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Die Leiche der rue Longwy
Der Brigadier steuerte den Wagen und sprach kein Wort. Es war mir auch recht so, denn in meinem Kopf geisterte immer wieder der fatale Satz … es gibt einen Toten. Jemand war gestorben, wahrscheinlich vor seiner Haustür oder vielleicht in seinem Wagen, jedenfalls außerhalb der Wohnung, denn nur in diesem Fall und bei einem natürlichem Tode muss die Polizei benachrichtigt werden.
Die rue Longwy schien unendlich lang zu sein und das Licht der Straßenbeleuchtung wirkte wie billige Papierlaternen in dieser stockfinsteren Nacht. Irgendwie sah in dieser Düsterkeit alles anders aus, war es der Gedanke an diesen Toten, der meine Sinne bekümmerte, ich wusste es nicht. Endlich hatten wir das Ziel erreicht und der Brigadier steuerte auf eine Handvoll Menschen zu.
Es war ein älterer Herr, der sich als Schwager des Verstorbenen zu erkennen gab, der mit dem Brigadier die ersten Worte wechselte. Etwas abseits hielt sich eine Frau auf, die ununterbrochen weinte. Sie war umgeben von zwei jüngeren Frauen; die versuchten Trost zu spenden, was ihnen aber sichtlich nicht gelang. Wenig später fuhr die bestürzte Gesellschaft fort.
Ich folgte nun dem Brigadier, der bereits im Treppenhaus war. Die Wohnung befand sich auf der ersten Etage.
„Dort ist das Wohnzimmer“, sagte der Brigadier und mir wurde dabei übel. Ich konnte mir bereits das schauerliche Bild vorstellen, hinter dieser Tür würde ein Mann an einem Strick baumeln. Ich folgte widerwärtig dem Brigadier, der inzwischen das Licht im Wohnzimmer angeknipst hatte.
Es herrschte einen Moment absoluter Stille, so als würde der Brigadier eine Gedenkminute einlegen, dann sagte er:
„Hier hängt er“.
Ich sah ihn nicht, denn mein Blick sezierte das alte aber schön glänzende Schifferparkett. Doch dann als ich langsam die Augen weiter nach oben wandern ließ, ertappte ich als erstes nackte Füße. Der Tote hatte die Schuhe ausgezogen. Langsam steuerte ich mein Blick nach oben. Ich sah den gestreiften Pijama, er war sauber zugeköpft bis zum letzen Knopfloch. Ich wusste, wenn ich nun meinen Kopf nur Millimeter aufwärts richten würde, wäre die Beschauung vollendet. Es war noch grausiger, als ich mir es vorgestellt hatte, ich sah ein altes entfleischtes Gesicht und schneeweiße Haare. Seine Augen waren weit aufgerissen und sahen mahnend zu mir herunter. Ich hielt diesen Augenblick nur für sekundenlang fest, jedoch lang genug um ihn auf meiner Speicherplatte in aller Ewigkeit fest eingebrannt zu bekommen.
„Er hat einen Abschiedsbrief geschrieben, litt an einer unheilbaren Krankheit“, hörte ich von Weitem die Stimme des Brigadiers. Nach einer Weile ging er in den Flur und benachrichtige die Zentrale per Funk.
Als er wenig später das Wohnzimmer erneut betrat, klärte er mich auf, dass alles in Ordnung wäre, die Leiche sei freigestellt worden seitens der Staatsanwaltschaft und dass das Bestattungsamt im Anmarsch wäre.
„Wir müssen nur noch abwarten“, schlussfolgerte der Brigadier und zündete sich eine Zigarette an.
Mir war es recht, ich wollte so schnell wie möglich dieses Leichenzimmer verlassen. Dann geschah aber etwas Unerwartetes. Plötzlich erloschen alle Lichter im Wohnzimmer, im Haus und draußen auf der Straße.
„Scheiße, eine Strompanne!“, zischte der Brigadier.
Wir knipsten unsere Taschenlampen an und mein Vorgesetzter begab sich nach draußen, um die Männer vom Bestattungsinstitut zu lotsen. Ich aber stand nun allein im Wohnzimmer mit meiner Leiche; die keine Schuhe trug. Immer wieder traf der Lichtkegel meiner Taschenlampe dieses mahnende Gesicht. Vom vielen anstarren, hatte ich plötzlich das Gefühl, als hätte sich der Tote bewegt.
Endlich trafen die Leute vom Bestattungsamt ein. Fast gleichzeitig kam auch die Elektrizität wieder.
Einer der Männer wandte sich an mich, ich sollte den Toten festhalten, er würde nun den Strick lösen. Widerwillig umklammerte ich den toten Körper. Der Strick war ziemlich festgeknüpft, sodass ich den Leichnam leicht anheben musste. Doch dann unerwartet, löste sich der Strick von der Decke und der Tote rutschte durch meine Umarmung, ich versuchte den Körper abzufangen, verlor dabei das Gleichgewicht. Ich stürzte rücklings zu Boden, gefolgt vom zügellosen Fall der Leiche. Diese fiel auf mich, wobei seine Visage genau auf mein Antlitz knallte. In meiner Ekel erregender Abwehr, warf ich impulsiv den Toten von mir weg, sprang auf und flüchtete aus dem Zimmer.
Draußen auf dem Gehsteig rieb ich mehrmals mein Gesicht ab, als wäre ich gebrandmarkt worden.
Es dauerte eine Weile, bis der Brigadier als Letzter das Haus verließ. Er zündete sich wieder eine Zigarette an, trat an mich heran und meinte:
„Na, so schlimm war es doch nicht!“
Ich sah ihn vorwurfsvoll an und dachte - geprägt von einer damals unschuldigen Ahnungslosigkeit: 'Was kann schlimmer sein, als eine Leiche zu küssen?'