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Die Kennerin
Die Kennerin
„Sehr geehrte Kunden, wir machen Sie heute auf unser besonderes Angebot aufmerksam: Beaujolais Primeur, nur 3.49 EUR!“ ertönte es aus dem Lautsprecher. Angelikas Zunge benetzte ihre Lippen. Beaujolais! Den hatte sie im Herbst immer besonders gern gekauft. Er war so leicht und süffig. Reiß dich zusammen, ermahnte sie ihre innere Stimme. Du willst doch deinen wochenlang hart erarbeiteten Erfolg, endlich „trocken“ zu sein, nicht wegen einer Werbedurchsage zunichte machen? Unkonzentriert nahm sie eine Packung Tee aus dem Regal und schob mit raschelndem Mischgeweberock den Wagen weiter in Richtung Käsetheke.
„Sie wünschen, die Dame?“ begrüßte sie die Verkäuferin freundlich. „Was können Sie mir denn heute empfehlen?“ fragte sie die Verkäuferin. „Oh, wir haben hier etwas ganz Delikates“, antwortete diese. „Einen Rohmilch-Ziegenkäse mit Kräutern der Provence.“ Prüfend betrachtete Angelika den Käse. „Probieren Sie mal“, forderte sie die Verkäuferin auf und reichte ihr ein Stück Käse über die Theke. Er zerging Angelika auf der Zunge. Köstlich! „Der passt auch hervorragend zu unserem Beaujolais Primeur aus der Werbung“, versuchte die Verkäuferin ihn anzupreisen. Angelika zuckte zurück. „Ach nein, danke, ich... ich nehme ein Stück Höhlenkäse und etwas Brie aus dem Angebot“, lehnte Angelika ab. Es wäre zu riskant gewesen, sich auf den Rohmilchkäse einzulassen. Mit Traubensaft oder Tee schmeckte der sicher nicht!
Mit leichten Schweißperlen auf der Stirn ging sie weiter, passierte die Knabberwaren-Abteilung, bog in einen Seitengang ab, wo sie an den Konserven vorbei kam. Schließlich disziplinierte sie sich und fuhr den nächsten Gang zurück, bis sie vor den Weinregalen zum Stehen kam. Hier wartete ihre Aufgabe dieser Woche auf sie, die ihr die Gruppe der Anonymen Alkoholiker auferlegt hatte: sich bewusst der Herausforderung zu stellen, nicht wie üblich in großem Bogen die Spirituosenabteilung zu meiden. Zunächst betrachtete sie Sekt und Champagner. Sie blieb ruhig. Langsam wanderte ihr Blick zu den deutschen Weißweinen, gefolgt von den Rosés. Es kribbelte sie. Dann war sie bei dem Höhepunkt ihrer Prüfung angelangt: sie stand vor den französischen und spanischen Rotweinen. Bei einem Entre-Deux-Mers blieb ihr Blick länger haften. Sie griff die Flasche aus dem Regal und setzte sich ihre Brille auf. „Chateau Montrabech“ stand darauf, ein guter Jahrgang, 2003. Er war sogar erschwinglich. Es zog in ihr alles zu diesem Wein hin. „Nein, beherrsch dich!“ rief die innere Stimme. Ihre Hand fing an zu zittern.
Sie wollte ihn gerade ins Regal zurück stellen, als ein jüngerer, gutaussehender Mann sie ansprach. „Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich Sie etwas fragen?“ ertönte seine wohlklingende Stimme. Sie drehte sich zu ihm um, fast wäre ihr die Weinflasche aus der Hand gefallen. „Ja bitte, worum geht es?“ stotterte sie und errötete leicht. Vor zwanzig Jahren hätte sie bestimmt versucht, mit ihm zu flirten. Aber nun war sie jenseits seiner Altersklasse, „Seniorin“. Oder einfach nur alt. Alt, ledig, kinderlos. Und eine vielleicht trockene Alkoholikerin. „Kennen Sie sich mit den französischen Rotweinen aus?“ fragte der Schöne weiter. „Ja, schon etwas“, gab sie zögernd zu. „Es ist nämlich so“, jetzt errötete der junge Mann, „ich möchte einer Frau eine besondere Überraschung machen. Ich werde sie nämlich bekochen, na, und zum Essen wollte ich ihren Geschmack mit einem guten Wein betören, sie liebt nämlich französische Rotweine. Aber ich kenne mich da gar nicht aus.“
Angelika schluckte. Ihr Speichel fing an zu arbeiten. „Hm, da müsste ich zunächst wissen – was kochen Sie denn? Fisch oder Fleisch, mit welchen Beilagen, welche Sauce?“ „Oh, Sie sind ja wohl wirklich eine Kennerin“, staunte ihr Gegenüber. Sie lächelte verlegen. Sie bemerkte, dass ihre Hände schwitzten. Vielleicht sogar zitterten? In ihrem Inneren tobte ein unsichtbarer Kampf. Schnell weg hier, du bist sonst in Gefahr, rückfällig zu werden, sagte die mahnende Stimme. Aber er ist doch so ein netter Mann, was ist schon dabei, du kannst ihm doch helfen mit deinem Fachwissen? Erklang unhörbar eine andere. Sie merkte, dass sie immer noch die Flasche fest hielt. Ein unbehaglicher Augenblick. Sie stellte sie weg.
„Ich werde Chateaubriand mit Kartoffelgratin und Fenchelgemüse in Roquefortsauce kochen“, antwortete ihr der Mann. „Wunderbar, ein richtig kräftiges Essen also“, erwiderte Angelika und griff zum Weinregal. „Da würde ich Ihnen diesen alten Burgunder empfehlen. Er kommt aus einem sehr guten Anbaugebiet. Sehr kräftige Basisnote, erdig im Abgang, einfach rund und voll.“ Prüfend hielt er sich die Flasche vor die Augen. „Oder“, sie war nun Feuer und Flamme, “Sie nehmen einen etwas leichteren Wein, wenn Sie sie nicht zu schnell „betören“ wollen, diesen Corbières hier“, und hielt ihm die zweite Flasche unter die Nase. „Ach, doch, sie soll schon etwas berauscht sein“, lachte er nun, „das kann meinem Ziel des Abends nur förderlich sein. Ich möchte ihr nämlich einen Antrag machen.“ Und verschwörerisch zwinkerte er Angelika zu. Ihr Herz raste, als hätte er ihr den Antrag gemacht. „Ich nehme den Burgunder. Vielen Dank für Ihre exzellente Beratung“, verabschiedete sich der junge Mann lächelnd. „Sie sind wirklich eine Kennerin“. Und mit der Flasche in seinem Wagen verschwand er hinter den Regalreihen.
Angelika stand zitternd da und schaute ihm nach. Ihr voller Busen unter der Seidenbluse hob und senkte sich heftig. Sie hatte wirklich eine Viertelstunde vor dem Weinregal verbracht und mit einem jungen Mann über Weine geredet! Ihr Blick riss sich vom Regal los. Nein, du wirst nicht rückfällig! ermahnte sie die Stimme. Los, geh jetzt zur Kasse und vergiss ganz schnell, was hier passiert ist! Klirrend stellte sie die zweite Flasche ins Regal zurück und schob resolut den Einkaufswagen in Richtung Kasse.
In der Schlange vor der Kasse musterte sie beiläufig die Süßigkeiten, die dort aufgereiht waren. Kleine Probierpackungen mit Schokonusskugeln, Kaugummis, Drops und Gummibärchen. Ihr Blick blieb haften an den Pralinen mit der Kirsche und dem Kirschschnaps. Sollte sie...? schoss es ihr durch den Kopf. Doch da hatte die Kassiererin schon ihre Waren eingescannt und sagte: „13,74, bitte“. Und Angelika öffnete ihre Handtasche und zog mit einem leisen Seufzer das Portemonnaie heraus.