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Die Inszenierung
Der Vorhang ist von einem tiefen und lichtschluckenden Schwarz und reicht von der Decke bis auf Augenhöhe der Zuschauer auf den untersten Rängen. Der Wortschwall im Raum flaut ab, sobald er sich in Bewegung setzt, erhebt sich aber bald darauf wieder zur selben Lautstärke wie zuvor.
„Können sie uns hören?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Aber wie der Vorhang sich bewegt, werden sie ja wohl sehen.“
„Ich glaube, sie sehen ihn, aber sie nehmen ihn nicht wahr. Sonst könnten sie sich kaum auf ihre Rollen konzentrieren.“
Dieser Wortwechsel erfolgt irgendwo im Zuschauerraum zwischen zwei Freunden. Der eine hat das Stück sechsmal gesehen. Der andere interessiert sich kaum für Kultur. Weil aber alle das Stück lieben, will er es auch sehen.
Es ist wichtig, sich darüber im klaren zu sein, dass sich alles was folgt in einer Atmosphäre großer Fremdartigkeit abspielt...
Endlich geht das Schauspiel los. Einige hundert Menschen bevölkern eine Szenerie von Häusern, Feldern, Hügeln und Wäldern mit einem kleinen Fluss und einem See mit Fischerbooten. Auf den Feldern ist die Ernte im Gange. Kühe grasen auf den Weiden.
Die Zuschauer können die Bewohner in den Häusern nicht sehen, außer sie benutzen eine Art Operngucker.
„Hat es schon angefangen?“
„Ja, aber zu den Verwicklungen kommst es erst später. Es sind die Unbehaarten, die aufrecht gehen. Der Regisseur nimmt sie gern, weil sie sich für dramatische Effekte eignen.“
„Sie sind niedlich.“
Während es noch 15 Jahre dauert, bis das Stück auf den ersten Höhepunkt zusteuert, wollen wir einen Blick auf den Autor werfen: Stellen wir uns eine künstlerische Entität mit langem Rauschebart und seltsamer Kleidung vor, die herausgefunden hat, dass es zu einer spannenden Handlung nur interessante Figuren und Konflikte braucht. Die Geschichte ergibt sich dann von selbst. Aber wohin führt sie?
In Interviews sagt der Autor, dass es genügt, das Geschehen den Figuren zu überlassen. Er, der Autor, muss nicht alles bestimmen. Er kann, metaphorisch gesprochen, im Publikum sitzen und Popcorn essen.
In einem anderen Teil derselben Realität herrscht folgende Situation:
In einer idyllischen Landschaft mit einigen Dörfern hat eine Handvoll Großgrundbesitzer das Sagen. Sie alle sind so veranlagt, dass sie nur mit der Tochter des einzigen Müllers in den Dörfern glücklich sein können. Der Müller hat auch einen Sohn. Alle Frauen der Großgrundbesitzer sind so veranlagt, dass sie nur mit dem Sohn des Müllers glücklich sein können...
„Ist das nicht weit hergeholt?“
„Das mag sein, aber die Handlung entwickelt sich jedes Mal prächtig.“
Dieses Mal gelingt es einem der Großgrundbesitzer, die Familie des Müllers in seine Gewalt zu bringen. Er hat seine Knechte mit Waffen eingedeckt, und nicht nur die Mühle, sondern ein ganzes Dorf besetzt. Ehe die Großbauern des Dorfes wissen, was passiert ist, hat er sie enteignet. Er wirbt noch mehr Knechte an, und bewaffnet sie. Weil es so leicht geht, lässt er seine Frau ermorden und heiratet die Müllerstochter. Er will auch den Sohn des Müllers ermorden lassen, aber der entgeht dem Anschlag.
In den folgenden Monaten schließen sich die anderen Großgrundbesitzer zusammen. Sie greifen überraschend an. Es gibt Krieg. Das Dorf geht in Flammen auf.
Das Publikum im Theater spendet gedämpft Beifall, während das Holz der Gebäude im Feuer knackt wie in einem offenen Kamin.
„Das ist nur eine Variante,“ sagt der Kenner des Stücks, „Manchmal sind sie alle zurückhaltend, und manchmal bringen sie die Müllerstochter gemeinsam um. Manchmal gelingt es einem, alle zu beherrschen. Gelegentlich gelingt das sogar dem Sohn des Müllers. Oft haben sie sich in kaum zehn Jahren alle gegenseitig umgebracht.“
Bei dieser Aufführung ist es die siegreiche Gruppe, die den Müller und seine Tochter ermorden lässt. Den Sohn erwischen sie nicht. Er lebt als Räuber in den Wäldern, bis sie ihn doch fangen, und er am Galgen endet.
Das Publikum klatscht auch bei der Galgenszene.
Der Neuling fragt: „Wie kann es sein, dass die Handlung jedesmal eine andere ist? Sind die Darsteller nicht genau dieselben? Gibt es Unterschiede in der Szenerie? Liegt es am Wetter, oder können sie uns doch sehen? Kann vielleicht der Regisseur unbemerkt in die Handlung eingreifen?“
Sein Freund antwortet: „Nichts davon. Die Darsteller sind exakte genetische Kopien ihrer Vorgänger. Die Tiere und Pflanzen genauso. Die Szenerie soll jedesmal exakt dieselbe sein. Das gelingt aber nicht vollständig, weil es zu aufwendig wäre. Chemisch gesehen ist nicht einmal die Luft bei einer Aufführung dieselbe wie bei einer anderen.
Wir wissen nicht, wie das kommt. Vielleicht liegt es an den Sonnenwinden, oder am Publikum, das sich verschiedene Szenen genauer ansieht, vielleicht an unseren Gedanken, vielleicht auch an etwas, von dem wir nichts wissen, oder an etwas, das sich unvorstellbar weit von hier abspielt...“
Sie folgen der Aufführung bis zum Ende, das offiziell erreicht ist, wenn die Familie des Müllers und alle Großgrundbesitzer tot sind. Die anderen Darsteller und ihre Nachkommen dürfen weiterleben, bis nach einem nach ihren Begriffen unvorstellbar langem Zeitraum die Vorbereitungen für die nächste Aufführung beginnen.
Träge, eine große Menge von Abfällen zurücklassend, entfernt sich das Publikum nach und nach aus dem Raum.