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Die Kinderclique
Da waren sie wieder. Scheinbar ziellos umherwandernde Kinder-Cliquen, die sich durch die engen Gassen der Märkte in Benares schoben: Zwischen den Ständen mit blinkenden Spiegeln und gefärbten Stoffen, Kleidern aus Brokat oder Chinons oder Tischen mit den berühmten indischen Silberwaren, die sich abwechselten mit schimmernden Mondsteinen, tiefblauem Lapislazuli, dann Rubinen und Saphiren. Plötzlich verharrten die Streuner vor einem Essensstand, wo Speisen auf Bananenblättern und Fladenbrot- das Stimmengewirr übertönend- laut angepriesen wurde.
Das war im Herbst 1963. Damals gab es – außer ein paar Hippies – so gut wie keine Touristen. Aber da waren noch einige Engländer, Überbleibsel aus der Kolonialzeit, die sich gemäß ihrer Tradition reserviert verhielten. Hingegen war Peter kaum mehr von Einheimischen zu unterscheiden. Er war durch die Sonne dunkelbraun gebrannt, seine Haut durch den Wind regelrecht gegerbt. Seine Kleidung hatte er längst gegen Sarong und Benjen eingetauscht – ebenso wie die Hippies. Die hatten ihm von ihren schlechten Erfahrungen mit stehlenden Kinderhänden erzählt.
Peter begegneten die Kinder kurz nach einem Wolkenbruch. Sie schienen ihm in jener schmalen, vom Regen überschwemmten Gasse helfen zu wollen. Zuvor empfand er ihre Anhänglichkeit als Last. Was konnte er tun? Er hätte sie von sich stoßen müssen und sie damit die Härte ihres Daseins noch härter empfinden lassen. „Auf keinen Fall Zuneigung zeigen“, wurde Peter mehrmals gewarnt, von denen, die von den Kindern beklaut wurden.
Nun, sein Sarong hatte keine Taschen. Seinen gesamten Besitz hatte Peter bei Jesuiten hinterlegt. Dort im Schulungszimmer nicht weit von der Kirche durfte er auf einer der Bänke nächtigen. Peter hatte Interesse an der Lehre der Jesuiten gezeigt. So erfuhr er in den Gesprächen mit den Jesuiten, dass St. Ignatius, Lehrer und Gründer ihres Ordens, ähnlich wie Martin Luther, nicht auf eine bestimmte Lebensweise fixiert war. So gesehen heißt es jetzt anders als in der Bibel: „Nicht an ihren Werken sollst du sie erkennen, sondern an ihren Absichten.“ Darin waren beide Ordensgründer gleich. Aber im Gegensatz zu Martin Luther hatte St. Ignatius die Gotteserfahrung dem bloßem Gottesdienst bevorzugt. Als Wegweiser für den Orden des St. Ignatius gelten die „Exerzitien“. Daraus geht hervor, dass Gotteserfahrung nicht im wörtlichen Sinne gemeint ist, sondern als eine entmystifizierte Erkenntnis dessen, was ursprünglich - Jenseits von Gier, Hass und Verblendung – mit Gotteserfahrung gemeint ist. Auch darin sind sich beide Ordensgründer gleich, doch die Wege unterscheiden sich. Peter schien der meditative, kontemplative Weg mehr zu entsprechen. Als Verdeutlichung dieser für ihn neuen Sichtweise galt ihm das Erlebnis mit den Kindern. Also erzählte er einem der Jesuiten – einem jungen Spanier namens Fernando – seine Begegnung mit den Kindern.
Diese Begegnung begann mit einem kurzen, aber furchtbaren Wolkenbruch. Für Peter war es leicht in einem der Läden Unterschlupf zu finden. Aber nicht so für die streunenden Kinder. Die Streuner und Peter hatten gleichzeitig die stark abfallende Gasse betreten. Sie von oben. Er von unten. Der Besitzer des Ladens war abwesend und dessen Gehilfe abweisend. Ihm war die Kinderbande unheimlich. „Das sind alles Diebe“, war seine Meinung. Mit Gesten wollte Peter ihn umstimmen. Die Kinder verfolgten die Diskussion vor dem Laden aufmerksam. Doch der Hüter des Ladens ließ sich nicht erweichen.
Und als Peter kurz darauf seinen Spaziergang bei strahlendem Sonnenschein fortsetzte, umringten ihn kleine, bis auf die Knochen durchnässte Lumpenbündel. Neugierig taxierten ihn ihre funkelnden Pupillen, eingebettet im Weiß ihrer Augen mit den langen schwarzen Wimpern. Die Farbe ihrer auffallend feingliedrigen kleinen Hände ähnelten jenen vielfältigen Brauntönen von Edelhölzern. So dicht nebeneinander erinnerten sie Peter an die Intarsien, wie sie in alten Möbeln zu finden sind. Zu Hause stand ein Nierentisch mit den Münzen, die er überall als Seemann in der Welt gesammelt hatte. Er versprach sich fest, bei seiner Rückkehr nach Berlin noch einen Tisch mit vielen kleinen, aus Edelhölzern geschnitzten, Kinderhänden zu bauen. Dann würde er ein lebenslanges Erinnerungsstück an die Kinder haben, die ihn jetzt in den überschwemmten Gassen vor und hinter sich herzogen und schoben, als wäre er ohne sie verloren. An vielen Stellen waren die Gänge so vollständig überschwemmt, dass die tiefen Schlaglöcher für ihn nicht mehr zu erkennen waren. Also mussten sie ihn ja „retten“. Ihn mussten eh und je immer alle „retten“ und somit entmündigen. Aber diesmal war es gut so, als ob sie ihn als ihresgleichen verstanden: Ein Habenichts, völlig überflüssig, zu nichts zu gebrauchen. Er empfand es als Kompliment. Und plötzlich erinnerte sich Peter an einen Satz, den er als Junge am Berliner Ensemble hörte, zu dem ihn damals sein älterer Bruder mitnahm: „Die Bedeutenden nehmen langsam überhand. Die Unbedeutenden sterben aus.“
Als die Kinder und Peter schließlich durch waren – durch den aufgeweichten Schlamassel - gingen sie lachend und lärmend ihres Weges. Sie drehten sich nicht einmal nach ihm um.
Für Peter war dieses Erlebnis ein Wegweiser. Er wusste freilich, dass der gesunde Menschenverstand solche Wegweisungen sofort weginterpretieren würde. Was bliebe, wäre eine Horde Kinder – frierend, nass, hungrig, schutzlos, ungebildet –, die nicht einmal wissen, dass sie nichts wissen.
Und von wegen „ihn retten“. Sie trieben mit ihm doch nur ihren Schabernack!
Er hatte wirklich große Angst vor dem Gespräch mit Pater Fernando über sein Erlebnis. Würde er seine subjektive Wirklichkeit durch objektive Realität vermiesen? Fater Fernando ließ sich nach seinem langjährigen Aufenthalt in Indien kaum mehr von den bärtigen Sanyasins unterscheiden. Peter überraschte es, dass Fernando sowohl seine Ablehnung einer „objektiven Beurteilung“ billigte als auch „einem anderen Dasein“ zuordnete: „Lass deine Subjektivität nicht unbeaufsichtigt“, entgegnete Fater Fernando ihm, „damit du dich nicht in die Irre führen lässt.“ Auf Peters verwunderten Blick hin fuhr er fort: „Der Drang, wider alle Vernunft, das Dasein zu idealisieren ist allen Menschen mehr oder weniger in die Wiege gelegt worden. Sonst gäbe es kaum Fortschritt. Damit sich der Drang nicht ins Gegenteil verwandelt, dürfen Ideale nur als Begleiterscheinung gelten. Das beweist die Menschheitsgeschichte. Kriege um Ideale oder höhere Werte werden wohl nie enden. Ideale sind wie Blumen, die welk werden, wenn man sie sich ins Haar steckt.“
Doch dann, sozusagen um das alles zu korrigieren, sagte er zu Peter ein Wort aus dem Altspanischen, das in den Exerzitien mehrmals auftaucht. Santire – gefühltes Wissen. „Gottes Willen im Gefühl haben“, so sagte Fernando. Er fügte noch hinzu, dass dieses Gefühl als Gottesgabe gemeint war, als Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf. „Santire liegt uns im Blut seit Urzeiten. Statt sie zu suchen wie eine Nadel im Heuhaufen anderer Religionen, reicht schon allein der Blick nach innen. Du willst wissen, was dir dein Erlebnis sagen will? Schau nach innen, und lass es sich selbst aussprechen. Rede nicht dazwischen. Und hast du die Antwort, dann vergesse sie schnell wieder. Sie taucht wieder auf, wenn du sie brauchst. Dafür sorgt dein Santire. Dein Santire macht dich einzigartig. Damit du es nicht verlierst, kannst du zwar immer noch vieles mitmachen, aber nichts und niemanden nachmachen. Folge ihm, aber eigne es dir nicht an. Aneignungen verstopfen, füllen ab und machen unbeweglich. Alles Unbewegte ist tot. Bewegung ist Leben. Damit ist erst einmal genug gesagt. Vieles mehr wird sich aber zeigen.“
Seine Antwort empfand Peter ein wenig so, wie wenn jemandem ein leckeres Gericht vorgesetzt wird. Doch bevor es gegessen wird, wird es bereits abgeräumt. Was der Jesuit da gesagt hatte, warf in Peter eine Menge Fragen auf. Auf Peters weiteres Insistieren, reagierte Fernando augenfällig gelangweilt: „Viele Frage dauern lange. Was lange dauert, wird langweilig. Langes Verweilen ist dem Menschen nicht gegeben.“ Abschließend fügte er hinzu: „Seid wie Vorübergehende.“ Mit diesem Wort von Jesu war er dann wieder ganz der Jesuit.
Danach sah er Fernando nur noch einmal kurz beim Abschied. Aber irgendwie nahm er ihn doch mit auf seine Reise. Diese sollte von nun an nicht konsumiert werden, sondern auch Lebenserfahrung sein. Er hatte ja genug Zeit zum Meditieren, Kontemplieren. Fernandos Worte klangen nach. Nachts, wenn er allein im Zelt lag, beim Trampen, beim Warten auf die nächste Mitfahrgelegenheit in Richtung Madras. Dort hoffte er mit seinem noch gültigen Dokument, das mich ihn Seemann auswies, Heuer zu finden. Auf einem Schiff nach Australien. Es kam aber alles anders. Doch das ist eine andere Geschichte.