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Die Inszenierung

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12.02.2004
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Die Inszenierung

Der Vorhang ist von einem tiefen und lichtschluckenden Schwarz und reicht von der Decke bis auf Augenhöhe der Zuschauer auf den untersten Rängen. Der Wortschwall im Raum flaut ab, sobald er sich in Bewegung setzt, erhebt sich aber bald darauf wieder zur selben Lautstärke wie zuvor.

„Können sie uns hören?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Aber wie der Vorhang sich bewegt, werden sie ja wohl sehen.“
„Ich glaube, sie sehen ihn, aber sie nehmen ihn nicht wahr. Sonst könnten sie sich kaum auf ihre Rollen konzentrieren.“

Dieser Wortwechsel erfolgt irgendwo im Zuschauerraum zwischen zwei Freunden. Der eine hat das Stück sechsmal gesehen. Der andere interessiert sich kaum für Kultur. Weil aber alle das Stück lieben, will er es auch sehen.
Es ist wichtig, sich darüber im klaren zu sein, dass sich alles was folgt in einer Atmosphäre großer Fremdartigkeit abspielt...

Endlich geht das Schauspiel los. Einige hundert Menschen bevölkern eine Szenerie von Häusern, Feldern, Hügeln und Wäldern mit einem kleinen Fluss und einem See mit Fischerbooten. Auf den Feldern ist die Ernte im Gange. Kühe grasen auf den Weiden.
Die Zuschauer können die Bewohner in den Häusern nicht sehen, außer sie benutzen eine Art Operngucker.

„Hat es schon angefangen?“
„Ja, aber zu den Verwicklungen kommst es erst später. Es sind die Unbehaarten, die aufrecht gehen. Der Regisseur nimmt sie gern, weil sie sich für dramatische Effekte eignen.“
„Sie sind niedlich.“

Während es noch 15 Jahre dauert, bis das Stück auf den ersten Höhepunkt zusteuert, wollen wir einen Blick auf den Autor werfen: Stellen wir uns eine künstlerische Entität mit langem Rauschebart und seltsamer Kleidung vor, die herausgefunden hat, dass es zu einer spannenden Handlung nur interessante Figuren und Konflikte braucht. Die Geschichte ergibt sich dann von selbst. Aber wohin führt sie?
In Interviews sagt der Autor, dass es genügt, das Geschehen den Figuren zu überlassen. Er, der Autor, muss nicht alles bestimmen. Er kann, metaphorisch gesprochen, im Publikum sitzen und Popcorn essen.

In einem anderen Teil derselben Realität herrscht folgende Situation:
In einer idyllischen Landschaft mit einigen Dörfern hat eine Handvoll Großgrundbesitzer das Sagen. Sie alle sind so veranlagt, dass sie nur mit der Tochter des einzigen Müllers in den Dörfern glücklich sein können. Der Müller hat auch einen Sohn. Alle Frauen der Großgrundbesitzer sind so veranlagt, dass sie nur mit dem Sohn des Müllers glücklich sein können...

„Ist das nicht weit hergeholt?“
„Das mag sein, aber die Handlung entwickelt sich jedes Mal prächtig.“

Dieses Mal gelingt es einem der Großgrundbesitzer, die Familie des Müllers in seine Gewalt zu bringen. Er hat seine Knechte mit Waffen eingedeckt, und nicht nur die Mühle, sondern ein ganzes Dorf besetzt. Ehe die Großbauern des Dorfes wissen, was passiert ist, hat er sie enteignet. Er wirbt noch mehr Knechte an, und bewaffnet sie. Weil es so leicht geht, lässt er seine Frau ermorden und heiratet die Müllerstochter. Er will auch den Sohn des Müllers ermorden lassen, aber der entgeht dem Anschlag.
In den folgenden Monaten schließen sich die anderen Großgrundbesitzer zusammen. Sie greifen überraschend an. Es gibt Krieg. Das Dorf geht in Flammen auf.

Das Publikum im Theater spendet gedämpft Beifall, während das Holz der Gebäude im Feuer knackt wie in einem offenen Kamin.

„Das ist nur eine Variante,“ sagt der Kenner des Stücks, „Manchmal sind sie alle zurückhaltend, und manchmal bringen sie die Müllerstochter gemeinsam um. Manchmal gelingt es einem, alle zu beherrschen. Gelegentlich gelingt das sogar dem Sohn des Müllers. Oft haben sie sich in kaum zehn Jahren alle gegenseitig umgebracht.“

Bei dieser Aufführung ist es die siegreiche Gruppe, die den Müller und seine Tochter ermorden lässt. Den Sohn erwischen sie nicht. Er lebt als Räuber in den Wäldern, bis sie ihn doch fangen, und er am Galgen endet.

Das Publikum klatscht auch bei der Galgenszene.

Der Neuling fragt: „Wie kann es sein, dass die Handlung jedesmal eine andere ist? Sind die Darsteller nicht genau dieselben? Gibt es Unterschiede in der Szenerie? Liegt es am Wetter, oder können sie uns doch sehen? Kann vielleicht der Regisseur unbemerkt in die Handlung eingreifen?“
Sein Freund antwortet: „Nichts davon. Die Darsteller sind exakte genetische Kopien ihrer Vorgänger. Die Tiere und Pflanzen genauso. Die Szenerie soll jedesmal exakt dieselbe sein. Das gelingt aber nicht vollständig, weil es zu aufwendig wäre. Chemisch gesehen ist nicht einmal die Luft bei einer Aufführung dieselbe wie bei einer anderen.
Wir wissen nicht, wie das kommt. Vielleicht liegt es an den Sonnenwinden, oder am Publikum, das sich verschiedene Szenen genauer ansieht, vielleicht an unseren Gedanken, vielleicht auch an etwas, von dem wir nichts wissen, oder an etwas, das sich unvorstellbar weit von hier abspielt...“

Sie folgen der Aufführung bis zum Ende, das offiziell erreicht ist, wenn die Familie des Müllers und alle Großgrundbesitzer tot sind. Die anderen Darsteller und ihre Nachkommen dürfen weiterleben, bis nach einem nach ihren Begriffen unvorstellbar langem Zeitraum die Vorbereitungen für die nächste Aufführung beginnen.

Träge, eine große Menge von Abfällen zurücklassend, entfernt sich das Publikum nach und nach aus dem Raum.

 

Hi Fritz,

interessante Geschichte.

Ich kann mir denken, was du mir als Leser sagen willst, doch lässt du meine Phantasie sehr im Stich. Du gibst mir, außer der Szene auf der "Bühne" keinen Ansatz, wie ich mir das Theater, die Leute und das Drum herum vorstellen soll.

Das hat mich etwas gestört.
Ungefähr so, wie mich dann der Schlusssatz verwirrt hat.
Ok, diese Wesen sitzen ziemlich lange im Theater, aber wenn sie für so etwas so lage Zeit haben, dann wird auch ihr Metabolismus, bzw. dann das ganze Theater anders aufgebaut sein.

Die Idee fand ich ja schon gut, aber irgendwie fehlt etwas. Vielleicht geht es jemand anderem auch noch so, der es aber in Worte fassen kann.

glg Hunter

 

Hallo Hunter,

danke für die schnelle Antwort! Du hast Recht: mehr Details an einigen Stellen würden die Geschichte leichter verständlich und lebendiger machen. Vielleicht komme ich ja mal dazu, an dieser Geschichte zu feilen, und einige Hinweise auf Determinismus, Chaostheorie, den Butterfly-Effekt u.dgl. unterzubringen ;)

glg zurück,

Fritz

 

Hallo Fritz,

... und wo bleibt die Relativitätstheorie? ;)

Ich hatte einen ähnlichen Eindruck wie Hunter: Interessante Idee, aber irgendwas fehlt. Vielleicht eine Art Handlung, Steigerung. Du beschreibst eine Art Status Quo, der interessant ist, aber sonst passiert weiter nichts. Darum ist die Geschichte zwar nicht schlecht zu lesen, aber die letzte Faszination fehlt.

Dass man über die Leute im Theater etc. nicht so viel erfährt, finde ich eigentlich okay. Was sollen wir Unbehaarten schon davon wissen ...? :)

Das Verwirrende und etwas Unbefriedigende liegt für mich eher in einem kleinen logischen Fehler der Geschichte: Man stellt sich die Zuschauer ja automatisch als eine Art "Menschen" vor, die in einer Art Zeit leben. Deine Geschichte legt das ja auch nahe. Diese Zuschauer sitzen also im Theater - wie lange hält das ein "Mensch" aus? Fünf Stunden? - und sehen eine Handlung, die sich über mindestens 10 Jahre erstreckt, von denen aber jeder Tag gezeigt wird (wie wir Unbehaarten wissen). Also sehen sie es im extremen Zeitraffer. Mehr als Lichtwechsel und huschende Schatten kann man so aber nicht wahrnehmen. Natürlich könnten deine Zuschauer eine Art Überwesen sein, die trotzdem irgendwie alles mitkriegen, aber das kann sich der Leser nicht vorstellen, nicht mehr gefühlsmäßig mitgehen. Der Effekt deiner Geschichte besteht ja gerade darin, dass du deine Zuschauer relativ menschenähnlich denken und agieren lässt.

Also müsstest du die Wesen genauer erklären und das Gewicht der Geschichte in ihre Richtung verschieben - ist aber eigentlich nicht dein Thema - oder du bleibst mit dem Ganzen stärker auf bekannter, menschlicher Ebene. Dann müsstest du vom Theaterstück weggehen und das ganze z.B. in eine Art Truman-Show umwandeln: Wird Tag und Nacht über Jahre hinweg in der Glotze gezeigt. Vielleicht werden ja Preise für die Zuschauer vergeben, die was Spektakuläres, z.B. einen Mord, mitkriegen und dann beim Sender anrufen ...

Jedenfalls wäre ich in dieser Welt gerne ein Autor, die haben ein schönes Leben! ;)

Viele Grüße
Pischa

 

Hallo DerGuteFritz,

nicht so sehr eine Geschichte, eher ein Sinnbild für die menschliche Existenz, oder? "Das göttliche Spiel" nach festgelegten Voraussetzungen, inklusive Naturgesetzen. Der Regisseur bringt das Spiel zum Laufen und die Zuschauer gucken, was passiert - aus reiner Unterhaltungslust heraus.

Die Frage ist nur: Wer sieht uns von oben zu? :schiel:

Fand ich ganz hübsch! :)


Lieben Gruß!

Dante, der determinierte Chaos-Effekt.

 

Pischa:
Natürlich müssen die Zuschauer in so einem Stück, das über 50 Jahre dauern kann, gelegentlich aufs Klo gehen ;)

 

Hier mal ein paar Verbesserungsvorschläge:
"ist von einem tiefen und lichtschluckenden Schwarz" - erstens würde ich "ist" vermeiden, zweitens muss es nach NR "Licht schluckenden" heißen (aber dafür lege ich nicht die Hand ins Feuer...)
"Der Wortschwall im Raum flaut ab, sobald er sich in Bewegung setzt" - "er" hat falschen Bezug. Einfach umdrehen: Sobald er sich in Bewegung setzt, flaut ...
"erhebt sich aber bald darauf wieder zur selben Lautstärke wie zuvor." - sich, aber, bald, darauf, wieder, zur, selben. Klingt irgendwie nicht gut, finde ich.
"Es ist wichtig, sich darüber im klaren zu sein, dass sich alles was folgt in einer Atmosphäre großer Fremdartigkeit abspielt..." Das finde ich nun wirklich schlimm. Es Deine Aufgabe als Autor, mir als Leser diese Atmosphäre zu vermitteln. Du kannst nicht einfach sagen: Los, stell dir irgendwas vor. Show, don't tell!
"In einem anderen Teil derselben Realität herrscht folgende Situation:" - völlig überflüssiger Satz.
Insgesamt ist die Idee definitiv fruchtbar. Aber die Umsetzung wirkt doch stark konstruiert, bleibt ziemlich blass und undeutlich. Du schreibst einfach zu allgemein, zu unspezifisch, zu wenig konkret. Du erklärst zuviel. Der Dialog zwischen einem Experten und einem Unwissenden ist der einfache, platte Weg. Du bist der Experte, der Leser ist der Unwissende. Also auch in diesem Dialog erklärst Du. Mehr gibt er nicht her. Man könnte sagen: Du hattest eine gute Idee, die Du jetzt uns Lesern erklärst. Du hast aber keine richtige Geschichte draus gemacht.

:cool:

 

Hallo Uwe,

Du schreibst:
"Aber die Umsetzung wirkt doch stark konstruiert, bleibt ziemlich blass und undeutlich. Du schreibst einfach zu allgemein, zu unspezifisch, zu wenig konkret"

Darin gebe ich Dir Recht - und verspreche wieder einmal, eine Geschichte zu überarbeiten, wenn ich mal Zeit habe.

Du schreibst auch:
""In einem anderen Teil derselben Realität herrscht folgende Situation:" - völlig überflüssiger Satz."

Hier bin ich anderer Meinung: Der Satz ist wichtig. Der fällt vielleicht auf, dass ich das Wort "ist" verwendet habe ;)

Ich gebe zu, dass der Satz "Der Wortschwall im Raum flaut ab,....(usw.)" besser strukturiert sein könnte.

Ich gebe außerdem zu, dass die Geschichte zu abstrakt und abgehoben wirkt, um mehr als ein Gedankenspiel zu sein. Show, don't tell würde, denke ich, in diesem Fall nicht funktionieren. Ich tendiere mehr zu einigen guten Metaphern, und verspreche gleichzeitig,... (usw.)

Was ist eine richtige Geschichte? Leute, die zu viele Binsenweisheiten verwenden, werden leicht dogmatisch.

Coole Grüße zurück,

Fritz

 

Hi Fritz,

dogmatisch sollte man wirklich nicht werden. Lass es mich mal so ausdrücken: Deine Idee ist gut, aber ich halte es für schwierig, daraus eine geile Geschichte zu machen. Einfach wegen der Fragen, die Du nicht beantworten kannst, die der Leser sich aber unweigerlich stellt. Vielleicht würde eine in gewissem Maße surreale Darstellungsweise dieses Dilemma lösen. Keine Ahnung. Schwierig!

 

Hi Uwe,

wir sind ohnehin einer Meinung. Das ganze Leben ist schwierig :)
Vielleicht wird ja mal ein kleiner Borges aus mir.

 

Hallo Fritz

Das ist doch ganz klar das Thema "Zeitdilatation". Bestes Beispiel: man sitzt in einer Wagner Oper, die Vorstellung fängt um...sagen wir 19:00 Uhr an. Drei Stunden Später schaut man auf die Uhr und es ist 19:15 Uhr. :D

Mal im Ernst: ein interessanter Gedankengang, den du da hattest. Aber es tendiert wohl etwas mehr nach Philosophie als nach Sci-Fi, obwohl du hier in gewisser Weise mit der Zeit spielst. Eine etwas schlüssigere Handlung wäre vielleicht angebracht gewesen, wenigstens eine Erklärung, durch welche geheimnisvollen Mechanismen das Theaterstück in der Form überhaupt funktionieren kann. Das es alles nur ein Hologramm ist wäre wohl die einfachste, aber auch die am wenigsten befriedigende Variante gewesen ;)

mfg
Prozac

 

Hallo Prozac,

die "Wirklichkeit" dieses Textes ist etwas noch viel einfacheres als ein Hologramm: ein Text ;) "Nur ein Hologramm" trifft eher auf unsere eigene Welt zu - was manchmal etwas tröstliches hat. Danke fürs Reinschauen!

 

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