Die Lesung
Eine Schar junger Autoren hat sich im Hinterzimmer des Gasthofs versammelt. Jeden Mittwoch lesen sie sich dort frisch gebackene Erzählungen vor. Lisa ist an der Reihe. Die Wangen sind so rot wie ihr XXL-T-Shirt. Mit fester Stimme intoniert sie Sätze, die sie in der Nacht aus dem Ofen holte.
Ute’s Mund steht leicht offen, sie ist gerührt von Lisas todtrauriger Kindsmörderingeschichte. Und sie ist ein bisschen neidisch. Nein, so gut schreiben kann sie nicht. Kaum verschwindet die elende Kindsmörderin hinter Gittern, klatscht Ute energisch. Schließlich ist man fair und Lisa eine Freundin. Die anderen trommeln auf die Tische. Da schreit jemand:
„Das ist doch keine Literatur! Diese Geschichte ist durch und durch trivial!“
Ein alter Herr hat unbemerkt hinten Platz genommen. Wortreich begründet er sein Urteil. Ute beschließt derweil, auf die Lesung ihres Textes zu verzichten. Er ist doch nicht originell. Keinesfalls sprachlich innovativ. Und metasprachlich, was war das nochmal?
Der schöne Max ist aufgestanden und fixiert den alten Mann:
“Mein Lieber, Sie übersehen da was! Lisas Geschichte ist eine Reminiszenz an Goethes Gretchentragödienstoff.” Er macht eine Pause, blickt triumphierend um sich.
“Genau”, sagt Ute erleichtert, “Goethes Gretchentragödienstoff.”
Max fährt fort:
“Natürlich will ich Lisa nicht mit Goethe vergleichen, aber die Trivialität des Stoffes – wenn es denn trivial ist, sein Kind zu morden - ist sowenig ein Einwand wie die vermeintlich abgedroschenen Metaphern, derer sie sich bedient. Goethe bezog sein Material aus abgeschriebenen Prozessakten.”
“Genau”, sagt Ute, und fühlt sich mutig, “nur vermeintlich abgedroschene Metaphern!”
“Ich habe nirgendwo abgeschrieben”, sagt Lisa müde und faltet die Hände über’m Bauch.
Max nimmt seine Arme hoch wie ein Dirigent und lässt sie wieder fallen. Er geht auf den Kritiker zu, spricht von oben auf ihn hinab:
“Ihre normative Auffassung literarischer Wertung ist out. Inzwischen weiss man um die Offenheit von Texten: eine Unterscheidung zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Literatur ist nicht mehr möglich. Dass Lisa mit ihrer Geschichte ein trivium betritt, mithin einen dem Volke zugänglichen Platz, das kann ich nicht verwerflich finden. Den Kreuzweg dreier Wege dürfen Bettler und Könige beschreiten.”
Das hat Ute nicht verstanden. Sonst spricht Max nicht so gestelzt daher. Der Kritiker senkt den Kopf. Hat er Angst vor Max oder will er bloss dessen Atem nicht riechen? Max klingt wie ein Kommissar, der dem Verbrecher auf die Schliche gekommen ist und die Lampe nicht ausknipst, weil er es genießen will:
„Ich weiß, mein Lieber, wie sehr Sie Dostojewski verehren! Auch Nabokov gehört zu Ihren Lieblingsautoren. Aber hat nicht letzterer gerade eindrücklichst gezeigt, wie ersterer sich schamlos technischer Mittel der Trivialliteratur bedient?“
„Schamlos“, sagt Ute. Immerhin kennt sie den Film ‚Lolita“.
Lisa streckt den Finger hoch wie in der Schule. Obgleich keiner sie drannimmt, sagt sie:
„Ich wollte nur zeigen, wie eine junge Frau zur Kindsmörderin wird, wie Gefühlskitsch sich allmählich in Gefühlskälte verwandelt und wie das in die Katastrophe führt.“
Der Kritiker steht auf, drückt Max von sich weg und schreit Lisa an:
„Das hat aber in Ihrem Text nicht funktioniert! Ich kann Ihnen auch sagen warum. Weil eine solche Entwicklung ganz und gar unwahrscheinlich ist. Sie ist psychologisch nicht nachvollziehbar.“
☼
Es ist Mittwoch. Das Hinterzimmer des Gasthofs ist kalt. Trotz der vielen Kerzen.
„Mach schon“, sagt Max zu Ute. „Lies endlich vor!“
Ute stöckelt nach vorn. Sie knickt zweimal ein. Solche Schuhe ist sie nicht gewohnt. Sie hat sich schick gemacht, für Lisas Beerdigung.
„Liebe Freunde“, liest Ute und zieht geräuschvoll die Nase hoch. “Nein”, korrigiert sie, “davor steht ein P.S., also nochmal:
P.S.: Liebe Freunde. Die Geschichte von der Kindsmörderin war mein Abschiedsbrief. Niemand hat das verstanden. Ich kann einem Wurm zwar nicht den Hals umdrehn oder ihn mit dem Kissen ersticken, doch im Bauch mit mir fliegen, vom Turm, das darf er, das darf ich, so hab’ ich entschieden. Seid weder bös noch traurig. Oder doch, fühlt - wie schön ist das, wenn man fühlen kann -, aber grübelt nicht! Niemand ist nachvollziehbar. Schreibt weiter! “