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Die Insel

Monster-WG
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04.03.2018
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Die Insel

Heute könnte der perfekte Sommertag sein, wenn Jerome nicht wäre. Über die Tasse in meiner Hand schaue ich zu ihm hinüber, sehe ihm dabei zu, wie er den Rest Wermut in seinen Hals kippt. Mit lautem Klacken stellt er das Glas in die Lache, die seine vorherigen Drinks auf der Marmorplatte hinterlassen haben.
»Weißt du, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort«, bellt er und wischt mit dem Handrücken über das nasse Kinn. Als er damit fertig ist, grinst er und zeigt auf meine Hose.
Die Möwe fliegt weg, über den ausgetrockneten Springbrunnen, ihr Schatten streift helle Hüte und luftige Sommerkleider, verschwindet Richtung Meer.
Weiter draußen sind der mit Quadern befestigten Küste Sandbänke vorgelagert. Dort auf der Landzunge mit der ehemaligen Sardinenfabrik befindet sich eine große Möwenkolonie, die einst von den Abfällen lebte. Auf dem Geländer direkt an der Rückseite der Fabrik hocken sie aufgereiht wie Perlen auf einem rostigen Draht. Niemand ist mehr dort, der sie vertreiben könnte. Die neue nützliche Plage sind Tagesgäste, von kleinen bis mittleren Fähren an Land gespült.

Nachts ist die Insel beinahe tot. Dieselgeneratoren tuckern zahm vor sich hin, die Straßen gehören den Katzen, durch geschlossene Läden flimmern warme Lichtstreifen, meine Schritte hallen von kahlen Mauern zurück. Wie endlose Würmer ziehen sich die schwarzen Lücken zwischen den Häusern die Hänge hoch, verkräuseln sich jenseits der Gärten mit ersten Ausläufern des Waldes. Unten im Hafen knarzen die Boote, wenn sie aneinander reiben. Ich weiß das nur, hören kann ich sie hier oben nicht und zum Hafen komme ich nicht.
Kalt ziehen Winde durch die Gassen, ein jeder von ihnen besitzt eine eigene Flüsterstimme und jeder birgt eine andere Botschaft. Sie verflechten sich zu einem Bündel, zu einem pulsierenden Strom, der ein Grundrauschen erzeugt, das auch nicht aufhört, wenn ich mir die Ohren zuhalte. Hinzu kommt der rhythmische Signalton vom Funkturm, der aus der Inselmitte ragt. Der einzige Ort, wo ich dem entkomme, ist die graue Kirche, errichtet mit dem, was der stillgelegte Steinbruch auf dem Weg zum Funkturm einst hergegeben hat. Sie ist älter als der älteste Baum der Insel und meine Zuflucht.

Jerome steht die Sonne im Rücken. Ich muss blinzeln, als ich zu ihm hinüberschaue. Der Zigarrenschneider liegt vor ihm auf dem Tisch. Trotzdem beißt er die Kappe ab, spuckt sie zur Seite und ein paar braune Reste hinterher. Übelkeit kriecht meinen Hals hoch. Ich setze die Tasse ab und zupfe eine Serviette aus dem Spender.
»Scheiß auf Sünde, scheiß auf deinen Gott«, sage ich. Die Serviette lege ich doppelt über den Möwenkot auf meiner Shorts. Jerome lacht. Köpfe drehen sich zu uns. Ich spüre wie es kippt. Was für ein Gott soll das sein, der Kleinigkeiten bestraft und großes Elend gleichgültig geschehen lässt? Ein der Welt entrückter Erbsenzähler?
Mit spitzen Fingern drücke ich die Serviette zusammen. Was auf der Hose bleibt, stinkt bestialisch. Ich spreize das Bein weit ab und hoffe, dass der Fleck in der Sonne schnell trocknet. Die Serviette werfe ich unter den Tisch, wo Jeromes ölverschmierte Flip-Flops stehen.
Auf seinem verblassten Poloshirt zeichnet sich ein weißer Schweißrand ab. Eine zerbrechliche Kette aus Salzkristallen, die wie ein Collier unter seinem filzigen grauen Bart liegt. Seine fleischigen Füße hat er ins gusseiserne Tischgestell gedrückt. Die schmutzigen Zehen wachsen wie Früchte aus den rostigen Blattornamenten. Violette Trauben mit rissiger Haut und gelben Rändern.
Ich schiebe die Tasse zur Seite, kann nicht trinken, nicht mit dem Gestank in der Nase und den Bildern vor Augen. Der Kellner lässt seinen Blick über die Köpfe schweifen, ich hebe die Hand, reibe Daumen und Zeigefinger aneinander. Wie jeden Tag ignoriert er mich.
Wir beide wissen, was er mit der kleinen Sünde meint und sie ist der einzige Grund, warum ich gerade Jerome ertrage.

Zu der warmen Quelle geht es drei Felsstufen hinunter, eine Terrasse wurde in den Stein gehauen, das Wasser speist ein niedriges gemauertes Bassin. Wo es überläuft, hat sich wulstiger Kalk abgelagert. Wie aufgereiht steigen kleine Luftbläschen empor, es riecht streng, erinnert an Klinik. Wir sind allein.
Mona setzt sich auf den Rand, schüttelt die Sandalen ab und schwingt die Füße ins Wasser, lacht. Sie klopft mit der Hand auf die Mauer. »Komm!«
Ich schüttele den Kopf und habe damit nicht nur Nein gesagt zu ihrer Einladung, sondern offenbar auch zu allem weiterem.

»Du hast es so gewollt, es war deine Entscheidung«, sagt er und saugt an seiner Zigarre, bis die Spitze aufglüht wie eine feurige Turbine.
Salzige Mittagshitze kriecht den Hügel hinauf, trägt auf ihrem Weg durch die verwinkelten Gassen den Geruch von Kakao, Chili und alten Steinen mit. Unten im sichelförmigen Hafenbecken dümpeln ausgeblichene Fischerboote, auch das von Jerome, das ich nicht betreten kann, da der ganze Hafen für mich unerreichbar bleibt. Eine Verbotszone.
Ein jedes Boot tanzt seinen eigenen Rhythmus, schüttelt die seitlichen Netze wie lose Zöpfe, um das gleißenden Sommerlicht einzufangen, doch das Glitzern schlüpft immer wieder durch die Maschen. Mit zusammen gekniffenen Augen verschwimmen die Farbkleckse mit den Sonnenreflexionen auf dem Wasser, laufen ineinander und werden eins. Manches Mal, wenn ich blinzele, verschwindet der Hafen und ich peile zwischen alten Kanonenläufen über die Mauerkante auf ein leeres Meer. Hinten im Dunst lässt sich das Festland ausmachen, ein geschwungener Kohlestrich, der in der Luft hängt. Was hilft es, ich kann nicht über Wasser gehen.
»Fick dich, Jerome«, sage ich leise und gehe. Er lacht mir hinterher und wir beide wissen, er wird es mir nicht übelnehmen, weil das nicht geht, weil wir uns schon sehr bald wiedersehen werden.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich schon hier bin, wann ich das erste Mal einen Fuß auf dieses Eiland gesetzt habe, das mich seitdem an sich saugt wie ein Magnet. Regelmäßig pocht der Schmerz in meiner linken Hand, Stunden und Tage zerfließen dann zu einem buttrigen Brei, die Zeit dehnt sich aus, als ob sie mir keinen eigenen Raum geben will.
Seit dem ersten Tag schmeichelt die Insel mir mit berauschendem Meer und unfassbarem Licht, erfreut mich mit gutem Essen und dem Gezwitscher aus hundert Fenstern. Doch ebenso erstickt mich die Schwere der alten Mauern, die rauschende Einsamkeit der schwarzen Nächte und das konstante Signal vom Funkturm.
Die Insel spricht mit mir in einer rauen, herben Sprache, die ich nicht spreche und doch ahne ich, was sie sagt. Dass ich sie nicht verlassen soll, weil es mir doch gut ergeht, dort wo ich bin, und ob denn das, was mich dort erwartet, wo ich hingehen will, tatsächlich besser sei?
Was ich spüre ist eine Sehnsucht nach meinem alten Leben, eine seelische Unterernährung, ohne dass ich mich daran erinnern könnte, wie es dort war, wo ich vorher war. In meinem Kopf versammeln sich lauter blinde Flecken, als hätte die Insel mich als Ganzes verschluckt und als Wesen ohne Erinnerungen wieder ausgespuckt. An manchen Tagen fühle ich mich auf die Insel geworfen wie ein Neugeborenes, sorglos und dumm, gebettet in buttrige Tage eines ewigen Sommers. Würde sich das ändern, wenn ich Festland betrete?

Die Insel weiß jeden meiner Schritte, noch bevor ich selbst den Gedanken dazu gefasst habe. Knurrt mein Bauch, höre ich das Klappern von Besteck und das Schnattern an Tischen, deren Bretter unter Tellern voller Köstlichkeiten versteckt werden. Die Menschen an den Tischen sind jedes Mal neu, doch immer ist ein Platz für mich frei.
Halte ich mir die Ohren zu, weil ich das Signal und das metallische Surren nicht mehr ertrage, öffnet sich hinter der nächsten Hausecke der Kirchplatz. Schon im Schatten der Turmspitze wird es ruhiger, aus dem großen Portal strömt Weihrauch und Frieden. Für einen kleinen Moment bin ich der Insel und dem verrückten Erbsenzähler dafür dankbar.
Werden meine Schritte schwer, führt mich mein Weg aus der Stadt hinaus auf einen Hügel, ich schaue aufs Meer, das Gesicht im Wind, Salzluft in der Lunge. Strengt mich die Hitze an, führt sie mich zu einem duftenden Hain voller Zitronen und Orangen, in deren Halbschatten ich zur Besinnung komme.
Und ja, wenn ich an Mona denke, stehe ich vor den drei Stufen hinunter zum Bassin, wieder sind wir alleine, sie klopft auf den Platz neben sich, Tag für Tag aufs Neue, bis ich mich irgendwann setzte, meine Sandalen ausziehe und mit ihr um die Wette spritze. Wie erwartet prickelt das Aufsteigen der Luftbläschen an meinen Beinen, doch der Rest schmerzt, weil über dem ganzen blinden Fleck eine unverrückbare Gewissheit steht: Es ist nicht wahr. Und weil es nicht wahr ist, kann es auch nicht bleiben. In Wahrheit ist Mona tot, das Bassin mit dem Lebenswasser eine wässrige Lüge, das kann ich jetzt sehen.
Neben Mona ist Jerome der einzige Mensch auf der Insel, der jeden Tag aufs Neue erscheint. Niemanden sonst erkenne ich wieder, niemand sonst ist halbwegs real außer Jerome, dem Fischer und Botschafter, geformt aus dreckiger Inselerde.

Was er als kleine Sünde bezeichnet, ist vergleichsweise belanglos, damit ist mein Sprung von der Stadtmauer hinunter zum Hafen gemeint, in der irren Hoffnung, auf eines der Touristenboote zu gelangen. Dieses eine Mal war ich schneller als die Insel, die es versäumt hat, den Sprung zu verhindern. Weil ich getan habe, ohne zu denken. Dennoch ist es kein Wunder, dass ich nie auf dem Boden des Hafens landete, sondern mich auf dem Bistrostuhl sitzend wiederfand, an einem Tisch mit Jerome und seinem Spott. Jetzt bin ich sicher, dass die Insel mich niemals freiwillig gehen lässt.
Sie zwingt mich zu einem Umweg, den ich nicht zu laut denken darf, den ich im Leerlauf gehen muss als wandelnder blinder Fleck, sonst kommt die Insel mir zuvor.

Die Pflastersteine sind dunkel vor Feuchtigkeit. Salz und schwarzer Sand knirscht unter meinen Sandalen. Aus dem Gewirr an grünen Türen, geschlossenen Fensterläden und dem ewig südlichen Mauerocker schält sich die Fabrik. Der Schriftzug auf dem schmalen Giebel ist lange verblichen, darüber eine offene Luke mit steil ausgestelltem Flaschenzug ohne Seil. Müll und gestapelte Paletten wachsen auf der Rückseite die Wände hoch, wie ein Panzer, der sich mit der Zeit über die Fabrik stülpen will. Ich steige über den kniehohen Draht und die letzten Gräser vor dem Meer und wende mich zur Schattenseite. Der salzige Geruch gewinnt an Schärfe. Meine Gedanken sind leer, kein Grund meine Schritte zu lenken.
In das Geländer hat der Rost ein Loch gefressen, das von zwei Wespen bewacht wird, die nervös mit den Flügeln schlagen, weil ich mit meiner Hand über den Rost gestrichen bin. Ihr Summen ähnelt dem Grundgeräusch, das ich fortwährend höre. Vorsichtig schlage ich einen Bogen und gehe weiter auf die Landzunge hinaus. Dennoch spüre ich den Stich auf meiner Hand, dort wo das Leben aus mir hinausläuft.
Ich sehe Jerome vor mir, er raucht im Schatten der Fabrik, sein rechter Fuß ist an die Wand gelehnt. »Du bist noch nicht dran«, sagt er und lässt die Turbine glühen.
»Nein, ich weiß …«, sage ich, zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht und ziehe langsam meinen Blick von ihm weg. Mein Kopf ist leer, buttrige Gedankenlosigkeit, deshalb lässt er mich gehen. Endlich lasse ich ihn hinter mir, das Signal verebbt, ebenso das Grundrauschen und der Schmerz auf meinem Handrücken lässt nach.
Erste Möwen steigen in die Luft, je weiter ich gehe, desto größer wird ihre Zahl. Ich kann nicht sagen, ob das, was meine Ohren betäubt, Schreien oder Lachen ist.
Ich schließe die Augen, setzte Schritt vor Schritt, weiter und weiter, breite die Arme aus und spreize die Finger, mehr habe ich nicht dabei. Zuerst höre ich das Flattern. Als sie anfliegen, zieht wilde Luft an meinem Gesicht vorbei, erste Krallen greifen zu mit spitzen Schmerzen, ich heiße sie willkommen. Mehr und mehr greifen in meine Arme, knabbern an Fingern und Ohren, ziehen Furchen durch mein Haar. Sie stimmen ein in den vielstimmigen Gesang, bevor sie mich in die Lüfte heben, ein weißgrauer Ballon mit zerfasernder Hülle aus streichelnden Federn, gelben Augen und Schweben.
»Zurück …«, flüstere ich, »… nur zurück.«

 

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