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Die Leoniden
Beim Piepsen des Funkweckers öffnet sie die Augen. Vollkommene Dunkelheit, Stille und die Kühle der Nacht. Sie schaltet das störende Geräusch ab, tastet nach dem Lichtschalter, und beginnt fröstelnd, sich anzuziehen. Die Jogginghose und das alte Sweatshirt, drüber den ausgeblichenen Parka, alles sorgfältig bereitgelegt. Ihre Laufschuhe, noch lehmverkrustet vom Vortag. Als sie die Wohnungstür absperrt und das Stirnband über ihre kurzen Haare schiebt, ist es kurz vor vier Uhr früh.
Etwa eine halbe Stunde würde sie für die sechs Kilometer brauchen, sie ist eine gute Läuferin. Ob er schon auf sie wartet? Langsam läuft sie los, gleichmäßig die verlassenen Straßen entlang. Durch die Straßenlaternen erzeugte Schatten, unregelmäßig verzerrt, begleiten sie. Eine Katze flitzt über die Straße, springt hastig über einen Zaun, verkriecht sich im dichten Gebüsch eines Vorgartens, als sie vorbeiläuft.
Der kalte Herbstwind fährt ihr in die Haare. Ihr Atem wird bei den niedrigen Temperaturen mit jedem Schritt sichtbar. Sie genießt die klare Luft und die Stille, die die sonst hektischen Straßen reflektieren. Das einzige Geräusch an diesem jungen Morgen ist das Hallen ihrer eigenen Schritte auf dem leblosen Beton.
Etwa nach der halben Strecke, vorbei an den großen Markthallen, biegt sie in einen schmalen Feldweg ab.
Weit und unheimlich, tot, die längst abgeernteten Äcker links und rechts. Gras am Wegrand, bereits mit feinen Eiskristallen überzogen, Raureif. Der Mond scheint hell, Wind scheucht ein paar Wolkenfetzen über den Himmel.
Trotz der Kälte beginnt sie langsam zu schwitzen, unter dem Stirnband kleben die Haarsträhnen am Kopf.
Vor ihr kann sie schon den Waldrand sehen, dunkel und bedrohlich stehen die Fichten. Irgendwo, tief zwischen Bäumen verborgen, raschelt ein Tier, vielleicht ein Fuchs auf der Jagd? Die alten Bäume schaukeln, von Böen zerzaust. Der Weg verliert sich im Wald, sie läuft vorbei am Gebüsch, das unregelmäßige Gras unter den Sohlen, eine kleine Anhöhe hinauf, immer am Waldrand entlang.
Ob er wohl schon da ist? Fast wäre sie gestolpert, ein halb vermoderter Ast liegt gut verborgen und nicht zu erkennen im stumpfen Herbstgras.
Schon von weitem zeichnet sich die vermoderte Bank gegen den dunklen Himmel ab. Er ist nicht da. Sie wird langsamer.
Unter ihr liegt die Stadt. Verlassen sieht sie aus, nur wenige Fenster erhellt. Kein Ton dringt herauf zu ihr. Frieden und Ruhe.
Sie setzt sich auf das alte Holz. Die Augen blicken zum Himmel. Ihr Atem wird ruhiger, der verschwitzte Körper kühlt ab. Wie von selbst, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, suchen ihre Hände nach den vertrauten Mustern... Ein Herz, die Initialen H und G trotz den harten Wintern, den schweren Gewittern der letzten Jahre noch gut zu fühlen...
In dem Augenblick huscht eine Sternschnuppe über das Dunkel der Nacht. Leblose Staubteilchen, mikroskopisch klein, die in der Erdatmosphäre zu dieser wunderbaren Erscheinung verglühen.
In diesem Moment hört sie, wie jemand den Hang herauf läuft. Sie bewegt sich nicht, wartet einfach, still und verzaubert. Der Schatten kommt auf sie zu, seine Hand legt sich wie ein warmer Hauch auf ihren Nacken. Zärtlich zieht er ihren Kopf an seinen Körper. Zwei weitere Sternschnuppen, sichtbar, trotz des hellen Mondes. Eng umarmt stehen sie, wärmen sich, blicken sich an.