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Die Kunst des Krieges
Die Kunst des Krieges
Ostchina im Jahre 480 vuZ. Zwischen den zwei großen Strömen ▪ Wu: Reich des Himmels. Im Palast des Königs Wu Fu Cai.
»Sei gegrüßt, Sun Tzu, mein großer Feldherr.«
»Auch ich entbiete dir meinen ehrerbietigen Gruß, unsterblicher König.«
»Tritt näher vor den Thron, Sun Tzu und berichte mir von deiner letzten Schlacht im Reich Chu, in der du mit unseren Soldaten gegen die zehnfache Übermacht des Feindes gesiegt hast.«
»Wenn du deinen Feind und dich selbst kennst, brauchst du das Ergebnis von einhundert Schlachten nicht zu fürchten.«
Sun Tzu hatte jahrelang Krieg für das Land Wu und dessen Könige geführt. Erst für Wu He Lü den Vater und nun für dessen Sohn Wu Fu Cai. Wu war in den Wirren der Frühlings- und Herbstannalen in ständige Kämpfe mit den Fürsten der Nachbarvölker verwickelt, weshalb spätere Geschichtsschreiber diese Zeit des Übergangs als Jahre der streitenden Reiche bezeichneten. Sun Tzu gewann sämtliche Schlachten und doch ging Wu dem stetigen Niedergang entgegen. Die Feinde wimmelten zahlreich wie die Heuschrecken und standen stets von Neuem bereit. Der Krieg dauerte zu lange. Wu Fu Cai war ein schwacher Herrscher, der die Siege des Feldherrn nicht zu nutzen wusste. Denn er kümmerte sich in keiner Weise um das Wohl der Untertanen oder die Belange des Staates. Sein Hauptaugenmerk galt stattdessen der Pflege und Vergrößerung des königlichen Harems. Sun Tzu als oberster Heerführer von Wu war deshalb bei den zahllosen militärischen Operationen vollkommen auf sich alleine gestellt. Zuletzt hatte er mit einigen tausend schlecht ausgerüsteten Soldaten die vereinigten Heere von Chu, Yue Guo und Qi besiegt. Die Krieger von Wu waren nun müde und sehnten sich nach einem friedlichen und bescheidenen Leben in der Heimat.
»Warum hast du die Truppen unserer Gegner nicht komplett vernichtet, General?«
»Wenn du einen Feind eingekreist hast, dann lasse ihm einen Fluchtweg.«
»Wozu soll das gut sein?«
»So kann der Gegner sein Gesicht wahren und sinnt nicht sofort auf Rache.«
»Ich werde den anderen Reichen einen harten Frieden diktieren.«
»Der Kern des Staates besteht aus Wut und Gier.«
»Sie müssen Land an uns abtreten und hohe Reparationen zahlen.« Der König sprach erregt und ärgerte sich über die Widerworte des Feldherrn.
»Die Macht ist bösartig und unersättlich. Erst stumpft sie uns ab gegen das Leid anderer Menschen, und dann macht sie uns süchtig danach.«
»Was schlägst du vor, was ich stattdessen tun soll, mein General?« Die Zornesader an Wu Fu Cais linker Schläfe schwoll bedrohlich an. Der König konnte seine Empörung kaum noch im Zaum halten.
»Söhne dich mit den Nachbarreichen aus. Schließe einen milden Friedensvertrag mit ihnen. Die wahre Autorität ist geprägt von Mitgefühl und Gerechtigkeit.« Sun Tzu blieb gelassen, während er seinen König über die jüngsten Ereignisse unterrichtete. Er verzog keine Miene und stand kerzengerade vor dem Thron.
»Niemals. Die anderen Reiche müssen bluten!« Wu Fu Cai leerte den großen Weinbecher, der ihm von seiner Lieblingskonkubine gereicht wurde, in einem Zug.
»Dann werden sich die Feinde im nächsten Jahr wieder gegen uns vereinigen und erneut Krieg mit Wu führen. Wir haben nicht mehr die Kraft, um lange zu widerstehen.«
»Ich bin der König und will es so!« Wu Fu Cai schleuderte den Pokal wutentbrannt nach der Haremsdame und traf sie am Kopf. Sie blutete, verharrte aber stumm auf ihrem Platz und ließ sich ihren Schmerz nicht anmerken.
»Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft.« Sun Tzu sprach weiterhin mit leiser Stimme, was den König über alle Maßen ergrimmte, denn er selbst neigte zu Unbeherrschtheit und Jähzorn.
»Sage mir Sun Tzu, worin besteht die Kunst deiner Kriegsführung? Weshalb gewinnst du seit Jahren alle Schlachten?« Der König hatte seine Fassung für einige Minuten wieder erlangt.
»Der Krieg ist ein Weg der Täuschung.«
»Wie soll ich das verstehen, General?«
»Wenn du etwas vorhast, tue, als ob du es nicht vorhättest. Wenn du etwas willst, tue, als ob du es nicht benutzen wolltest.«
»Erläutere mir das!« Die Diener brachten dem König eilends einen neuen Weinbecher, den Wu Fu Cai mit fahrigen Händen umklammerte.
»Die ganze Kriegskunst basiert auf List und Tücke. Ein Meister der Kriegsführung ist immer durchtrieben und geheimnisvoll. Er hinterlässt keine Spur.«
»Dann ist es dasselbe wie bei meiner Königsherrschaft?«
»Derjenige, der genau weiß, wann er kämpfen darf und wann nicht, wird sicher siegen.«
»Und du kannst das in jedem Moment einschätzen?«
»Ein erfahrener Heerführer wird immer zuerst eine Position einnehmen, in der er nicht geschlagen werden kann. Dann lässt er keine Gelegenheit aus, seinen Feind zu vernichten.«
»Dauert diese Vorgehensweise denn nicht sehr lange?«
»Der Krieg liebt den Sieg und nicht die Dauer.«
»Fürchtest du die Schlacht, Sun Tzu?«
»Furcht ist der Gegner, der einzige Gegner.«
»Und wie besiegst du die Angst?«
»Stelle dich dem Kampf und handele umsichtig. Sei dabei aber auf das Schlimmste vorbereitet.«
»Und unsere Feinde wissen das nicht?«
»Wenn der richtige Zeitpunkt naht, dann handele ich rasch und unkompliziert.«
»So bist du also schneller und rücksichtsloser als unsere Gegner?«
»Die höchste Form der Kriegsführung ist die Zerstörung des Willens des Feindes, um so allen seinen Angriffen vorzubeugen.«
»Und weshalb sollen wir dann deiner Meinung nach nicht damit fortfahren, die Nachbarreiche zu verwüsten?«
»Der Krieg ist in seinem Resultat nie etwas Absolutes. Im Kern ist er die Ausrufung des Rechts des Stärkeren. Diejenigen, die das Kriegshandwerk verstehen, beachten zuerst die Menschlichkeit und Gerechtigkeit und halten sich an ihre Gesetze. So machen sie ihre Regierung unverwundbar.«
»Du rätst mir also in diesem Moment der Stärke zu einem nachsichtigen Friedensschluss mit unseren Feinden?«
»Der klügste Krieger ist der, der in Zukunft nicht mehr kämpfen muss.«
»Ich habe nun genug von deinen Weisheiten, General. Beweise mir, dass du ein guter Heerführer bist. Bilde meine Frauen hier vor meinen Augen zu Soldaten aus!«
»Ich will es versuchen, mein König.«
Wu Fu Cai klatschte in die Hände und befahl, dass sich die Haremsdamen unverzüglich in den Thronsaal zu begeben hatten. Zweihundert Frauen traten vor den Feldherrn. Sun Tzu wählte die beiden Lieblingskonkubinen des Königs Bao und Lian zu Gruppenführerinnen aus. Er erklärte ihnen ein paar einfache Exerzierübungen. Daraufhin erprobte er den ersten Befehl. Die Frauen liefen wild gestikulierend und kichernd ziellos durch den Raum. Bao und Lian lachten. »Wenn die Kommandoworte nicht klar und deutlich sind, so trifft die Schuld den General.« Sun Tzu machte die Bewegung ein weiteres Mal vor und forderte dann erneut deren Ausführung. Die Hofdamen zeigten sich wiederum nicht in der Lage, die Anweisung in die Tat umzusetzen. Die Lieblingskonkubinen schmunzelten auch jetzt. Sun Tzu zog sein Schwert und trennte zuerst Bao und daraufhin Lian mit zwei kurzen Schlägen die Häupter vom Leib. Dies geschah so schnell, dass die beiden immer noch lächelten, während ihre Köpfe schon über den Steinboden des Thronsaals rollten.
»Was tust du da, General?«, schrie der König entsetzt.
»So lange die Kommandos nicht klar sind, dann trifft die Schuld den Feldherrn. Sind die Befehle jedoch eindeutig und die Soldaten gehorchen trotzdem nicht, so liegt die Verantwortung bei den unfähigen Offizieren.«
Wu Fu Cai erkannte, dass Sun Tzu sein Handwerk beherrschte und fürchtete sich von dieser Stunde an vor ihm als möglichem Widersacher seines Throns. Er entließ den Heerführer deshalb noch am selben Tag aus dem Staatsdienst. Ein Jahr später schenkte der Herrscher von Yue Guo dem König das schöne Mädchen Dai als Ersatz für Bao und Lian. Wu Fu Cai verliebte sich in Dai und ernannte sie zu seiner neuen Lieblingskonkubine. Dai wartete den richtigen Moment ab, als der König betrunken in ihrem Bett lag. Dann führte sie ihren Auftrag aus und erdolchte Wu Fu Cai. Der Fürst von Yue Guo marschierte kampflos in Wu ein und vereinigte die beiden Reiche unter seiner Oberhoheit.
Sun Tzu brachte derweil seine Erfahrungen zu Papier:
Bingfa: Die Kunst des Krieges ▪ Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft.
Im selben Jahr – 480 vuZ – besiegte Themistokles die große Flotte der Perser in der Seeschlacht von Salamis. Dank seiner überlegenen Feldherrnkunst.