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Die letzte Sommernacht am Fluss

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22.06.2003
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Die letzte Sommernacht am Fluss

Überarbeitete Version - Erstversion in meinem dritten Kommentar zum Vergleich gepostet

Nur die Eule schreit

Leonie liegt wach. Es ist Nacht und Kälte dringt ins Zelt. Doch es ist nicht die Kälte, die sie daran hindert, zu schlafen. Es ist der Sommer. Er ist vorbei. Sie schlüpft aus dem Schlafsack. Ihr Zelt ist grösser geworden. Sie steigt hinaus. Das Wildgras der Lichtung leuchtet blass. Jemand hat den Mond auf einer Fichte aufgespiesst. Sind die Fichten nicht viel höher als damals? Damals! Als hätte sie sich schon von diesem Sommer getrennt. Am Wäscheseil hängen ihr nasses Badetuch und ein Fisch. Das Feuer, auf dem sie am Abend gegrillt hat, ist erloschen. Nur die Glut wird noch lange da sein. Sie zieht den Reissverschluss hinter sich zu und lässt das Zelt mit dem Rucksack zurück. Die Wiese ist nass vom Tau eines Morgens, der noch lange nicht anbrechen wird. Ihre nackten Füsse zertreten sie. Wog das Boot schon immer so schwer? Sie zieht es von der kleinen Grasterrasse auf einen halbmondförmigen Kiesstrand hinunter. Und schiebt es in den Fluss. Das Wasser schneidet ihr die Füsse ab. Sie flüchtet sich ins Boot.

Leonie spürt eine kühle Brise im Rücken. Sie summt ein Lied. Das Wasser duftet so frisch, als trüge es keine Erinnerungen mit sich. Ihre Tränen vereinen sich mit dem Fluss. Als sie zum letzten Mal hier war, stachen die Mücken nicht nur sie. Ein Ast treibt neben ihr her, begleitet sie auf ihrer Fahrt. Als bräuchte sie noch einen Begleiter. Bäume strecken ihre Arme ins Wasser und verlieren darin ihr Sommerlaub. Eine Fledermaus orientiert sich dem Ufer entlang. An einem kleinen Strand sieht Leonie ein Feuer, vor dem sich zwei brennende Silhouetten umarmen. Das Wasser schwemmt die Silhouetten, das Feuer, die Bäume und selbst den Mond weit weg von Leonie.
Welcher Stadt gehören die Lichter in der Ferne? Sie hat in dieser Stadt gelebt. Sie weiss es nicht mehr. Auch die Stadt wird an ihr vorbeigehen.

Die ersten Atemzüge des Herbstes sind kalt. Sie treiben Leonie und das Boot hinunter. Kleine Wellen spalten sich ab und verbreiten sich lautlos bis an beide Ufer. Dort brechen sie so leise, als hätten sie Angst, die Nacht zu wecken. Der Fluss ist so ruhig, dass darin Sterne liegen. Leonies Lied ist zu Ende. Sie schaut ins Wasser und sieht den Fisch, der zuvor am Wäscheseil hing. Vorsichtig rudert sie das Boot zurück in die Mitte des Flusses. Der Schrei einer Eule trennt die Stille. Am rechten Ufer rascheln die Blätter einer schiefen Buche. Leonie legt das Ruder ins Boot und taucht die Hand ins Wasser. Ihr Fluss.

Bring mich irgendwohin, wo es nicht mehr weh tut.

*

Es ist Nacht und warm. Am Himmel sind Sterne, die Leonie nie gesehen hat. Aus der Stadt fliessen Licht und Musik in den Fluss. Alle singen ihr Lied. Wer singt? Leonie wagt einen Blick über den Bootsrand und starrt in unerschöpfliche Tiefe. Menschen, Fische, Vögel tauchen im Wasser auf und ab, als wäre das ihr Leben. Sie kennt viele der Gesichter, die dort unten für sie singen, doch sie weiss nicht woher. Eines kommt ihr besonders bekannt vor. Eines mit Sommersprossen. Es nähert sich ihrem Boot. Eine Hand fleht ihr entgegen.
„Warum bist du gegangen?“, fragt ihr Besitzer und es klingt wie der Widerhall einer Frage, die Leonie vor nicht allzu langer Zeit gestellt hat.
„Weil ich gehen musste“, sagt sie und auch das klingt wie der Widerhall einer Antwort, die sie vor nicht allzu langer Zeit gehört hat. Warum erinnert er sie an das Lied? Seine flehende Hand winkt ihr zum Abschied und taucht zurück in die Tiefe.

Die Nacht wacht über Leonie. Sie würde die Augen schliessen, gäbe es nicht Unendliches zu sehen. Sie treibt zwischen den mit Wunderwesen geschmückten Pfeilern einer alten Holzbrücke durch. Die Dielen der Brücke halten dem Licht nicht stand, es tropft in den Fluss. Fische schwimmen über Leonies Kopf hinweg und sie sieht auch den Himmel voller Lebewesen. Vor ihren Augen wächst ein Baum aus dem Wasser und beginnt zu blühen. Sie will das Ruder nehmen, um auszuweichen, doch es ist nicht mehr da. Sie will aus dem Boot steigen, doch sieht es in weiter Ferne. Es treibt unter einer Brücke hindurch, welche die Balkone zweier Häuser verbindet – wie die Arme zweier Riesen, die sich die Hände reichen.

Plötzlich weiss Leonie; sie wird ihren Weg auch ohne Ruder finden. Der Fluss wird sie um den Baum herumtragen, aus dem gleichen Grund, aus dem er darauf verzichtet, sie nochmals in seine Tiefe zu reissen.

Hier ist kein Ort, an dem sie untergehen kann. Hier ist ein Ort, an dem es kein unten mehr gibt.

 

Hi Van!

Es ist schön, deinen Namen hier wieder zu lesen, ganz ehrlich.

Und auch deine "erste" Geschichte hat mir gefallen. Sie ist kein Meisterwerk, weil sie zu wenig erzählt, aber das, was sie erzählt, erzählt sie schön.
Der Leser erfährt nicht alles hinter der Geschichte der Prota, er weiß nicht, warum sie sich ertränken möchte (zumindest nicht, weshalb "genau"), aber merkwürdigerweise stört mich das gar nicht. Stilistisch schön ruhig, passend (wahrscheinlich beabsichtigt, Stil dem Fluss angepasst)

Hat gefallen!

Liebe Grüße
Tamira


Kleinkram:


Sind die Fichten nicht viel höher als sie letztmals waren?
Als beim letzten Mal ist schöner

Es ist Nacht, die Nacht ist kalt und Kälte begleitet ihre Fahrt.
Die WW ist sicherlich mit Absicht gewählt, nur leider wirkt sie nicht - zumindest bei mir.


Als sie zum letzten Mal hier war, stachen die Mücken nicht nur sie.
Ah, sehr schön, wie du sagst, dass ein Mann bei ihr war. :)

 

Hey Tamira und Sam S.!

Besten Dank fürs Lesen und noch besseren fürs Kommentieren. Da es einer meiner ersten Gehversuche in dieser Rubrik ist, fühlt es sich ähnlich an, wie vor ein paar Jahren, als ich in Horror einstieg. Nervosität, Neugierde; wie kommt die Geschichte, die bisher nur ein paar befangene Freunde gelesen haben, hier an?
Gut offenbar, und das freut mich sehr. Motiviert zum verweilen, in dieser Rubrik. (Was nicht heisst, dass ich Horror gänzlich verrate ;-))


Deine beiden Verbesserungsvorschläge, Tamira, habe ich einmal ohne Zögern und einmal nach kurzem Zögern berücksichtigt. Das kurze Zögern bezüglich der Wortwiederholung entfiel, als ich sah, wie schön der abgeänderte Satz dem zweiten des ersten Abschnittes ähneln würde. Satzwiederholung statt Wortwiederholung, ich glaube es hat sich gelohnt. Danke für den Kleinkram! Ansonsten bin ich froh, dass dies kein Meisterwerk ist, denn sonst hätte ich mein Ziel etwas zu früh und zu kampflos erreicht. Hatte ein wenig befürchtet, man könnte mangelnde Information zum Vorgeschehen beanstanden und bin glücklich, dass zumindest dich das nicht störte.

Sam, besonders dein Lob zu meinem Stil freut mich sehr. Weil das nicht von Anfang an meine Spezialität war. Die Geschichte ist durchaus bewusst so geschrieben, dass sie hauptsächlich die Stimmung wiedergibt und das Geschehen und Vorgeschehen dezent andeutet. Ein guter Teil der Geschichte ist das, was der Leser in sie hineindenkt.

Freundliche Grüsse,

VanH

 

Hallo Van,

ich schließe mich an. Es ist schön, dich hier mal wieder zu lesen.
Und dass bestätige ich dann auch gleich ganz freundlich mit einer Vorschlagsliste von dir über den Bodensee.
Die bedeutet nicht, dass mir dein Text nicht gefallen hätte, sondern nur, dass der Literat in mir da noch einiges gefunden hat, was die Geschichte sAn besser und (oh Schreck) literarischer machen könnte.

Leonie liegt wach. Es ist Nacht und Kälte dringt ins Zelt. Doch es ist nicht die Kälte, die sie daran hindert, zu schlafen. Der Sommer ist vorbei. Sie schlüpft aus dem Schlafsack.
Ich würde den Satz "Der Sommer ist vorbei" aus zwei Gründen umstellen. Zum einen ist es nicht nett, Informationen nachzuschieben, zum anderen ist es im Timing besser, wenn der Satz gleich nach "Leonie liegt wach" steht.
als beim letzten Mal
abgesehen von der Wiederholung finde ich die Formulierung nicht sehr elegant. Du versuchst mglw. Spannung oder die Frage zu erzeugen, was es mit diesem "letzten Mal" auf sich hat, ich fühle mich aber eher in der Luft hängen gelassen. Vielleicht etwas mehr Andeutungen, wie etwa "im letzten Sommer".
Und schiebt es in den Fluss. Es wiegt schwerer als beim letzten Mal. Sie steigt ins Boot.
Auch hier stört mich "beim letzten Mal", aber vor allem frage ich mich, ob sie das Wasser um ihre Füße nicht spürt, da du ja sonst in der Erzählung auf jedes Detail achtest.
Es ist Nacht und Kälte begleitet ihre Fahrt.
Nacht und Kälte hatten wir schon, ist also redundant, steigert mE auch nicht die Atmosphäre.
Als sie zum letzten Mal hier war, stachen die Mücken nicht nur sie.
Jetzt bekomme ich zum ersten Mal eine Ahnung, dass sie beim letzten Mal nicht allein auf dem Boot war, allerdings habe ich dazu ein bisschen gebraucht, weil ich mich erst immer fragte, wozu der Hinweis mit den Mücken gut wäre, weil er so unvermittelt kommt. Sinnvoller wäre eine ins Leben gerufene Erinnerung durch eine aktuelle Mücke.
Das Problem an deiner stilistischen Wiederholung ist für mich leider, dass du dir eine unglaublich umgangssprachliche Floskel dafür ausgesucht hast, die für mich immer wie ein Störfaktor wirkt.
Das Wasser duftet so frisch, als trüge es keine Erinnerungen mit sich
Ah, jetzt kommt die nachgeschobene Erläuterung für die Erinnerungen. Natürlich kann ich als Autor nicht immer gleich alle Informationen auf einmal bringen, aber so empfinde ich es ein bisschen als unnötigen Taschenspielertrick, weil nichts dagegen spräche, mich von den Erinnerungen vorher wissen zu lassen.
An einem kleinen Strand sieht Leonie ein Feuer, an dem sich zwei brennende Silhouetten umarmen.
Da bei diesem Bild klar ist, dass die Menschen aus Leonies Perspektive vor dem Feuer stehen müssen, kannst du es auch so schreiben: vor dem sich ...
Das Wasser schwemmt die Silhouetten, das Feuer, die Bäume und selbst den Mond weit weg von Leonie.
Hier hätte ich es gern genauer. Ich nehme an, es ist das gleichmäßige Plätschern des Wassers, das Leonies Gedanken fortträgt. Du muss nichts von den Gedanken schreiben, aber von dem Geräusch, von der Monotonie der Bewegung.
Der letzte Atemzug des Sommers ist ein kalter.
Wenn im ersten Absatz der Sommer vorbei ist, hat er auch keinen letzten Atemzug mehr. Vielleicht sind die ersten Atemzüge des Herbstes kalt?
Dort brechen sie so leise, dass man es nur hört, weil man sonst nichts hört.
Wieder so ein umgangssprachlicher Bruch mitten in der Sprache. Vielleicht: nur hört, weil kein weiteres Geräusch die Nacht stört?
Sie rudert sich zurück in die Mitte des Flusses.
sich - sie rudert ja vor allem das Boot zurück
Vorsichtig, denn sie will die Nacht nicht wecken.
Okay, da haben wir dummerweise meine Vorschlag von eben, wenn auch anders formuliert.
Am linken Ufer schreit eine Eule. Am rechten rascheln die Blätter einer schiefen Buche
und jetzt haben wir auf einmal doch Geräusche.
Am Himmel liegen Sterne
liegen?
Leonie wagt einen Blick über den Bootsrand und starrt in eine unerschöpfliche Tiefe.
starrt in eine unendliche Tiefe (warum die Unendlichkeit beziffern?)
Menschen, Fische, Vögel treiben im Wasser auf und ab
wenn sie treiben, gibt es im Fluss nur eine Richtung.
und sie sieht, wie auch der Himmel voller Lebewesen ist
oh, mein Lieblings-"wie". Mein Vorschlag: und sie sieht auch den Himmel voller Lebewesen. - Das ist verdichteter und vor allem auch grammatikalisch korrekt.
Sie will aus dem Boot steigen, da sieht sie ihr Boot in der Ferne.
hier würde ich "doch" wiederholen: Sie will aus dem Boot steigen, doch sieht es in weiter Ferne.
Es treibt unter einer weiteren Brücke hindurch, welche die Balkone zweier Häuser verbindet
Das hieße, auch die erste Brücke mit den Verzierungen hat die Balkone zweier Häuser verbunden. Du kannst also "weitere" streichen, da das Merkmal "verbindet zwei Balkone" diese Brücke von der ersten unterscheidet.
Plötzlich weiss Leonie, dass sie kein Ruder mehr braucht, um ihren Weg zu finden.
Hier werden mir zwar viele widersprechen, aber man kann den Satz auch so schreiben: Plötzlich weiß Leonie, sie braucht kein Ruder mehr, um ihren Weg zu finden (oder noch verdichteter: ... Leonie, sie wird den Weg auch ohne Ruder finden)

Lieben Gruß
sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Spannend, spannend!

Vielen Dank für diese detaillierte Auseinandersetzung! Es tut gut, mich wieder hier auf kg.de zu zeigen. Ich kann die Hilfe distanzierter Augen brauchen, um an solchen Finessen zu schleifen - wobei einige deiner Punkte auch mir hätten auffallen sollen, hätte sich vor dem Posten nicht dieser Nebel kindischer Vorfreude vor meinen Blick gelegt. Muss allerdings noch einmal darüber schlafen, denn nach einem langen Arbeitstag liegt meine Innovation bereits im Bett und ich brauche Frische, um die bestmöglichen Alternativen zu denen von dir bemängelten Stellen zu finden. Heute Abend eröffne ich lediglich die Debatte über einzelne Punkte:

"Der Sommer ist vorbei"
Der Satz steht nicht aus versehen, sondern aus bestimmtem Grund dort. Der Sommer; nicht nur die Jahreszeit, sondern auch das, was sie in diesem Jahr für Leonie beinhaltet und bedeutet hat, ist vorbei. Dass der Sommer vorbei ist, ist der Grund, weshalb Leonie nicht schlafen kann - würde es helfen, wenn ich nach "zu schlafen" einen Doppelpunkt setzte? Und eine erste, sehr dezent beabsichtigte Andeutung auf das Fehlen einer Person. Selbst der erste Absatz steckt so voller (scheuer) Andeutungen, dass eine Nicht-kg.de-Probeleserin der Meinung war, ich hätte es zu sehr betont. So bin ich mir im Moment recht unsicher bezüglich des Masses. Allerdings bin ich eher der Meinung, dass die meisten Andeutungen beim ersten Durchgang nicht auffallen und auch mir nicht auffallen würden, hätte ich sie nicht selbst gestreut. Beim zweiten Durchgang dürfen und sollen sie jedoch auffallen.
Die meisten Andeutungen sind mit "als beim letzten Mal" verknüpft, was du zu Recht bemängelst. Der Nachhang ist nicht ästhetisch genug und zudem zu aufdringlich in der Wiederholung. Die Andeutungen selbst halte ich für schlicht und existenzberechtigt, suche also vorerst zweimal nach einer Alternative für den Nachhang. Den Sommer könnte ich tatsächlich nochmals einbringen, damit der Leser sich an ihn erinnert, wenn der Typ mit den "Sommersprossen" kommt.
Bezüglich des Spürens des Wassers um ihre Füsse: Guter Impuls! Wenn mir ein eleganter hydrophiler Satz einfällt, ist er drin.

Nacht und Kälte hatten wir schon, ist also redundant, steigert mE auch nicht die Atmosphäre.
War eine bewusste Satz-, Klangwiederholung und nun zweifelst du dessen Sinn an. Der Sinn hätte durchaus in der Atmosphäre gelegen, allerdings nicht in einer Steigerung derselben, sondern eher in der Erzeugung einer in meinen Augen inhaltsgerechten Monotonie. Und von der Bedeutung her: Leonies Kälte lässt sich nicht abschütteln, denn der "Sommer" ist endgültig vorbei. Allerdings kann es auch nicht meine Absicht sein, den Leser mit Wissen zuzuschütten, das er bereits hat. Ist das unterschwellige Subwissen nicht erkennbar, darf ich mich auch nicht darauf berufen. Ojeh, noch etwas worüber ich schlafen werde.
Sinnvoller wäre eine ins Leben gerufene Erinnerung durch eine aktuelle Mücke.
Wenn ich deinen Vorschlag richtig verstehe, so mag er mir noch nicht so richtig gefallen. Er zerbricht die Stimmung und verrät, was ich nicht verraten, sondern nur andeuten möchte. Du stellst dir etwa so eine Rückblende im Präsens vor? Mit Einbezug des Typen? Eine lebende Erinnerung wäre vorstellbar, wenn sie sich in den Rhythmus des Textes einfügen könnte. Oder könnte ich es vielleicht wagen, Leonie die Stimme ihres Sommerliebhabers hören zu lassen - als Einbruch eines Augenblickes der angedeuteten ersten Bootsfahrt in die zweite Bootsfahrt? Als quälende Erinnerung? Mit dem Fisch habe ich etwas Verwandtes versucht: Einfall des Postrealen in den Verstand einer, die sich aus der Realität ins Postreale sehnt.
empfinde ich es ein bisschen als unnötigen Taschenspielertrick, weil nichts dagegen spräche, mich von den Erinnerungen vorher wissen zu lassen.
"Taschenspielertrick" *g*. Hat was. Anders ausgedrückt: Der Satz mit der Frische des Wassers und den Erinnerungen scheint dir offensichtliches Mittel zum Zweck. Und ist somit nicht so elegant, wie er sein wollte. Und im Lichte meiner Absicht zu wenig subtil. Vielleicht ist er auch zu nahe beim Mückensatz. Ich werde morgen nochmals darüber sinnieren, aber bei jetztiger Überlegung finde ich weder genügend Gründe für, noch gegen ein Vorverschieben der Erinnerungs-Information. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass sie im ersten Absatz zu viel verriete und drohte, ein Fremdkörperdasein zu fristen.
Hier hätte ich es gern genauer. Ich nehme an, es ist das gleichmäßige Plätschern des Wassers, das Leonies Gedanken fortträgt. Du muss nichts von den Gedanken schreiben, aber von dem Geräusch, von der Monotonie der Bewegung.
An der Beschreibung muss ich offensichtlich noch herumhantieren, denn sie sollte eigentlich bedeuten: Die Strömung des Wassers trägt Leonie fort von: Feuer, Silhouetten, Zelt. Nur dass es aus Leonies Sicht - und besondes auch in ihrer Empfindung - so aussieht, als trüge es nicht sie irgendwohin, sondern alles von ihr weg. Feuer, Silhouetten und Zelt sollten zudem wieder für Erinnerungen stehen, von denen sie sich trennt.
Wenn im ersten Absatz der Sommer vorbei ist, hat er auch keinen letzten Atemzug mehr. Vielleicht sind die ersten Atemzüge des Herbstes kalt?
Mustergültige konstruktive Kritik :-)! Todesargument und rettende Alternative vereint. Und muss der Sommer nicht gerade vorbei sein, gerade weil nicht nur der Sommer gemeint ist? Womit mir ein weiterer Punkt einfällt, den ich gerne in die Debatte werfen würde: Titel. Obwohl dein Vorschlag plus Titeländerung mir im Moment die sinnvollste Lösung scheinen, gibt's theoretisch drei Möglichkeiten: a) Es ist Frühherbst, b) Es ist Spätsommer, c) Es ist genau die Nacht der Wende, auch wenn es eine solche in der Realität nicht gibt.
Wieder so ein umgangssprachlicher Bruch mitten in der Sprache.
Und ich dachte, es wäre ein schönes Wortspiel ;-).
und jetzt haben wir auf einmal doch Geräusche.
Da stimmst du mit meiner aufmerksamen Probeleserin überein. Eurer vereinten Scharfsinnigkeit bleibt mir wohl nichts Weiteres entgegenzusetzen, als ein: Danke für den Hinweis. Wird berücksichtigt.
wenn sie treiben, gibt es im Fluss nur eine Richtung.
Muss denn treiben passiv sein? Momentan fällt mir nur "tauchen" als sinnvolle Alternative ein.
Hier werden mir zwar viele widersprechen
Ich nicht.

Nochmals vielen, vielen Dank für diese eingehende Auseinandersetzung. Das ist herrlich, man wird richtig zur Hinterfragung dessen gezwungen, was man bisher hauptsächlich mit dem selten logischen Gefühl begründete.

LG,

Van
(Der, der war und wieder ist und dazwischen lange nicht war.)

 

So, die Geschichte hat dazugewonnen, denke ich. Zum Vergleich poste ich hier den Stand von vorher. Falls ich manche Punkte verschlimmbessert hätte, hoffe ich sehr auf Bescheid diesbezüglich. Der neue Titel ist auf Probe da - gefällt er?
Alternativen: "Der Sommer, der nie vorbeigehen wird", "Im Herbst so allein", "Leonies zweite Bootsfahrt", ... Vorschläge?

Alte Version:

Die letzte Sommernacht am Fluss

Leonie liegt wach. Es ist Nacht und Kälte dringt ins Zelt. Doch es ist nicht die Kälte, die sie daran hindert, zu schlafen. Der Sommer ist vorbei. Sie schlüpft aus dem Schlafsack. Ihr Zelt ist grösser als beim letzten Mal. Sie steigt hinaus. Das Wildgras der Lichtung leuchtet blass. Jemand hat den Mond auf einer Fichte aufgespiesst. Sind die Fichten nicht viel höher als beim letzten Mal? Am Wäscheseil hängen ihr nasses Badetuch und ein Fisch. Das Feuer, auf dem sie am Abend gegrillt hat, ist erloschen. Nur die Glut wird noch lange da sein. Sie zieht den Reissverschluss hinter sich wieder zu und lässt das Zelt mit dem Rucksack zurück. Die Wiese ist nass vom Tau eines Morgens, der noch lange nicht anbrechen wird. Ihre nackten Füsse zertreten sie. Sie zieht das Boot von der kleinen Grasterrasse auf einen halbmondförmigen Kiesstrand hinunter. Und schiebt es in den Fluss. Es wiegt schwerer als beim letzten Mal. Sie steigt ins Boot.

Es ist Nacht und Kälte begleitet ihre Fahrt. Leonie summt ein Lied. Ihre Tränen vereinen sich mit dem Fluss. Als sie zum letzten Mal hier war, stachen die Mücken nicht nur sie. Das Wasser duftet so frisch, als trüge es keine Erinnerungen mit sich. Ein Ast treibt im Fluss, begleitet sie auf ihrer Fahrt. Als bräuchte sie einen Begleiter. Bäume strecken ihre Arme ins Wasser und verlieren darin ihr Sommerlaub. Eine Fledermaus orientiert sich dem Ufer entlang. An einem kleinen Strand sieht Leonie ein Feuer, an dem sich zwei brennende Silhouetten umarmen. Das Wasser schwemmt die Silhouetten, das Feuer, die Bäume und selbst den Mond weit weg von Leonie.
Welcher Stadt gehören die Lichter in der Ferne? Sie hat in dieser Stadt gelebt. Sie weiss es nicht mehr. Auch die Stadt wird an ihr vorbeigehen.

Der letzte Atemzug des Sommers ist ein kalter. Er treibt Leonie und das Boot hinunter. Kleine Wellen spalten sich ab und verbreiten sich lautlos bis an beide Ufer. Dort brechen sie so leise, dass man es nur hört, weil man sonst nichts hört. Der Fluss ist so ruhig, dass darin Sterne liegen. Leonies Lied ist zu Ende. Sie schaut ins Wasser und sieht den Fisch, der zuvor am Wäscheseil hing. Sie rudert sich zurück in die Mitte des Flusses. Vorsichtig, denn sie will die Nacht nicht wecken. Am linken Ufer schreit eine Eule. Am rechten rascheln die Blätter einer schiefen Buche. Leonie legt das Ruder ins Boot und taucht die Hand ins Wasser. Ihr Fluss.

Bring mich irgendwohin, wo es nicht mehr weh tut.


*

Es ist Nacht und warm. Am Himmel liegen Sterne, die Leonie nie gesehen hat. Aus der Stadt fliessen Licht und Musik in den Fluss. Alle singen ihr Lied. Wer singt? Leonie wagt einen Blick über den Bootsrand und starrt in eine unerschöpfliche Tiefe. Menschen, Fische, Vögel treiben im Wasser auf und ab, als wäre das ihr Leben. Sie kennt viele der Gesichter, die dort unten für sie singen, doch sie weiss nicht woher. Eines kommt ihr besonders bekannt vor. Eines mit Sommersprossen. Es nähert sich ihrem Boot. Eine Hand fleht ihr entgegen.
„Warum bist du gegangen?“, fragt ihr Besitzer und es klingt wie der Widerhall einer Frage, die Leonie vor nicht allzu langer Zeit gestellt hat.
„Ich musste gehen“, sagt sie und auch das klingt wie der Widerhall einer Antwort, die sie vor nicht allzu langer Zeit gehört hat. Warum erinnert er sie an das Lied? Seine flehende Hand winkt ihr zum Abschied und taucht zurück in die Tiefe.

Die Nacht wacht über Leonie. Sie würde die Augen schliessen, gäbe es nicht unendlich viel zu sehen. Sie treibt zwischen den mit Wunderwesen geschmückten Pfeilern einer alten Holzbrücke durch. Die Dielen der Brücke halten dem Licht nicht stand, es tropft in den Fluss. Fische schwimmen über Leonies Kopf hinweg und sie sieht, wie auch der Himmel voller Lebewesen ist. Vor ihren Augen wächst ein Baum aus dem Wasser und beginnt zu blühen. Sie will das Ruder nehmen, um auszuweichen, doch es ist nicht mehr da. Sie will aus dem Boot steigen, da sieht sie ihr Boot in der Ferne. Es treibt unter einer weiteren Brücke hindurch, welche die Balkone zweier Häuser verbindet – wie die Arme zweier Riesen, die sich die Hände reichen.

Plötzlich weiss Leonie, dass sie kein Ruder mehr braucht, um ihren Weg zu finden. Der Fluss wird sie um den Baum herumtragen, aus dem gleichen Grund, aus dem er darauf verzichtet, sie nochmals in seine Tiefe zu reissen.

Hier ist kein Ort, an dem sie untergehen kann. Hier ist ein Ort, an dem es kein unten mehr gibt.

***

In einer Woche werde ich wohl auch selbst beide Texte aus nüchterner Distanz lesen und sehen, welche Optimierungsmöglichkeiten sich noch bieten. Weitere Ratschläge bleiben sehr willkommen.

Freundliche Grüsse,

Van

 

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