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Die Insel
Heute könnte der perfekte Sommertag sein, wenn Jerome nicht wäre. Über die Tasse in meiner Hand schaue ich zu ihm hinüber, sehe ihm dabei zu, wie er den Rest Wermut in seinen Hals kippt. Mit lautem Klacken stellt er das Glas in die Lache, die seine vorherigen Drinks auf der Marmorplatte hinterlassen haben.
»Weißt du, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort«, bellt er und wischt mit dem Handrücken über das nasse Kinn. Als er damit fertig ist, grinst er und zeigt auf meine Hose.
Die Möwe fliegt weg, über den ausgetrockneten Springbrunnen, ihr Schatten streift helle Hüte und luftige Sommerkleider, verschwindet Richtung Meer.
Weiter draußen sind der mit Quadern befestigten Küste Sandbänke vorgelagert. Dort auf der Landzunge mit der ehemaligen Sardinenfabrik befindet sich eine große Möwenkolonie, die einst von den Abfällen lebte. Auf dem Geländer direkt an der Rückseite der Fabrik hocken sie dicht an dicht, aufgereiht wie eine Perlenkette mit Federn. Niemand ist mehr dort, der sie vertreiben könnte und so sind sie geblieben.
Die neue, nützliche Plage sind Tagesgäste, von kleinen bis mittleren Fähren an Land gespült. Sie drücken sich die Treppen vom Hafen zum Marktplatz hoch, fluten die traditionellen Läden in den nahen Gassen der Stadt und landen bei einem Cappuccino im bestuhlten Schatten unter den Markisen. Wie die Gezeiten schwemmen sie von den Booten in die Stadt und wieder hinaus aufs Meer. Ihr Gemurmel ist ein pulsierender Fluss, schlägt den gleichen Takt wie der rhythmische Signalton vom Funkturm, der aus der Inselmitte ragt. Eine schnelle Signalfolge löst sich aus dem Takt, die Touristen scheinen es nicht wahrzunehmen, doch ich weiß was nun folgt, weil es das immer tut. In meiner linken Hand zieht es kalt und der Tag löst sich auf in warmer buttriger Sonne.
Als ich aufwache, ist es Nacht und nachts ist die Insel beinahe tot. Dieselgeneratoren tuckern zahm vor sich hin, die Straßen gehören den Katzen, durch die schrägen Lamellen der geschlossene Läden dringen warme Lichtstreifen, meine Schritte hallen von kahlen Mauern zurück. Wie endlose Würmer ziehen sich die schwarzen Lücken zwischen den Häusern die Hänge hoch, verkräuseln sich jenseits der Gärten mit ersten Ausläufern des Waldes. Unten im Hafen knarzen die Leinen und Fender der Boote, wenn das Meer sie aneinander reibt. Ich weiß das nur, hören kann ich sie hier oben nicht und zum Hafen hinunter kann und darf ich nicht gehen.
Kalt ziehen Winde durch die Gassen, ein jeder von ihnen besitzt eine eigene Flüsterstimme. Sie verflechten sich zu einem Bündel, zu einem pulsierenden Strom, der ein Grundrauschen erzeugt, das auch nicht aufhört, wenn ich mir die Ohren zuhalte. Das Warnsignal vom Funkturm ertönt gleichmäßig und leise, hypnotisiert mich wie ein auf Zeitlupe eingestelltes Metronom, bis ich wieder wegdämmere.
Jerome steht die Sonne im Rücken, ich sitze wieder auf dem Stuhl. Als ich zu ihm hinüberschaue, muss ich mit den Lidern blinzeln. Warum habe ich keine Sonnenbrille? Der Zigarrenschneider liegt vor ihm auf dem Tisch. Trotzdem beißt er die Kappe ab, spuckt sie zur Seite und ein paar braune Reste hinterher. Übelkeit kriecht meinen Hals hoch. Ich setze die Tasse ab und zupfe eine Serviette aus dem Spender.
»Scheiß auf Sünde, scheiß auf deinen Gott«, sage ich. Die Serviette lege ich doppelt über den Möwenkot auf meiner Shorts. Jerome lacht. Köpfe drehen sich zu uns. Ich spüre wie es langsam kippt. Was für ein Gott soll das sein, der Kleinigkeiten bestraft und großes Elend gleichgültig geschehen lässt? Ein der Welt entrückter Erbsenzähler?
Mit spitzen Fingern drücke ich die Serviette zusammen. Was auf der Hose bleibt, stinkt bestialisch. Ich spreize das Bein weit ab und hoffe, dass der Fleck in der Sonne schnell trocknet. Die Serviette werfe ich unter den Tisch, wo Jeromes ölverschmierte Flip-Flops stehen.
Auf seinem verblassten Poloshirt zeichnet sich ein weißer Schweißrand ab. Eine zerbrechliche Kette aus Salzkristallen, die wie ein Collier unter seinem filzigen grauen Bart liegt. Seine fleischigen Füße hat er ins gusseiserne Tischgestell gedrückt. Die schmutzigen Zehen wachsen wie Früchte aus den rostigen Blattornamenten. Violette Trauben mit rissiger Haut und gelben Rändern.
Ich schiebe die Tasse zur Seite, kann nicht trinken, nicht mit dem Gestank in der Nase und den Bildern vor Augen. Der Kellner lässt seinen Blick über die Köpfe schweifen, ich hebe die Hand, reibe Daumen und Zeigefinger aneinander. Wie jeden Tag ignoriert er mich als wäre ich Luft.
Ich stehe auf und taste die Taschen meiner Shorts ab, weder Portemonnaie noch Schlüssel sind darin, wo hab ich nur meinen Kopf?
»Du solltest zum Hotel gehen und dich frischmachen«, sagt Jerome. Er ist ebenfalls aufgestanden, steht vor mir, ich kann über ihn drüber spucken, so klein ist er. Mit ausgestreckten Armen will er mir den Weg zeigen. Und dann begeht er einen Fehler.
»Wenn du alles befolgst, wirst du Mona wiedersehen.«
An uns vorbei geht eine Frau, die das gleiche Sommerkleid trägt, das Mona an jenem Tag trug, Himmelblau, darauf verteilt rehbraune Jakobsmuscheln.
Es saugt mich weg und ich stehe vor dem schmiedeeisernen Tor. Zu der warmen Quelle geht es zwischen Büschen drei Felsstufen hinunter, eine Terrasse wurde in den Stein gehauen, das Wasser speist ein niedriges gemauertes Bassin. Wo es überläuft, hat sich wulstiger Kalk abgelagert. Wie aufgereiht steigen kleine Luftbläschen empor, es riecht streng, erinnert an Klinik. Wir sind allein.
Mona setzt sich auf den Rand, schüttelt die Sandalen ab und schwingt die Füße ins Wasser, lacht. Sie klopft mit der Hand auf die Mauer. »Komm!«
Ich schüttele den Kopf und habe damit nicht nur Nein gesagt zu dieser Einladung, ich habe viel zu oft nein gesagt und noch öfter habe ich das bedauert.
»Du hast es so gewollt, auch das war deine Entscheidung«, sagt Jerome und saugt an seiner Zigarre, bis die Spitze aufglüht wie eine feurige Turbine.
Wie stehen immer noch voreinander, er zwischen mir und dem Hafen. Ich sehe die Wachsamkeit in seinen Augen, er ist auf dem Sprung.
Mittagshitze kriecht aus der Stadt herunter, bringt auf ihrem Weg durch die verwinkelten Gassen den Geruch von Kakao, Chili und alten Steinen mit.
Ich drücke mich an ihm vorbei, gehe zur altersgrauen Balustrade und schaue herab in den Hafen. Es ist Mittag und Touristenebbe. Unten im sichelförmigen Hafenbecken liegt der Anlegesteg der Fähren verwaist. Die mir verbotene Zone.
Daneben dümpeln ausgeblichene Fischerboote, auch das von Jerome, das ich nicht betreten kann, da der ganze Hafen für mich unerreichbar bleibt. Ein jedes Boot tanzt seinen eigenen Rhythmus, schüttelt die seitlichen Netze wie lose Zöpfe, um das gleißenden Sommerlicht einzufangen, doch das Glitzern schlüpft immer wieder durch die Maschen. Mit zusammen gekniffenen Augen verschwimmen die Farbkleckse mit den Sonnenreflexionen auf dem Wasser, laufen ineinander und werden eins. Manches Mal, wenn ich blinzele, verschwindet der Hafen und ich peile mit einem Aussichtsfernrohr über die Kante auf ein leeres Meer. Ganz hinten im Dunst lässt sich das Festland ausmachen, ein geschwungener Kohlestrich, der in der Luft hängt. Was hilft es, ich kann nicht über Wasser gehen.
»Fick dich, Jerome«, sage ich leise und gehe. Obwohl er Meter entfernt steht, lacht er mir hinterher und wir beide wissen, er wird es mir nicht übelnehmen, weil das nicht geht, weil wir uns schon sehr bald wiedersehen werden.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich schon hier bin, wann ich das erste Mal einen Fuß auf dieses Eiland gesetzt habe, das mich seitdem an sich saugt wie ein Magnet. Regelmäßig sendet der Funkturm seine Signale. Wenn er aus dem Takt gerät und stolpert, pocht der Schmerz in meiner linken Hand, Stunden und Tage zerfließen danach zu einem buttrigen Sonnenbrei, die Zeit dehnt sich aus, als ob sie mir keinen eigenen Raum geben will.
Seit dem ersten Tag schmeichelt die Insel mir mit berauschendem Meer und unfassbarem Licht, erfreut mich mit gutem Essen und dem Gezwitscher aus hundert Fenstern. Doch ebenso erstickt mich die Schwere der alten Mauern, die rauschende Einsamkeit der schwarzen Nächte und das konstante Signal vom Funkturm.
Der einzige Ort, wo ich dem Signal entkommen kann, ist die graue Kirche, errichtet mit dem, was der stillgelegte Steinbruch auf dem Weg zur Inselmitte einst hergegeben hat. Sie ist älter als die älteste Zeder der Insel und meine Zuflucht.
Die Insel spricht mit mir in einer rauen, herben Sprache, die nicht meine Muttersprache ist und doch ahne ich, was sie sagt. Dass ich sie nicht verlassen soll, weil es mir doch gut ergeht, dort wo ich bin, und ob denn das, was mich dort erwartet, wo ich hingehen will, tatsächlich besser sei?
Was ich spüre, ist eine Sehnsucht nach meinem alten Leben, eine seelische Unterernährung, ohne dass ich mich daran erinnern könnte, wie es dort war, wo ich vorher war. In meinem Kopf versammeln sich lauter blinde Flecken, als hätte die Insel mich als Ganzes verschluckt und als Wesen ohne Erinnerungen wieder ausgespuckt. An manchen Tagen fühle ich mich auf die Insel geworfen wie ein Neugeborenes, sorglos und dumm, gebettet in dickflüssige Tage eines ewigen Sommers. Würde sich das ändern, wenn ich Festland betrete? Wie soll ich jemals dorthin gelangen?
Die Insel weiß jeden meiner Schritte, noch bevor ich selbst den Gedanken dazu gefasst habe. Knurrt mein Magen, höre ich das Klappern von Besteck und das Schnattern an Tischen, deren Bretter von Tellern voller Köstlichkeiten verdeckt werden. Die Menschen an den Tischen sind jedes Mal neu, doch ein freundlicher Platz ist für mich immer frei.
Halte ich mir die Ohren zu, weil ich das Signal und das metallische Surren nicht mehr ertrage, öffnet sich hinter der nächsten Hausecke der Kirchplatz. Schon im Schatten der Turmspitze wird es ruhiger, aus dem großen Portal strömt Weihrauch und Frieden. Für einen kleinen Moment bin ich der Insel und dem verrückten Erbsenzähler dafür dankbar.
Werden meine Schritte schwer, führt mich mein Weg aus der Stadt hinaus auf einen Hügel, ich schaue aufs Meer, das Gesicht im Wind, Salbeiduft und Salz in der Lunge. Strengt mich die Hitze an, führt sie mich zu einem duftenden Hain voller Zitronen und Orangen, in deren Halbschatten ich zur Besinnung komme.
Und ja, wenn ich ein blaues Kleid mit rehbraunen Jakobsmuscheln sehe, denke ich an Mona und stehe vor dem Tor. Nach drei Stufen hinunter zum Bassin sind wir wieder alleine, sie klopft auf den Platz neben sich. Wieder und wieder, Tag für Tag aufs Neue – bis ich mich irgendwann setzte, meine Sandalen ausziehe und mit ihr um die Wette trampele. Wie erwartet prickelt das Aufsteigen der Luftbläschen an meinen Beinen, doch der Rest schmerzt, weil über dem ganzen blinden Fleck namens Erinnerung eine unverrückbare Gewissheit steht: Es ist nicht wahr! Und weil es nicht wahr ist, kann es auch nicht bleiben. In Wahrheit ist Mona tot, das Bassin mit dem Lebenswasser eine wässrige Lüge, das kann ich jetzt sehen und wenn es das Einzige ist.
Außer Mona ist Jerome der einzige Mensch auf der Insel, der jeden Tag aufs Neue erscheint. Niemanden sonst erkenne ich wieder, niemand sonst ist halbwegs real, nur Jerome, der Fischer und Botschafter der Stadt, geformt aus dreckiger Inselerde, mein ungefragter Begleiter.
Was Jerome als kleine Sünde bezeichnet, ist maßlos übertrieben und belanglos: Damit ist mein Sprung hinunter zum Hafen gemeint. Genauer gesagt habe ich mich von der Balustrade fallen gelassen, in der irren Hoffnung, mich mit gebrochenen Beinen auf eines der Touristenboote zu schleppen. Dieses einzige Mal war ich schneller als mein Aufpasser, weil ich es einfach getan habe, ohne groß darüber nachzudenken.
Überrascht wie er war, hat er zwar versäumt, den Fall zu verhindern – dennoch ist es kein Wunder, dass ich nie auf dem Boden des Hafens landete, sondern mich auf dem Bistrostuhl sitzend wiederfand, wo ich mich immer wiederfinde an einem Tisch mit Jerome und seinem Spott. Jetzt bin ich sicher, die Insel wird mich niemals gehen lassen!
Jerome grinst mich an und hebt den Daumen. »Jetzt hast du's.«
Sie zwingt mich zu einem Umweg, den ich nicht zu laut denken darf, den ich im Leerlauf gehen muss als wandelnder blinder Fleck, sonst kommt die Insel mir zuvor.
Sonntag. Ich schaue auf die Kirchturmuhr, acht vor elf. Die Pflastersteine sind dunkel vor Feuchtigkeit. Salz und schwarzer Sand knirscht unter meinen Sandalen. Aus dem Gewirr an grünen Türen, geschlossenen Fensterläden und dem ewig südlichen Mauerocker schält sich die Fabrik. Der Schriftzug auf dem schmalen Giebel ist lange verblichen, darüber eine offene Luke mit steil ausgestelltem Flaschenzug ohne Seil. Müll und gestapelte Paletten wachsen auf der Rückseite die Wände hoch, wie ein Panzer, der sich mit der Zeit über die Fabrik stülpen will. Ich steige über den kniehohen Draht und die letzten Gräser vor dem Meer und wende mich zur Schattenseite. Der salzige Geruch gewinnt an Schärfe. Meine Gedanken sind leer, kein Grund meine Schritte zu lenken.
In das Geländer hat der Rost ein Loch gefressen, das von zwei Wespen bewacht wird, die nervös mit den Flügeln schlagen, weil ich mit meiner Hand über den Rost gestrichen bin. Ihr Summen ähnelt dem Grundgeräusch, das ich fortwährend höre. Vorsichtig schlage ich einen Bogen und gehe weiter auf die Landzunge hinaus.
Dennoch spüre ich den Stich auf meiner Hand, dort wo das Leben in mich hineinläuft.
Der Funkturm meldet sich mit ersten stolpernden Signalen, doch bevor sie die bekannte Wirkung entfalten können, schlägt die Glocke im Kirchturm, übertönt das Signal soweit, dass sich das Gefühl der Betäubung nicht einstellt.
Ich sehe Jerome vor mir, er raucht im Schatten der Fabrik, sein rechter Fuß ist an die Wand gelehnt. »Du bist noch nicht dran«, sagt er und lässt die Turbine zwischen den Zähnen glühen.
»Ja, ich weiß …«, sage ich, zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht und ziehe langsam meinen Blick von ihm weg. Kein Widerspruch. Mein Kopf ist leer, weiche Gedankenlosigkeit, deshalb lässt er mich gehen. Endlich lasse ich ihn hinter mir, das Signal verebbt und das Läuten, ebenso das Grundrauschen und der Schmerz auf meinem Handrücken lässt nach.
Erste Möwen steigen in die Luft, je weiter ich gehe, desto größer wird ihre Zahl. Ich kann nicht sagen, ob das, was meine Ohren betäubt, Schreien oder Lachen ist.
Ich schließe die Augen, setzte Schritt vor Schritt, weiter und weiter, breite die Arme aus und spreize die Finger, mehr habe ich nicht dabei. Zuerst höre ich das Flattern. Als sie anfliegen, zieht wilde Luft an meinem Gesicht vorbei, erste Krallen greifen zu mit spitzen Schmerzen, ich heiße sie willkommen. Mehr und mehr greifen in meine Arme, knabbern an Fingern und Ohren, ziehen Furchen durch mein Haar. Sie stimmen ein in den vielstimmigen Gesang, bevor sie mich in die Lüfte heben, ein weißgrauer Ballon mit zerfasernder Hülle aus streichelnden Federn, gelben Augen und Schweben.
»Zurück …«, flüstere ich, »... nur zurück« und schlage seit einer Ewigkeit die Augen auf.

