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Die Insel

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04.03.2018
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Die Insel

HF: 73bpm, AF: 18/min, MAD: 68mm Hg, SpO₂: 93%, Temp: 36,2°
Midazolam 7,5mg, Fentanyl 10mg.

Heute könnte der perfekte Sommertag sein, wenn Jerome nicht wäre. Über die Tasse in meiner Hand schaue ich zu ihm hinüber, sehe ihm dabei zu, wie er den Rest Wermut in seinen Hals kippt. Mit lautem Klacken stellt er das Glas in die Lache, die seine vorherigen Drinks auf der Marmorplatte hinterlassen haben. Es ist immer dieselbe Stelle.
»Weißt du, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.« Er wischt mit dem Handrücken über das Kinn. Dann zeigt er auf meine Hose.
Die Möwe segelt über den ausgetrockneten Springbrunnen, ihr Schatten streift helle Hüte und luftige Sommerkleider, verschwindet Richtung Meer. Weiter draußen jenseits der Hafenmole dreht sie nach Osten zu den Sandbänken, die der Küste vorgelagert sind. Dort auf der mit Quadern befestigten Landzunge steht eine ehemalige Sardinenfabrik. Eine große Möwenkolonie hat sich einst dort angesiedelt, die von den Abfällen lebte. Heute beschränken sie sich aufs Hocken, auf dem Geländer direkt an der Rückseite der Fabrik, dicht an dicht, aufgereiht wie eine Perlenkette mit Federn. Niemand ist mehr dort, der sie vertreiben könnte und so sind sie geblieben.
Die neue, nützliche Plage sind Tagesgäste, von kleinen bis mittleren Fähren an Land gespült. Sie drücken sich die geschwungenen Treppen vom Hafen zum Marktplatz empor, fluten die traditionellen Läden in den nahen Gassen der Stadt und landen bei einem Cappuccino im bestuhlten Halbschatten unter den Markisen. Wie die Gezeiten schwemmen sie von den Booten in die Stadt und wieder hinaus aufs Meer. Ihr Gemurmel ist ein pulsierender Fluss, schlägt einen ähnlichen Takt wie der rhythmische Signalton vom Funkturm, der aus der Inselmitte ragt.
Ich höre Schritte, die sich nähern, dennoch ist niemand zu sehen. Eine Folge von Tönen löst sich aus dem Takt, die Touristen scheinen es nicht wahrzunehmen, sie verfüttern weiter Essensreste an Möwen.
Doch ich weiß, was nun folgt, weil es das immer tut. In meiner linken Hand zieht es kalt und der Tag löst sich auf in warmer buttriger Sonne.

Als ich aufwache, ist es Nacht und nachts ist die Insel beinahe tot. Dieselgeneratoren tuckern zahm vor sich hin, die Straßen gehören den Katzen, durch die schrägen Lamellen der geschlossene Läden schlüpfen warme Lichtstreifen, meine Schritte hallen von kahlen Mauern zurück. Wie endlose Würmer ziehen sich die schwarzen Lücken zwischen den Häusern die Hänge hoch, verkräuseln sich jenseits der Gärten mit ersten Ausläufern des Waldes.
Unten im Hafen knarzen die Leinen und Fender der Boote, wenn das Meer sie aneinanderreibt. Ich weiß das nur, hören kann ich sie hier oben nicht und zum Hafen darf ich nicht gehen, auch nicht in der Nacht.
Kalt ziehen Winde durch die Gassen, ein jeder von ihnen besitzt eine eigene Flüsterstimme. Sie verflechten sich zu einem Bündel, zu einem pulsierenden Strom, der ein Grundrauschen erzeugt. Wenn ich mich konzentriere, höre ich dahinter ein Ziehen und Klacken wie von einem Blasebalg, gleichmäßig und leise. Es hypnotisiert mich wie ein auf Zeitlupe eingestelltes Metronom, bis ich erneut wegdämmere.

Jerome steht die Sonne im Rücken, ich sitze wieder auf dem Stuhl. Als ich zu ihm hinüberschaue, muss ich mit den Lidern blinzeln. Warum sind meine Augen so empfindlich und wo ist meine Sonnenbrille? Der Zigarrenschneider liegt vor ihm auf dem Tisch. Trotzdem beißt er die Kappe ab, spuckt sie zur Seite und ein paar braune Reste hinterher. Übelkeit kriecht meinen Hals hoch. Ich setze die Tasse ab und zupfe eine Serviette aus dem Spender.
»Scheiß auf Sünde, scheiß auf deinen Gott«, sage ich. Was für ein Gott soll das sein, der Kleinigkeiten bestraft und großes Elend gleichgültig geschehen lässt? Ein der Welt entrückter Erbsenzähler?
Die Serviette lege ich doppelt über den Möwenkot auf meiner Shorts. Jerome lacht. Köpfe drehen sich zu uns. Unter Sommerhüten hinweg werde ich beobachtet. Mit spitzen Fingern drücke ich die Serviette zusammen. Was auf der Hose bleibt, stinkt bestialisch. Ich spreize das Bein weit ab und hoffe, dass der Fleck in der Sonne schnell trocknet. Die Serviette werfe ich unter den Tisch, wo Jeromes ölverschmierte Flip-Flops stehen.
Auf seinem ausgefransten Poloshirt zeichnet sich ein weißer Schweißrand ab. Eine zerbrechliche Kette aus Salzkristallen, die wie ein Collier unter seinem filzigen grauen Bart liegt. Seine fleischigen Füße hat er ins gusseiserne Tischgestell gedrückt. Die schmutzigen Zehen wachsen wie Früchte aus den rostigen Blattornamenten. Violette Trauben mit rissiger Haut und gelben Rändern.
Ich schiebe die Tasse zur Seite, kann nicht trinken, nicht mit dem Gestank in der Nase und den Bildern vor Augen. Der Kellner lässt seinen Blick über die Köpfe schweifen, ich hebe die Hand, reibe Daumen und Zeigefinger aneinander. Wie jeden Tag ignoriert er mich, schaut durch mich hindurch als wäre ich Luft.
Ich stehe auf und taste die Taschen meiner Shorts ab, weder Portemonnaie noch Schlüssel sind darin, wo bin ich nur in Gedanken?
»Du solltest zum Hotel gehen und dich frischmachen«, sagt Jerome. Er ist ebenfalls aufgestanden, steht vor mir, ich kann über ihn drüber spucken, so klein ist er. Mit ausgestreckten Armen will er mir den Weg zeigen oder will er mich aufhalten? Und dann begeht er einen Fehler.
»Wenn du alles befolgst, wirst du Mona wiedersehen.« Das hätte er nicht sagen sollen, denn jetzt geht an uns eine Frau vorbei, die das gleiche Sommerkleid trägt, das Mona an jenem Tag trug, Himmelblau, darauf verteilt weiße Jakobsmuscheln.

Es trägt mich fort, die Insel bringt mich vor das schmiedeeiserne Tor, das ich kenne, weil ich jeden verdammten Tag hier bin. Zu der warmen Quelle geht es drei Felsstufen hinunter. Eine Terrasse wurde in den Stein gehauen, das Wasser speist ein niedriges gemauertes Bassin. Wo es überläuft, ist wulstiger Kalk aufgewachsen. Wie aufgereiht steigen kleine Luftbläschen empor, es riecht scharf, erinnert an Klinik. Wir sind allein.
Mona setzt sich auf den Rand, schüttelt die Sandalen ab und schwingt die Füße ins Wasser, lacht. Sie klopft mit der Hand auf die Mauer. »Komm!«
Ich schüttele den Kopf und habe damit nicht nur nein gesagt zu dieser einen Einladung, ich habe viel zu oft verneint und noch öfter habe ich das bedauert.
»Du hast es so gewollt, auch das war deine Entscheidung«, sagt Jerome. Ich stehe wieder vor ihm, taste mit der Hand über mein Bein, die Hose ist sauber. Die Ortswechsel laugen mich aus, mein Verstand folgt mit Verzögerung, es entsteht eine Art Jetlag.
Jerome saugt an seiner Zigarre, bis die Spitze aufglüht wie eine feurige Turbine. Er steht zwischen mir und dem Hafen. Ich sehe die Wachsamkeit in seinen Augen, er ist auf dem Sprung.
Mittagshitze kriecht von den Dächern der Stadt herunter, bringt auf ihrem Weg durch die verwinkelten Gassen den Geruch von Pinien, Wildkräutern und alten Steinen mit.
Ich drücke mich an Jerome vorbei, gehe zur grauen Balustrade und schaue hinab in den Hafen. Zwölf Uhr dreißig und Touristenebbe, wegen Gezeiten und der Hitze. Unten im sichelförmigen Hafenbecken liegt der Anlegesteg der Fähren verwaist.
Daneben dümpeln ausgeblichene Fischerboote, vermutlich auch das von Jerome, das für mich ebenso unerreichbar bleibt, wie alle anderen. Ein jedes Boot tanzt seinen eigenen Rhythmus, schüttelt die seitlichen Netze wie lose Zöpfe, um das gleißende Sommerlicht einzufangen, doch das Glitzern schlüpft immer wieder durch die Maschen und blendet mich. Mit halb geöffneten Augen verschwimmen die Farbkleckse mit den Sonnenreflexionen auf dem Wasser, laufen ineinander und werden eins in der verbotenen Zone.
Manches Mal, wenn ich blinzele, verschwindet der Hafen und mit dem Aussichtsfernrohr peile ich über die Kante auf ein leeres Meer. Ganz hinten im Dunst lässt sich das Festland ausmachen, ein geschwungener Kohlestrich, der in der Luft hängt. Was hilft es, ich kann nicht übers Wasser gehen.
»Fick dich, Jerome«, sage ich leise und gehe. Obwohl er Meter entfernt steht, lacht er mir hinterher und wir beide wissen, er wird es mir nicht übelnehmen, weil das nicht geht, weil wir uns schon sehr bald wiedersehen werden.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich schon hier bin, wann ich das erste Mal einen Fuß auf dieses Eiland gesetzt habe, das mich seitdem an sich saugt wie ein Magnet. Regelmäßig sendet der Funkturm seine Signale. Wenn er aus dem Takt gerät und stolpert, pocht der Schmerz in meiner linken Hand, Stunden und Tage zerfließen danach zu einem buttrigen Sommerbrei, die Zeit dehnt sich aus, als ob sie mir keinen eigenen Raum geben will.
Seit dem ersten Tag schmeichelt mir die Insel mit Meeresrausch und unfassbarem Licht, erfreut mich mit Delikatessen und dem Gezwitscher aus hundert Fenstern. Doch ebenso erstickt mich die Schwere der Mauerfeste, die schwarze Einsamkeit der Nächte und das konstante Signal vom Funkturm.

Der einzige Ort, wo ich dem Signal entkommen kann, ist die graue Kirche, errichtet mit dem, was der stillgelegte Steinbruch auf dem Weg zur Inselmitte einst hergegeben hat. Sie ist älter als die älteste Zeder der Insel und meine Zuflucht.
Die Insel spricht mit mir in einer rauen, herben Sprache, die nicht meine Muttersprache ist, und doch ahne ich, was sie sagt. Dass ich sie nicht verlassen soll, weil es mir doch gut ergeht, dort wo ich bin, und ob denn das, was mich dort erwartet, wo ich hingehen will, tatsächlich besser sei?
Was ich spüre, ist eine Sehnsucht nach meinem alten Leben, eine seelische Unterernährung, ohne dass ich mich daran erinnern könnte, wie es dort war, wo ich vorher war. In meinem Kopf versammeln sich lauter blinde Flecke, als hätte die Insel mich als Ganzes verschluckt und als Wesen ohne Erinnerungen wieder ausgespuckt.
An manchen Tagen fühle ich mich auf die Insel geworfen wie ein Neugeborenes, sorglos und dumm, gebettet in dickflüssige Tage eines ewig zu warmen Südens. Würde sich das ändern, wenn ich Festland betrete? Doch wie soll ich das jemals herausfinden?

Die Insel weiß um jeden meiner Schritte, noch bevor ich selbst den Gedanken dazu gefasst habe. Knurrt mein Magen, höre ich das Klappern von Besteck und das Schnattern an Tischen, deren Bretter von Tellern voller Köstlichkeiten verdeckt werden. Die Menschen an den Tischen sind jedes Mal neu, doch immer ist ein freundlicher Platz für mich frei.
Halte ich mir die Ohren zu, weil ich das Signal und das metallische Surren des Blasebalgs nicht mehr ertrage, öffnet sich hinter der nächsten Hausecke der Kirchplatz. Schon im Schatten der Turmspitze wird es ruhiger, aus dem großen Portal strömt Weihrauch und Frieden. Für einen kurzen Moment bin ich der Insel und dem verrückten Erbsenzähler dafür dankbar.
Werden meine Schritte schwer, führt mich mein Weg aus der Stadt hinaus auf einen der umliegenden Hügel, ich schaue aufs Meer, das Gesicht im Wind, Salbeiduft und Fenchel in der Lunge. Strengt mich die Hitze an, führt sie mich zu einem duftenden Hain voller Zitronen und Orangen, in deren Halbschatten ich zur Besinnung komme.
Und ja, wenn ich das himmelblaue Kleid mit den weißen Jakobsmuscheln vor mir sehe bin ich lost, ich denke an Mona und stehe wenig später vor dem Tor. Nach drei Stufen hinunter zum Bassin sind wir wieder alleine. Sie klopft auf den Platz neben sich, wieder und wieder, Tag für Tag – bis ich mich irgendwann setzte, meine Sandalen ausziehe und mit ihr um die Wette strampele. Wie erwartet prickelt das Aufsteigen der Luftbläschen an meinen Beinen, doch der Rest schmerzt, weil sich aus dem blinden Fleck namens Erinnerung eine unverrückbare Gewissheit schält: So ist es nie gewesen! Und weil es nicht wahr ist, kann es auch nicht bleiben. In Wahrheit ist Mona tot. Gestorben in einer Zeit vor dem großen Nebel. Das Bassin mit dem Lebenswasser bleibt eine schale, eine wässrige Lüge, das sehe ich jetzt klar und wenn es das Einzige ist.
Außer Mona ist Jerome der einzige Mensch auf der Insel, der jeden Tag aufs Neue erscheint. Niemanden sonst erkenne ich wieder, niemand sonst ist halbwegs greifbar, nur Jerome, Fischer und Patron der Stadt, geformt aus dreckiger Inselerde.

Was Jerome als kleine Sünde bezeichnet, ist maßlos übertrieben und belanglos: Damit ist mein Sprung hinunter zum Hafen gemeint. Genauer gesagt habe ich mich von der Balustrade hinabfallen lassen, in der irren Hoffnung, mich mit gebrochenen Beinen auf eines der Touristenboote zu schleppen.
Dieses einzige Mal war ich schneller als mein Aufpasser, weil ich es einfach getan habe, ohne groß darüber nachzudenken. Überrascht wie er war, hat er zwar versäumt, den Fall zu verhindern – dennoch ist es kein Wunder, dass ich nie auf dem Boden des Hafens aufgeschlagen bin, sondern mich auf dem Bistrostuhl sitzend wiederfand. Auf demselben Stuhl, auf dem ich mich immer wiederfinde, an einem Tisch mit Jerome und seinem Spott. Jetzt bin ich sicher, die Insel wird mich niemals gehen lassen!
Jerome grinst mich an und hebt den Daumen. »Jetzt hast du's.«

Sonntag. Ich schaue auf die Kirchturmuhr, acht vor elf. Die Pflastersteine sind dunkel vor Feuchtigkeit. Salz und schwarzer Sand knirscht unter meinen Sandalen. Aus dem Gewirr an grünen Türen, geschlossenen Fensterläden und dem ewig südlichen Mauerocker schält sich die Fabrik. Der Schriftzug auf dem schmalen Giebel ist lange verblichen, darüber eine offene Luke mit steil ausgestelltem Flaschenzug ohne Seil. Müll und gestapelte Paletten wachsen auf der Rückseite die Wände hoch, wie ein Panzer, der sich mit der Zeit über die Fabrik stülpt. Ich steige über den kniehohen Draht und die letzten Gräser vor dem Meer und wende mich zur Schattenseite. Der salzige Geruch gewinnt an Schärfe. Meine Gedanken sind leer, kein Grund, meine Schritte zu lenken.
In das Geländer hat der Rost ein Loch gefressen, das von zwei Wespen bewacht wird, die nervös mit den Flügeln schlagen, weil ich mit meiner Hand über den Rost gestrichen bin. Ihr Surren ähnelt dem Grundgeräusch, das ich fortwährend höre. Vorsichtig schlage ich einen Bogen und gehe weiter auf die Landzunge hinaus.
Dennoch spüre ich den Stich auf meiner Hand, dort wo das Leben kalt in mich hineinläuft. Der Funkturm meldet sich mit ersten holprigen Signalen, doch bevor sie die bekannte Wirkung entfalten können, schlägt die Glocke im Kirchturm, übertönt das Signal soweit, dass sich das Gefühl der Betäubung nicht einstellen kann.
Ich sehe Jerome vor mir, er raucht im Schatten der Fabrik, sein rechter Fuß ist an die Wand gelehnt. »Du bist noch nicht dran«, sagt er und lässt die Turbine zwischen den Zähnen glühen.
»Ja, ich weiß …«, sage ich, zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht und ziehe langsam meinen Blick von ihm weg. Kein Widerspruch! Mein Kopf ist leer, wattige Gedankenlosigkeit, deshalb lässt er mich gehen. Endlich lasse ich ihn hinter mir, das Signal verebbt wie das Läuten, ebenso das Grundrauschen, die Kälte auf meinem Handrücken lässt nach.
Erste Möwen steigen in die Luft, je weiter ich gehe, desto größer wird ihre Zahl. Ich kann nicht sagen, ob das, was meine Ohren betäubt, Schreien oder Lachen ist. Durch die Möwen hindurch sehe ich das Festland, ein kahler himmelblauer Hügel ohne Eigenleben, dafür mit weißen Flecken.
Ich schließe die Augen, setzte Schritt vor Schritt, weiter, nur weiter, breite die Arme aus und spreize die Finger, mehr habe ich nicht dabei. Zuerst höre ich das Flattern. Als sie anfliegen, zieht wilde Luft an meinem Gesicht vorbei, erste Krallen greifen zu mit spitzen Schmerzen, ich heiße sie willkommen. Mehr und mehr greifen in meine Arme, knabbern an Fingern und Ohren, ziehen Furchen durch mein Haar. Sie stimmen ein in den vielstimmigen Gesang, bevor sie mich in die Lüfte heben, ein weißgrauer Ballon mit zerfasernder Hülle aus streichelnden Federn, gelben Augen und Schweben.
»Zurück …«, flüstere ich, »... nur zurück« und schlage seit einer Ewigkeit die Augen auf.

 

Hej @linktofink

Zentral für mich ist der medizinische Auftakt des Textes. Die nüchterne Auflistung der Vitalparameter und die Medikation wirken wie ein klinisches Protokoll, das jede emotionale Einordnung zunächst verweigert. Die Nennung von Midazolam 7,5 mg und vor allem Fentanyl 10 mg setzt dabei ein unmissverständliches Signal. Diese Dosis markiert keinen leichten Dämmerschlaf, sondern einen Zustand akuter Grenzüberschreitung. Noch bevor die Insel sichtbar wird, ist klar, dass der Ort nicht realistisch, sondern existenziell betreten wird, als Raum zwischen Bewusstsein, Sedierung und Kontrollverlust.

Die hohe Fentanyl-Dosierung verleiht dem Text eine latente Todesnähe. Sie legt sich wie ein Schatten unter alles Folgende und färbt die scheinbar idyllischen Bilder nachträglich um. Das gleißende Licht, die Sommerhitze, das stetige Rauschen, die Möwen. Nichts davon ist unschuldig, alles wirkt übersteigert, verzerrt, narkotisch. Die Insel wird so selbst zum Wirkstoff, zu einer Droge, die bindet, beruhigt, verwirrt und gleichzeitig nicht mehr freigibt.
Vor diesem Hintergrund funktioniert Jerome besonders überzeugend als ambivalente Instanz: Aufseher, Inselgeist, Schuldenverwalter oder Projektion eines sedierten Bewusstseins. Seine ständige Präsenz entspricht der Unentrinnbarkeit des Zustands, den die Medikation zu Beginn bereits vorzeichnet. Der Text braucht keine explizite Erklärung. Die Wirkung ist körperlich spürbar.

Stilistisch tragen die wiederkehrenden Motive diese Lesart konsequent: der Funkturm als taktschlagendes Zentrum, das Grundrauschen wie ein mechanischer Blasebalg, die permanente Wiederkehr derselben Situationen. Zeit löst sich auf, Entscheidungen verlieren ihre Konsequenz, eben wie in einem Zustand tiefer Sedierung oder eines endlosen Aufwachens, das nie ganz gelingt.

Der Ort fällt aus dem Rahmen, weil er nicht mehr verlassen werden kann. Nicht einmaldurch physische Barrieren, sondern durch einen Zustand, der sich über Wahrnehmung, Körper und Erinnerung gelegt hat. Der starke medizinische Einstieg legitimiert diese Logik von Beginn an und macht sie erzählerisch glaubwürdig.

Insgesamt ein sehr dichter, konsequenter Beitrag, der den Challenge-Begriff nicht bebildert, sondern körperlich erfahrbar macht. Die Insel bleibt haften, ein bisschen wie ein Wirkstoff, der stärker dosiert ist als vorgesehen und dessen Wirkung nicht gleich nachlässt.

Paar Stellen:

HF: 73bpm, AF: 18/min, MAD: 68mm Hg, SpO₂: 93%, Temp: 36,2°
Midazolam 7,5mg, Fentanyl 10mg.
Die Fanta-Zombies findet man besonders in den US-Städten, sehr tragisch.

Kalt ziehen Winde durch die Gassen, ein jeder von ihnen besitzt eine eigene Flüsterstimme. Sie verflechten sich zu einem Bündel, zu einem pulsierenden Strom, der ein Grundrauschen erzeugt.
:Pfeif:


»Scheiß auf Sünde, scheiß auf deinen Gott«, sage ich. Was für ein Gott soll das sein, der Kleinigkeiten bestraft und großes Elend gleichgültig geschehen lässt? Ein der Welt entrückter Erbsenzähler?
aha, ok, nicht, dass ich der Aussage nicht zustimme, aber der Rekurs wirkt auf mich klischeehaft

Seit dem ersten Tag schmeichelt mir die Insel mit berauschendem Meer und unfassbarem Licht, erfreut mich mit gutem Essen und dem Gezwitscher aus hundert Fenstern.
hier stört mich die Anhäufung redundanter Adjektive (glaube, das habe ich schon mal bei einem deiner Text kommentiert)

Doch ebenso erstickt mich die Schwere der alten Mauern, die rauschende Einsamkeit der schwarzen Nächte und das konstante Signal vom Funkturm.
hier finde ich die Verwendung zwar besser aber doch in der Menge stilistisch nicht so schön
Zuerst höre ich das Flattern. Als sie anfliegen, zieht wilde Luft an meinem Gesicht vorbei, erste Krallen greifen zu mit spitzen Schmerzen, ich heiße sie willkommen. Mehr und mehr greifen in meine Arme, knabbern an Fingern und Ohren, ziehen Furchen durch mein Haar. Sie stimmen ein in den vielstimmigen Gesang, bevor sie mich in die Lüfte heben, ein weißgrauer Ballon mit zerfasernder Hülle aus streichelnden Federn, gelben Augen und Schweben.
»Zurück …«, flüstere ich, »... nur zurück« und schlage seit einer Ewigkeit die Augen auf.
Starkes Ende (siehe oben)

Danke für den Text!

Viele Grüße sendet und eine angenehme Zeit wünscht
Isegrims

 

Schönen dritten Advent, liebe @greenwitch und Danke dafür, dass du meinen Text kommentiert hast und dass du ihm etwas abgewinnen konntest.

Verwirrung! Aber es wird schon seinen Grund haben, also akzeptiere ich fürs Erste, keine ahnung zu haben, was mit der Hose los ist.
Gebe zu, das ist hintenrum durchs Knie geschrieben, passt aber zu seinem deliriösen Zustand, Denken in Fetzen, die sich zusammenfügen.
Niemand ist mehr dort, der sie vertreiben könnte und so sind sie geblieben.
Aber es gibt doch auch nichts mehr oder zumindest nicht genug zu fressen, das ist nur bedingt logisch.
Das ist schonmal angemerkt worden, ich hab da probeweise was zu reingenommen, die Touristen füttern sie, ich kau mal weiter.
Wie die Gezeiten schwemmen sie von den Booten in die Stadt und wieder hinaus aufs Meer. Ihr Gemurmel ist ein pulsierender Fluss, schlägt einen ähnlichen Takt wie der rhythmische Signalton vom Funkturm, der aus der Inselmitte ragt.
Auch richtig gut geschrieben! Wobei der Funkturm natürlich ein bisschen Grübeln verursacht!
Dabei hatte ich angenommen, dass das Signal vom Funkturm den stärksten Hinweis auf Apparatemedizin und ihre Geräusche darstellt. Das scheint so nicht zu sein.
Doch ich weiß, was nun folgt, weil es das immer tut. In meiner linken Hand zieht es kalt und der Tag löst sich auf in warmer buttriger Sonne.
Auch das hat sich erst beim zweiten Durchgang erschlossen. Finde ich aber gut so.
Beim Einstellen hatte ich Medikation und Werte noch nicht vorangestellt, da führte das zu großem Unverständnis. Gut als Rückmeldung für mich, dass es jetzt herausgelesen werden kann.
Und dann begeht er einen Fehler.
»Wenn du alles befolgst, wirst du Mona wiedersehen.« Das hätte er nicht sagen sollen, denn jetzt geht an uns eine Frau vorbei, die das gleiche Sommerkleid trägt, das Mona an jenem Tag trug, Himmelblau, darauf verteilt weiße Jakobsmuscheln.
Warum ist das ein Fehler? Hier bin ich bei der Version "und immer grüßt das Murmeltier" angekommen. Etwas löst das ja aus.
Ja das hat was vom Murmeltier, ewig die gleiche Situation erleben, bis ich einen Schritt weiterkomme. Weiß nicht ob das klar wird, dieses Ringen um Erinnerung, die Erkenntnis: "Das ist alles gar nicht wahr!", die eher intuitiv aufdämmert und die Folgerung daraus, die Insel zu verlassen, koste es, was es wolle.
Jetzt bin ich sicher, die Insel wird mich niemals gehen lassen!
Jerome grinst mich an und hebt den Daumen. »Jetzt hast du's.«
Beim ertsen Mal frage ich mich: Warum? Beim zweiten Mal, wer ist Jerome? Der Tod?
Jerome ist für mich ein Regulativ, der Bewacher und ausführende Arm der Insel, ich schreibe ja: Fischer und Patron der Stadt, geformt aus dreckiger Inselerde. Jemand, der die Fäden in der Hand hält, geschaffen und geformt von der Insel, einer der eindeutig für das Bleiben (Sicherheit) steht und das Fliehen (Aufwachen) verhindern möchte.
»Zurück …«, flüstere ich, »... nur zurück« und schlage seit einer Ewigkeit die Augen auf.
Ja, und hier macht es endlich Klick! Zurück ins Leben, wach aus dem Koma, den belastende Träumen nach einem "Unfall"?
Unfall lasse ich bewusst offen, auch wie Mona involviert ist, ob er mit ihr zusammen verunglückt ist, womöglich Schuld an ihrem Tod trägt, bleibt Leser*in überlassen.
Geschickt gemacht! Da sind wirklich Brotkrümel als Andockstationen, aber ich musste sie erst erkennen, meine Vorgefasste Meinung/Idee los lassen und Deinem Protagonisten beim Aufwachen folgen.
Gerne gelesen - ne! Ist echt hart, man ist voll drin, bangt, es ist bedrückend! Gut gemacht! Auf alle Fälle!
Keine einfache Lektüre, nix zum Weglesen, sehe ich auch so, was mich aber wirklich freut: dass es spürbar wird und was zum Klingen bringt. Das bedeutet mir viel.
Freue mich wie immer auf mehr von Dir.
Okaaay, werde sehen, was ich tun kann ... :D

Peace und stoch en drette Kääz an, l2f

 

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