren jetzt so meine Kritikpunkte und Fragezeichen. Die Geschichte las sich sehr gut, ich mag auch diese präzsisen Beschreibungen super gern, weil sie schöne eindrückliche Bilder vor meinen Augen erzeugen. Darin bist du wirklich ein Meister.
Aber ich bin nun mal bekennende Anhängerin von klaren Texten. Ich liebe, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die mir grad einfallen, die Geschichten von Hemingway und London und mag deren klare Strukturen. Wenn ich anfangen muss, innerhalb eines Textes zu raten, was ich da grad gelesen habe, fühle ich mich nicht so wohl wie bei den anderen Texten. Trotzdem käme mir nie in den Sinn, deswegen eine Geschichte zu verdammen.

Ich hab deine Geschichte gern gelesen, trotz allem.


Lieben Gruß

lakita

 
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Aber diese über Bord hängenden Teile, @Katla weiß garantiert dazu etliche Bezeichnungen, die sind es, die knarzen können oder quietschen.
:D;) ⚓

Hehe, ja - auch @linktofink : Fender. Das unabhängig von der Größe.

Wenn die Boote / Schiffe sehr nach oben hin ausladende Seiten bzw. Handlauf haben, kann ein Gegeneinanderreiben aber durchaus passieren. (Da platzt auch flott der Lack ab und man kann am näxten Seetag streichen.) Ganz vor allem, wenn man nicht zu zweit, sondern dritt oder viert im Päckchen liegt. Entweder hängen dann die Fender zu tief, zu weit zum Bug / Heck hin (wo die Schiffsform bedingt, dass da weniger Duck oder gar kein Kontakt mehr ist); sind zu schmal, leicht defekt oder aber sie wurden zusätzlich auf Höhe des Handlaufs befestigt (an Seglern dann an den Wanten z.B.), rutschten dann durch die ständige Bewegung aber oben raus. Die kriegt kein Mensch mehr dazwischen, zumindest bei Schiffen. (Klar, eine kleinere Plastikjacht lässt sich besser schieben, kommt aber auf die Windverhältnisse / Wasserdruck gegen Land an.)

Die o.g. Szenarien wären so (sorry, hab den Text noch nicht gelesen, freue mich aber schon sehr) eher bei (Stahl-/Holz)Schiffen ab 25 m LOA aufwärts. Ist auch nicht so leicht zu beheben - v.a. bei größeren dann - weil das ggfs, ein paar Hundert Tonnen Gewicht sind und die kriegt man mit Muskelkraft nicht mehr voneinander weggedrückt. Vor allem nicht bei auflandigem Wind.

Will man das alles nicht (weil es zu viel Erklärung / Details erforderte), können aber die Festmachleinen knarren und am Rumpf des anderen Schiffes reiben (wenn die Leine vom zweiten Schiff direkt zum Land führt und nicht an einen Poller an Deck - das macht man, weil sonst alles zusammen an den Leinen des ersten Schiffes hängt), das macht richtig Krach. Auch hört man das Reiben der Schiffe an den Fendern. Quietscht und Knirscht, also nicht so ein arg poetischer Ton.

Alles Liebe und schön, dass du wieder da bist @linktofink !
Ahoi, Katla

 

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