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Die letzte Sommernacht am Fluss
Überarbeitete Version - Erstversion in meinem dritten Kommentar zum Vergleich gepostet
Nur die Eule schreit
Leonie liegt wach. Es ist Nacht und Kälte dringt ins Zelt. Doch es ist nicht die Kälte, die sie daran hindert, zu schlafen. Es ist der Sommer. Er ist vorbei. Sie schlüpft aus dem Schlafsack. Ihr Zelt ist grösser geworden. Sie steigt hinaus. Das Wildgras der Lichtung leuchtet blass. Jemand hat den Mond auf einer Fichte aufgespiesst. Sind die Fichten nicht viel höher als damals? Damals! Als hätte sie sich schon von diesem Sommer getrennt. Am Wäscheseil hängen ihr nasses Badetuch und ein Fisch. Das Feuer, auf dem sie am Abend gegrillt hat, ist erloschen. Nur die Glut wird noch lange da sein. Sie zieht den Reissverschluss hinter sich zu und lässt das Zelt mit dem Rucksack zurück. Die Wiese ist nass vom Tau eines Morgens, der noch lange nicht anbrechen wird. Ihre nackten Füsse zertreten sie. Wog das Boot schon immer so schwer? Sie zieht es von der kleinen Grasterrasse auf einen halbmondförmigen Kiesstrand hinunter. Und schiebt es in den Fluss. Das Wasser schneidet ihr die Füsse ab. Sie flüchtet sich ins Boot.
Leonie spürt eine kühle Brise im Rücken. Sie summt ein Lied. Das Wasser duftet so frisch, als trüge es keine Erinnerungen mit sich. Ihre Tränen vereinen sich mit dem Fluss. Als sie zum letzten Mal hier war, stachen die Mücken nicht nur sie. Ein Ast treibt neben ihr her, begleitet sie auf ihrer Fahrt. Als bräuchte sie noch einen Begleiter. Bäume strecken ihre Arme ins Wasser und verlieren darin ihr Sommerlaub. Eine Fledermaus orientiert sich dem Ufer entlang. An einem kleinen Strand sieht Leonie ein Feuer, vor dem sich zwei brennende Silhouetten umarmen. Das Wasser schwemmt die Silhouetten, das Feuer, die Bäume und selbst den Mond weit weg von Leonie.
Welcher Stadt gehören die Lichter in der Ferne? Sie hat in dieser Stadt gelebt. Sie weiss es nicht mehr. Auch die Stadt wird an ihr vorbeigehen.
Die ersten Atemzüge des Herbstes sind kalt. Sie treiben Leonie und das Boot hinunter. Kleine Wellen spalten sich ab und verbreiten sich lautlos bis an beide Ufer. Dort brechen sie so leise, als hätten sie Angst, die Nacht zu wecken. Der Fluss ist so ruhig, dass darin Sterne liegen. Leonies Lied ist zu Ende. Sie schaut ins Wasser und sieht den Fisch, der zuvor am Wäscheseil hing. Vorsichtig rudert sie das Boot zurück in die Mitte des Flusses. Der Schrei einer Eule trennt die Stille. Am rechten Ufer rascheln die Blätter einer schiefen Buche. Leonie legt das Ruder ins Boot und taucht die Hand ins Wasser. Ihr Fluss.
Bring mich irgendwohin, wo es nicht mehr weh tut.
*
Es ist Nacht und warm. Am Himmel sind Sterne, die Leonie nie gesehen hat. Aus der Stadt fliessen Licht und Musik in den Fluss. Alle singen ihr Lied. Wer singt? Leonie wagt einen Blick über den Bootsrand und starrt in unerschöpfliche Tiefe. Menschen, Fische, Vögel tauchen im Wasser auf und ab, als wäre das ihr Leben. Sie kennt viele der Gesichter, die dort unten für sie singen, doch sie weiss nicht woher. Eines kommt ihr besonders bekannt vor. Eines mit Sommersprossen. Es nähert sich ihrem Boot. Eine Hand fleht ihr entgegen.
„Warum bist du gegangen?“, fragt ihr Besitzer und es klingt wie der Widerhall einer Frage, die Leonie vor nicht allzu langer Zeit gestellt hat.
„Weil ich gehen musste“, sagt sie und auch das klingt wie der Widerhall einer Antwort, die sie vor nicht allzu langer Zeit gehört hat. Warum erinnert er sie an das Lied? Seine flehende Hand winkt ihr zum Abschied und taucht zurück in die Tiefe.
Die Nacht wacht über Leonie. Sie würde die Augen schliessen, gäbe es nicht Unendliches zu sehen. Sie treibt zwischen den mit Wunderwesen geschmückten Pfeilern einer alten Holzbrücke durch. Die Dielen der Brücke halten dem Licht nicht stand, es tropft in den Fluss. Fische schwimmen über Leonies Kopf hinweg und sie sieht auch den Himmel voller Lebewesen. Vor ihren Augen wächst ein Baum aus dem Wasser und beginnt zu blühen. Sie will das Ruder nehmen, um auszuweichen, doch es ist nicht mehr da. Sie will aus dem Boot steigen, doch sieht es in weiter Ferne. Es treibt unter einer Brücke hindurch, welche die Balkone zweier Häuser verbindet – wie die Arme zweier Riesen, die sich die Hände reichen.
Plötzlich weiss Leonie; sie wird ihren Weg auch ohne Ruder finden. Der Fluss wird sie um den Baum herumtragen, aus dem gleichen Grund, aus dem er darauf verzichtet, sie nochmals in seine Tiefe zu reissen.
Hier ist kein Ort, an dem sie untergehen kann. Hier ist ein Ort, an dem es kein unten mehr gibt.