Was ist neu

Die Lesung

Mitglied
Beitritt
02.09.2010
Beiträge
14

Die Lesung

Eine Schar junger Autoren hat sich im Hinterzimmer des Gasthofs versammelt. Jeden Mittwoch lesen sie sich dort frisch gebackene Erzählungen vor. Lisa ist an der Reihe. Die Wangen sind so rot wie ihr XXL-T-Shirt. Mit fester Stimme intoniert sie Sätze, die sie in der Nacht aus dem Ofen holte.
Ute’s Mund steht leicht offen, sie ist gerührt von Lisas todtrauriger Kindsmörderingeschichte. Und sie ist ein bisschen neidisch. Nein, so gut schreiben kann sie nicht. Kaum verschwindet die elende Kindsmörderin hinter Gittern, klatscht Ute energisch. Schließlich ist man fair und Lisa eine Freundin. Die anderen trommeln auf die Tische. Da schreit jemand:
„Das ist doch keine Literatur! Diese Geschichte ist durch und durch trivial!“
Ein alter Herr hat unbemerkt hinten Platz genommen. Wortreich begründet er sein Urteil. Ute beschließt derweil, auf die Lesung ihres Textes zu verzichten. Er ist doch nicht originell. Keinesfalls sprachlich innovativ. Und metasprachlich, was war das nochmal?

Der schöne Max ist aufgestanden und fixiert den alten Mann:
“Mein Lieber, Sie übersehen da was! Lisas Geschichte ist eine Reminiszenz an Goethes Gretchentragödienstoff.” Er macht eine Pause, blickt triumphierend um sich.
“Genau”, sagt Ute erleichtert, “Goethes Gretchentragödienstoff.”
Max fährt fort:
“Natürlich will ich Lisa nicht mit Goethe vergleichen, aber die Trivialität des Stoffes – wenn es denn trivial ist, sein Kind zu morden - ist sowenig ein Einwand wie die vermeintlich abgedroschenen Metaphern, derer sie sich bedient. Goethe bezog sein Material aus abgeschriebenen Prozessakten.”
“Genau”, sagt Ute, und fühlt sich mutig, “nur vermeintlich abgedroschene Metaphern!”
“Ich habe nirgendwo abgeschrieben”, sagt Lisa müde und faltet die Hände über’m Bauch.
Max nimmt seine Arme hoch wie ein Dirigent und lässt sie wieder fallen. Er geht auf den Kritiker zu, spricht von oben auf ihn hinab:
“Ihre normative Auffassung literarischer Wertung ist out. Inzwischen weiss man um die Offenheit von Texten: eine Unterscheidung zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Literatur ist nicht mehr möglich. Dass Lisa mit ihrer Geschichte ein trivium betritt, mithin einen dem Volke zugänglichen Platz, das kann ich nicht verwerflich finden. Den Kreuzweg dreier Wege dürfen Bettler und Könige beschreiten.”
Das hat Ute nicht verstanden. Sonst spricht Max nicht so gestelzt daher. Der Kritiker senkt den Kopf. Hat er Angst vor Max oder will er bloss dessen Atem nicht riechen? Max klingt wie ein Kommissar, der dem Verbrecher auf die Schliche gekommen ist und die Lampe nicht ausknipst, weil er es genießen will:
„Ich weiß, mein Lieber, wie sehr Sie Dostojewski verehren! Auch Nabokov gehört zu Ihren Lieblingsautoren. Aber hat nicht letzterer gerade eindrücklichst gezeigt, wie ersterer sich schamlos technischer Mittel der Trivialliteratur bedient?“
„Schamlos“, sagt Ute. Immerhin kennt sie den Film ‚Lolita“.
Lisa streckt den Finger hoch wie in der Schule. Obgleich keiner sie drannimmt, sagt sie:
„Ich wollte nur zeigen, wie eine junge Frau zur Kindsmörderin wird, wie Gefühlskitsch sich allmählich in Gefühlskälte verwandelt und wie das in die Katastrophe führt.“
Der Kritiker steht auf, drückt Max von sich weg und schreit Lisa an:
„Das hat aber in Ihrem Text nicht funktioniert! Ich kann Ihnen auch sagen warum. Weil eine solche Entwicklung ganz und gar unwahrscheinlich ist. Sie ist psychologisch nicht nachvollziehbar.“



Es ist Mittwoch. Das Hinterzimmer des Gasthofs ist kalt. Trotz der vielen Kerzen.
„Mach schon“, sagt Max zu Ute. „Lies endlich vor!“
Ute stöckelt nach vorn. Sie knickt zweimal ein. Solche Schuhe ist sie nicht gewohnt. Sie hat sich schick gemacht, für Lisas Beerdigung.
„Liebe Freunde“, liest Ute und zieht geräuschvoll die Nase hoch. “Nein”, korrigiert sie, “davor steht ein P.S., also nochmal:
P.S.: Liebe Freunde. Die Geschichte von der Kindsmörderin war mein Abschiedsbrief. Niemand hat das verstanden. Ich kann einem Wurm zwar nicht den Hals umdrehn oder ihn mit dem Kissen ersticken, doch im Bauch mit mir fliegen, vom Turm, das darf er, das darf ich, so hab’ ich entschieden. Seid weder bös noch traurig. Oder doch, fühlt - wie schön ist das, wenn man fühlen kann -, aber grübelt nicht! Niemand ist nachvollziehbar. Schreibt weiter! “

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo hula hoop,
das hier hats echt in sich, oder? da ziehts einen direkt rein, bei mir warens die frischgebackenen sätze, die lisa aus dem ofen holte. erinnerte mich spontan ans märchen und dadurch bekam die atmo schon was schauderhaftes, wenngleichs nicht ganz greifbar wurde. und dieses etwas im ofen haben ist glaub ich auch rüder volksmund fürs schwanger sein.

na gut, aber weiter, da kommt ne diskussion über klassifizierung, wert und unwert verschiedener literaturen auf, da flossn vllt aktuelle kg-de-diskussionen ein? hm. tja, und dann befindet man sich mittenmang zwischen differierenden schlaumeiern, ich fand die sätze schon bisschen überschlau und -lang. inhaltlich interessant, aber nicht wirklich in die geschichte passend.

und kurz vorm letzten absatz gerät der text in echte untiefen. da spricht der alte dem text seine psychologische nachvollziehbarkeit ab und behauptet die entwicklung sei unwahrscheinlich, was lisa ja durch ihren freitod zu widerlegen scheint. aber wir kennen den text im text nicht. kann sein, dass sie es im texttext nicht plausibel gemacht hat und nur weil jemand etwas besonderes, erzählenswertes durchlebt, muss er/sie noch lange nicht glaubwürdig drüber schreiben können.

der schluss ist grausam gut. wie freimütig du sie von den möglichen todesarten des "wurmes" schreiben lässt. das hat lisa sich alles durchdacht und schließt mit nem lapidaren schlusswort, das sie an kryptische dichter zum trost hätte sagen können. als ob das schreiben trotz des kontexts größere bedeutung hätte. auch gut versteckt und gleichmäßig verstreut die andeutungen betreff ihrer schwangerschaft. zuerst die sätze aus dem ofen geholt, später dann faltet sie müde die händ überm bauch, als sie die authentizidingsbums der geschichte verteidigt. bis auf paar zu abgehobene sätze zur literatur ne klasse geschichte!

grüße
kubus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi, Kubus, vielen Dank fuer Lob, Tadel und aufmerksames Lesen! Du hast voll nachvollzogen :)! (Und ergo den Text widerlegt? Der Kontrast von abgehoben und schlicht war intendiert, sollte stoeren und wird ja im Text selbst kritisiert. Und die Psychologie fehlt mit Absicht. Gilt das Nicht-Nachvollziehbare (als Unsagbares) nicht sogar fuer den genialsten Autor? Doch niemand interpretiert einen Text so schlecht wie der Baecker :). Nochmals danke! Herzlich, hula hoop

 

Die Lesung,

liebe hula hoop,


ist eine herzerfrischendes Knabbergebäck für Zwischendurch (schon wegen der Kürze), ohne Krümel und mit einem starken Schluss, und ich find auch >das ist Sptze!< (Rosenthal) oder wie Kubus sagt „klasse“.

Hab auch schon einige Lesungen hinter mir, allein -
sehen wir mal von gelegentlichem Lachen oder Tuscheln ab, verliefen sie zumeist relativ stumm seitens des Publikums -
ausgenommen der Geburtstagsfeier für Siggi Freud –
da verrat ich wohl nix Neues, der einen verdammt guten literarischen Stil pflegte -
am 06.05.2006, als sein „Chow-Chow“ genannt wurde und ich –
ganz den eigenen Hunden angepasst -
klarstellte, dass die Rassebezeichnung des Hundes „lecker-lecker“ bedeute und junge Hunde gut schmeckten (alte Indianerweisheit in "Keine Gnade für Ulzana"). Von da an war Leben in der Bude, Ergriffenheit verflogen, Empörung -

doch bei Dir schreit jemand, das wäre keine Literatur! Diese Geschichte wäre "durch und durch trivial!“,
was zwar richtig ist und doch zugleich falsch.
Das wäre keine Literatur?
Literatur ist alles, was geschrieben steht, vom harmlosesten Buchungssatz über die fiktivste und darum betrügerischste Bilanz und den raffiniertesten und hinterhältigsten Geschäftsbrief hinüber zum einfachsten und vielleicht blödesten Reim bis hin zu Goethe, Shakespeare und Homer, als den Gipfeln höchster Literatur. Der Einbruch des Alltäglichen und somit Trivialen lief immer parallel zu den Höhenflügen. Dass Homer nicht ein Naseschnäuzen beschrieb, mag daran liegen, dass es keine Papiertaschentücher gab und man die Ansteckungsgefahr beim Schildern des Vorfalls fürchtete. Goethes ärgster Konkurrent war denn auch nicht sein Freund Schiller, sondern sein Schwager Vulpius, der den Rinaldo Rinaldini schuf.
Das praktische am Trivialen ist doch, dass es in kurzer Zeit fertig ist, während der Faust von Goethe lebenslänglich herumgeschleppt und -gestoßen wird.
Der Meister in der Verarbeitung Trivialens war m. E. Gottfried Keller, der das Banale derart verarbeitete, das Hochliteratur draus wurde und er nicht umsonst als Shakespeare der Novelle und der legitime Nachfolger Goethes im bürgerlichen Zeitalter genannt wurde.

Da siehstu, was Du angerichtet hast! Ausschweifungen ohnegleichen! Virtuelle Hochwassergefahr! Dennoch, paar Anmerkungen:

Ute’s Mund
Nee, ne, immer noch die neuseeländische Tastatur – darum auch keine Anmerkung mehr über s, doppel s und ß! -, dass der angeslsächsische Genitiv sich durchsetzt? Im Dt. trägt man den Genitiv direkt am Körper, auf der Haut – ohne Apostroph: Utes Mund.
Untersagt hab ich mir Anmerkungen zum Namen (Nibelungenlied, Gudrundsage u. a.)

Kindsmörderingeschichte
Immerhin wird das Genitiv-s auf der Haut getragen.
Und dennoch: Ein Wortungeheuer! Sicherlich nix fehlerhaftes, aber reichte nicht Kindsmördergeschichte? Oder müssen Geschichten jetzt auch schon politisch korrekt ge- und beschrieben werden?
Alternativ dann: Geschichte einer Kindsmörderin, evtl.

Und noch’n Wortungeheuer:

Goethes Gretchentragödienstoff
Sicherlich nicht falsch, aber es genügte „Gretchentragödie“, die sowohl Stoff als auch Motive liefert.
Ein Lob dem Genitiv!

Kurz und gut, der erste Riecher wird bestätigt: Erzählen kannstu in jedem Fall und jede Wette – ohne Gebäck ließestu uns in einer Lesung am Backvorgang teilhaben …

Do laachet Hätz, do jrinsd’e Fott,

um nicht immer nur Soziolekte zu reden!

Gruß

Friedel

 

Hi Friedrichard,
auf das Wortungeheuer Gretchentragoedienstoff will ich nicht verzichten. Es ist zwar nicht ganz so komisch wie Thomas Bernhards Rustenschacherischer Tuchladen oder Tscheslowakische Ausschussware, aber sollte als Monster daherkommen. "Eigentlich" bin ich ein Veraechter solcher Genitivgestalten, womit ich sagen will, dass ich mir was dabei denke, wenn ich sie dennoch (herbei)rufe. "Eigentlich", so ein Nachtrag zu Monk im Mond, hasse ich auch das Woertchen "eigentlich", aber in gesprochenen Saetzen, kann es wie ein Partikel unterstreichen, dass der Satz eben ein gesprochener ist. "Ist denn das nicht so?" Die jungen Leut, die hier vorgefuehrt werden, sollen ja sprachlich gerade nicht so brillieren wie der erfahrene Soziolektor Friedrichard.

Die Kritik freut mich sehr. Und amuesant sind deine Antworten ja immer.
Danke! hula hoop

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom